Quellenkunde zum drittem Teil

[128] Von den tiefeinschneidenden Bewegungen, welche seit der Mitte des 6. Jahrhunderts die politischen und zum Teil auch die nationalen Verhältnisse Vorderasiens umgestaltet haben, ist nur eine dürftige Kunde auf uns gekommen. Die assyrischen Denkmäler, denen wir für die vorhergehende Epoche so viel verdanken, brechen um das J. 640 plötzlich ab. An ihre Stelle sind nun zwar die babylonischen Urkunden getreten, indessen nur ganz weniges ist bis jetzt von ihnen zutage gefördert, das meiste liegt noch unter der Erde vergraben. Ägypten bietet an historischen Denkmälern fast gar nichts mehr, und auch die hebräischen Nachrichten sind hier sehr dürftig. Die historischen Inschriften der Perser endlich beginnen erst mit Darius I. So bleiben uns außer den Fragmenten des Berossos, Manetho und Menander nur noch die Nachrichten der Griechen, von denen für uns hier fast allein Herodot in Betracht kommt.

Als Herodot um die Mitte des 5. Jahrhunderts sein Material sammelte, hat er zwar noch manche authentische Nachricht erhalten, die sich in seinem Werke zerstreut findet, z.B. Nachrichten über Necho, den Vater Psammetichs, II 152 (o. S. 78), über die Umschiffung Afrikas IV 42, über Stammbaum und Stellung der Vorfahren des Kyros I 111. VII 11, die Liste der sieben Perser III 70 (ebenso die Satrapienliste III 90ff. und die Heerführerliste VII 61ff.). Den gleichen Charakter weisen die vielen am Schlusse der einzelnen Regierungen nachgetragenen Notizen auf, z.B. in der lydischen Geschichte (namentlich I 92), oder über Psammetich und Necho (II 157ff.), ferner die Angaben über das Bündnis zwischen Krösos, Amasis und Naboned gegen Kyros [128] I 77 u.ä.258. Den Hauptstock seiner Erzählungen bilden indessen ausführliche Geschichten sagenhaften Charakters, die teils dem Volksmunde entnommen sind, teils sehr deutlich den Einfluß griechischer Spekulation und Kombination zeigen (z.B. III 80ff., vgl. VI 43), sehr häufig aber mit den kurzen Notizen in scharfem Widerspruch stehen. Hierher gehören z.B. die Erzählung von der Dodekarchie, die ganze Kyrosgeschichte mit der sagenhaften Geschichte der medischen Könige als Einleitung, die Geschichte von Zopyros, von Darios' Skythenfeldzug u.ä. In der Kambysesgeschichte sind persische und ägyptische Erzählungen ineinander verarbeitet. Für die lydische Geschichte sind lydische Traditionen fast gar nicht benutzt (c. 87. 93 und vielleicht c. 71. 84 und der Kern der Adrastosgeschichte), sondern Traditionen der einzelnen griechischen Städte, eine Reihe von »novellenartigen« griechischen Erzählungen und Anekdoten (Kandaules und Gyges; Alyattes' milesischer Krieg; Solon und Krösos; Thales, Bias) und vor allem die tendenziöse delphische Legende, die das Orakel rechtfertigen und verherrlichen soll (I 13. 46ff. 90f.), zu einem großen und einheitlichen Ganzen verarbeitet, das vollkommen den Charakter einer griechischen Schicksalstragödie trägt.

Die persische Geschichte, welche der Leibarzt Artaxerxes' II., Ktesias von Knidos, um 390 v. Chr. verfaßte, ist nur für das 5. Jahrhundert von größerem historischen Wert. Ktesias weicht durchweg von Herodot ab, aber überall, wo er sich kontrollieren läßt, auch von der historischen Wahrheit, so in der Geschichte des assyrischen und medischen Reichs, des Kambyses, in der Liste der sieben Perser usw. Er zeigt, wie rasch und wie stark die Tradition sich in einem halben Jahrhundert verschlechtert hat. Es ist daher nicht geraten, ihm da, wo wir ihn zufällig nicht kontrollieren können, größeres Vertrauen zu schenken als sonst. – Weit besser ist die etwa gleichzeitig mit Herodot, unter Artaxerxes I. (Eratosthenes bei Strabo I 3, 4), unternommene Bearbeitung der lydischen Geschichte durch den Lyder Xanthos. Er zitiert einheimische [129] Königslisten (Nicol. Dam. fr. 44-47 Jacoby), seine Erzählungen tragen aber namentlich für die ältere Zeit häufig sagenhaften Charakter und zeigen mehrfach griechischen Einfluß. Etwa um 120 v. Chr. wurde sein Werk von Dionysios ὁ Σκυτοβραχίων von Mytilene im Geschmack der späteren Zeit überarbeitet; in dieser Gestalt hat es Nikolaos von Damaskos benutzt, aus dem uns für die lydische Geschichte zahlreiche Fragmente erhalten sind259.

Die schwächste Seite der griechischen Überlieferung ist die Chronologie. Nur die Zahlen der ägyptischen und der persischen Könige sind fast durchweg richtig überliefert; doch hat man fälschlich das erste Jahr des Kyros als König von Persien (558 v. Chr.) mit dem Sturz des Mederreichs identifiziert, der in Wirklichkeit ins Jahr 550 fiel. Hier ist nur die lydische Chronologie noch zu besprechen. Der sichere Ausgangspunkt für diese ist der Fall von Sardes, der nach den einstimmigen Angaben der alexandrinischen Chronographen (Apollodor bei Diog. Laert. I 38; Sosikrates ib. I 95; Eusebius ao. Abr. 1470 = Ol. 58, 3; Exc. Barb. p. 44 b) in den Herbst Ol. 58, 3 = 546 v. Chr. fällt. Nach Herodot folgen auf die mythische Dynastie der Atyaden 22 Herakliden mit [130] 505 Jahren = 1221-717 v. Chr., dann 5 Mermnaden mit 170 Jahren 14 Tagen = Herbst 716-546. Die kirchlichen Chronographen (Africanus und Eusebius) geben eine ursprünglich Ol. 1 mit Ardys I beginnende Liste, nach der Gyges 698-663 regiert260. Eine dritte, vielleicht auf Xanthos zurückgehende Rechnung setzt Gyges in Ol. 18 (beg. 708) und Alyattes 605 v. Chr. (nach Herodot 617, nach Euseb. 609)261. Alle drei Rechnungen sind geschichtlich falsch, da nach Ausweis der assyrischen Inschriften Gyges jedenfalls nach 660 und wahrscheinlich erst um 648 gefallen ist. Eine richtige Chronologie der älteren Lyderkönige läßt sich daher nicht herstellen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 128-131.
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