Die italische Halbinsel. Quellen der Ethnographie

[451] Wie die Balkanhalbinsel ragt auch die italische weit ins Mittelmeer hinein; wie jener ist auch dieser eine Inselwelt vorgelagert. Sonst aber ist die Bildung beider Länder eine ganz verschiedene. Dort ein einförmiger Rumpf, an den ein aufs mannigfachste gegliederter, von zahlreichen Buchten durchschnittener Ausläufer ansetzt, hier ein gleichförmiger Verlauf der langgestreckten, ziemlich schmalen Halbinsel, keine tiefer einschneidenden Buchten, wenige gute Häfen, sonst nur offene Reeden; dort eine zerrissene Gebirgswelt, ein beständiger Wechsel von Berg und Tal, hier ein einfacher Gebirgsbau von parallelen Ketten, die der Richtung der Halbinsel folgen; dort in Ost und West eine Fülle kleinerer und größerer Inseln, hier drei große Inseln von nahezu festländischem Charakter, neben denen die kleineren Felseilande kaum in Betracht kommen. Griechenland steht in engster Verbindung mit dem Osten, Italiens Antlitz ist nach Westen[451] gerichtet. Nur die Poebene, die im Altertum mehr dem Kontinent als der Halbinsel zugehört, öffnet sich nach Osten. Dann aber treten die Ketten des Apennin nahe ans Adriatische Meer heran, zu dem zahlreiche kurze unentwickelte Flußtäler abstürzen, durch hohe Bergrücken voneinander getrennt; die im Südosten dem Apennin vorgelagerte Apulische Halbinsel ist ein steiniges, ganz ungegliedertes Flachland. Reicher ist der Westen gestaltet. Die Parallelketten des Apennin und die vulkanischen Bergmassen an der Westküste lassen Raum für größere Flußläufe, selbständige Täler, fruchtbare Ebenen; die Küstenlinie vermeidet die Einförmigkeit des adriatischen Ufers; zahlreiche Inselchen sind ihr vorgelagert, die drei großen Inseln schließen die Westseite Italiens ab. Einen gesonderten Charakter trägt der äußerste Süden, den wir bereits kennengelernt haben. Hier bildet der Kalkapennin und weiter südlich das bruttische Granitgebirge eine langgestreckte Halbinsel, mit abgeschlossenen Waldgebirgen im Innern und einem schmalen, fruchtbaren Küstensaum.

Weniger als irgendein anderes Land Europas ist Italien gegen feindliche Angriffe geschützt. Zwar bilden im Norden die Alpen einen festen Wall; doch hat gegen die Invasionen der Nordvölker auf die Dauer hier sowenig wie sonst irgendwo das langgestreckte Gebirge eine feste Schutzwehr geboten, und nie ist es eine wirkliche Völkerscheide gewesen. Der schmale Leib Italiens aber mit seiner langen Küstenlinie und seinen durchweg am Meere gelegenen Kommunikationswegen kann gegen überseeische Angriffe kaum verteidigt werden; eine durch Organisation, Bewaffnung oder Zahl überlegene feindliche Macht läßt sich nur mit äußerster Anstrengung abwehren, in der Regel wird es ihr gelingen, sich im Lande festzusetzen. Hier liegt das fundamentale Problem aller Geschichte Italiens. In der trefflichen Schilderung Italiens bei Strabo ist unter dem Eindruck der weltbeherrschenden Stellung Roms das Problem in sein Gegenteil umgekehrt, die exponierte und zentrale Lage als Hauptanlaß des Erfolges gepriesen. Dabei ist übersehen, daß Rom den verhängnisvollen Weg, die Nachbarn unschädlich zu machen und damit die Weltherrschaft zu gewinnen, nur betreten hat, um sich dauernde [452] Sicherheit zu verschaffen. Kein Land der Welt hat so oft den Herrn gewechselt wie Italien. Von Nord und Süd dringen die Fremden ein, Kelten und Griechen, Goten und Byzantiner, Langobarden und Araber, Deutsche und Normannen, Franzosen und Spanier. Die Aufgabe, die Verteidigung Italiens zu sichern, bildet die schwerste Sorge des modernen Nationalstaats694.

Die italische Geschichte beginnt mit der Entdeckung Italiens durch die Griechen. Was wir in Griechenland durch Schlüsse aus unvollständigem Material nur mühselig erkennen können, liegt hier klar vor Augen; wir sehen, wie Schritt für Schritt die italischen Stämme in den Bereich der Kultur und damit ins historische Leben eintreten. Von Süden nach Norden und von Westen nach Osten schreitet die Entwicklung vor; wie der Name der Halbinsel vom äußersten Süden seinen Ausgang nimmt, so verschiebt sich auch der Schwerpunkt ihrer Geschichte von hier aus nach der Mitte und nach dem Binnenlande, bis seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. der Norden, der kontinentale Teil Italiens, der maßgebende Faktor seiner Entwicklung wird. Durch die Griechen erhalten wir die erste Kunde von dem Lande und seiner Bevölkerung. Auch hier stehen diese durchweg unter dem Banne der genealogischen Auffassung. Wie man in den Kolonien die Spuren griechischer Götter und Heroen fand, so hat man auch die einheimischen Stämme an diese angeknüpft; man ließ sie von ihnen beherrscht werden oder leitete sie von ihren Nachkommen ab. Auch sonst suchte man in Ost und West Anknüpfungen für die italischen Völker. Die Anfänge dieser Verknüpfungen reichen in die epische und lyrische Dichtung (Stesichoros) hinauf; die gelehrte Forschung hat sie eifrig weiter ausgesponnen. In schlichter Weise hat Hekatäos695 die Geographie Italiens geschildert und zu Ende des 5. Jahrhunderts Antiochos von Syrakus die griechischen und einheimischen Traditionen erzählt. Ihm folgen Thukydides, Philistos, Ephoros, daneben stehen einzelne Erzählungen bei Herodot, [453] Pherekydes und namentlich Hellanikos, der durch die Gleichstellung der Pelasger und Etrusker namenlose Verwirrung in die italische Ethnographie gebracht hat. Eingehender haben die Geschichtsschreiber des Agathokles und Pyrrhos (Kallias, Hieronymos, Duris) sich mit der Geschichte Italiens beschäftigt. In der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts hat dann Timäos die Geschichte des Westens in wissenschaftlicher Weise zu behandeln gesucht696. Indessen ist er wie kein anderer ein Typus der auf falschen Bahnen wandelnden Quasihistorie der hellenistischen Zeit; sein Werk ist das Resultat mühseliger Forschung und doch für uns fast ohne Wert. Sekundäre und tertiäre Mythen und Sagen werden zusammengestellt, in Geschichte umgedeutet, durch angebliche Urkunden belegt und durch Kombinationen erweitert; naive griechische Etymologien und ein verbohrter Wunder- und Aberglaube sind die Leitsterne des Forschers. Als dann seit dem Anfang des 2. Jahrhunderts die Römer begannen, sich mit der Geschichte ihres Landes zu beschäftigen, haben sie die Angaben der Griechen gläubig übernommen und mit ihnen weiter operiert, zugleich aber sie durch treffliche, den realen Verhältnissen entnommene Nachrichten bereichert. Mustergültig waren Catos »Origines«; die kurzen aus seinem Werke erhaltenen Notizen gehören zu dem Wertvollsten, was wir über die älteren Zustände Italiens besitzen. Ähnlich sind die einsichtigen griechischen Historiker der Römer, wie Polybios und Posi donios, verfahren. Seit der durch die Revolution herbeigeführten Verschiebung der politischen Auffassung und dem Schwinden des wahren politischen Lebens beschränkt sich auch das Interesse der Römer immer mehr auf die Hauptstadt. Für diesen engeren Kreis bieten die Angaben des Varro und Verrius Flaccus viel Wertvolles. Von größter Bedeutung [454] sind auch hier die besonnenen und sorgfältigen Schilderungen und Exzerpte, die Strabo in seine Geographie aufgenommen hat. Neben ihm steht als großes Repertorium der gelehrten Forschung über Italien das erste Buch der römischen Urgeschichte des Dionysios von Halikarnaß. Der Verfasser will in die Ethnographie Italiens Ordnung bringen und zugleich erweisen, daß die Römer griechischen Ursprungs sind. Ganz so unkritisch wie Timäos verfährt er nicht, aber daß all die Probleme gegenstandslos sind, mit denen er sich herumschlägt, ahnt er nicht. Zunächst an ihn hat die neuere Forschung angeknüpft; Erlösung aus dem Chaos der antiken Überlieferung hat erst die Erforschung der einheimischen Sprachen und Denkmäler gebracht697.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 451-455.
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