Die Anfänge der Entwicklung der Einzelvölker seit der neolithischen Zeit

[932] 592. Blicken wir noch einmal zurück, um den Verlauf der Entwicklung, den wir an den einzelnen Völkern und Kulturen verfolgt haben, in seiner Totalität zu überschauen. Überreste und Zeugnisse menschlichen Lebens, die mit einer von da an stetig fortschreitenden Kulturentwicklung in geschichtlichem Zusammenhang stehen und ihre älteste für uns erreichbare Grundlage bilden, sind uns zuerst in Aegypten entgegengetreten. Hier reichen sie jedenfalls weit ins fünfte Jahrtausend hinauf, ja die ältesten Schichten mögen noch über 5000 v. Chr. hinaufragen; und von da an hat Aegypten Jahrtausende hindurch die Führung behalten. Erst beträchtlich später, gegen 3000 v. Chr., treten ihm die ältesten bis jetzt bekannten Denkmäler Babyloniens zur Seite; so roh sie sind, so führen doch die Vorstufen dieser Entwicklung noch um Jahrhunderte hinauf, weit ins vierte Jahrtausend hinein. Etwa in dieselbe Zeit reichen die ältesten Fundschichten auf Kreta und in Troja, an die gleichfalls eine kontinuierlich fortschreitende Entwicklung ansetzt, die mit der Aegyptens dauernd in Fühlung steht. Von diesen Mittelpunkten aus werden dann immer neue Völker in den Verlauf der Entwicklung hineingezogen; von ihrer Veranlagung und zum Teil auch von den Bedingungen des Gebiets, das sie bewohnen, hängt es ab, ob sie passiv in denselben Verhältnissen [932] verharren, in denen sie vorher standen, und höchstens einige äußere Errungenschaften annehmen, wie z.B. die Libyer oder die Neger Nubiens, oder auch lediglich eine äußere Umwälzung herbeiführen, ohne selbständige Beteiligung am Kulturleben, wie die Hyksos und die Kossaeer und trotz aller äußeren Anlehnung an die Kultur von Sinear im Grunde auch die Elamiten von Susa, oder ob sie die fremden Anregungen in sich aufnehmen und ihrer Eigenart entsprechend weiterbilden und ergänzen und so aktiv und fördernd in den weiteren Verlauf der historischen Entwicklung eingreifen, wie die Semiten und dann auch die kleinasiatisch-chetitischen Stämme. In Europa treten uns die Anfänge vorwärtsschreitender materieller Kultur (von seinem geistigen Leben wissen wir gar nichts) zwar später als in Aegypten, aber doch jedenfalls schon seit dem Beginn des vierten Jahrtausends entgegen; in der weiteren Entwicklung sind die Berührung und Einwirkung der fortgeschritteneren Gebiete des Südostens unverkennbar, so lebhaft im einzelnen auch die Meinungen über die Intensität dieses Einflusses und die Frage, wie weit damit eine Einwirkung in umgekehrter Richtung verbunden ist, auseinandergehen mögen. Seit der Mitte des dritten Jahrtausends beginnt dann die Ausbreitung der Indogermanen, und bald darauf bildet sich bei dem östlichsten ihrer Zweige, den Ariern, eine höhere, selbständige und eigenartige Kultur. Etwa um dieselbe Zeit hat auch bei dem großen Kulturvolk des Ostens, den Chinesen, deren Geschichte außerhalb des Rahmens unserer Darstellung bleibt, die aufsteigende Entwicklung eingesetzt.


Die hier gegebenen Betrachtungen habe ich in der Hauptsache schon in Ber. Berl. Akad. 1908, 656ff. (Die Bedeutung der Erschließung des alten Orients für die geschichtliche Methode und für die Anfänge der menschlichen Geschichte überhaupt) veröffentlicht.


593. In ihrer Gesamtheit zeigen diese Tatsachen, daß bei denjenigen Völkern und Gebieten der Alten Welt, die überhaupt zu einer höheren Kultur fortgeschritten sind, diese Entwicklung etwa im fünften Jahrtausend v. Chr. begonnen [933] hat. Äußerlich ist sie dadurch erkennbar, daß diese Völker Spuren ihres Daseins hinterlassen haben, die sich bis auf unsere Zeit erhalten haben; ihr inneres Wesen besteht darin, daß sie ein geistiges Leben entwickeln, das ihnen eine von allen anderen unterschiedene Sonderart, eine Volksindividualität verleiht und sie dadurch weiter zu historischem Leben und historischer Wirkung befähigt. Im einzelnen ist diese Entwicklung hier etwas früher, dort etwas später erkennbar, verläuft bald rascher, bald langsamer, bis das Volk entweder in das sich bildende und immer mehr verbreiternde Bett des vollen geschichtlichen Lebens eintritt, oder aber ein Zustand erreicht worden ist, über den es nach seiner Veranlagung und den äußeren Bedingungen seines Daseins, solange diese sich nicht ändern, nicht mehr hinauskommen kann – so z.B. bei den Beduinen, oder auch bei denjenigen indogermanischen Völkern, die Jahrtausende lang nicht wesentlich weitergelangt sind, bis auch sie vom Strom des lebendigen historischen Lebens erfaßt werden. Doch sobald wir die Einzelerscheinungen zu einer Einheit zusammenfassen, treten diese zeitlichen Unterschiede vollständig zurück, während, zumal wenn wir den Blick auf die gewaltigen Zeiträume richten, die wir aus äußeren wie aus inneren Gründen für die Entwicklung des Menschengeschlechts überhaupt in Anspruch nehmen müssen, die Gleichzeitigkeit der Entwicklung um so überraschender und gewaltiger sich aufdrängt. Eine Ausnahme bildet freilich die Entwicklung Amerikas; hier werden die Zustände, die in der Alten Welt einer fernen Vorzeit angehören, auch von den fortgeschrittensten Völkern erst Jahrtausende später erreicht. Wie das zu erklären ist, weiß ich nicht, und ich gehe darauf umsoweniger ein, da mir dafür alle genaueren Kenntnisse fehlen. Die geschichtliche Tatsache, die wir für die östlichen Kontinente konstatiert haben, wird dadurch in keiner Weise beeinflußt.

594. Diese Tatsache fordert eine Erklärung; und diese Erklärung kann nur in einer Richtung gesucht werden. Die Erfahrung lehrt, daß es viele Völker gibt, die auf einem [934] einmal erreichten Standpunkt dauernd stehen bleiben und sich die Jahrtausende hindurch äußerlich kaum, innerlich gar nicht verändern, es sei denn, daß sie durch äußere Einwirkungen gewaltsam aus ihren Bahnen gerissen werden, wie etwa gegenwärtig die Neger. Das können wir begreifen; nicht begreifen aber würden wir, daß ein Volk lange Zeiträume hindurch stagnierend auf derselben Stufe stehen geblieben sei und dann plötzlich von innen heraus eine neue vorwärts führende Bahn eingeschlagen habe. Vielmehr sind wir gezwungen, eine Kontinuität der Entwicklung anzunehmen, die Linien, die wir vom fünften und vierten Jahrtausend an bis zur Gegenwart verfolgen können, auch nach oben in der gleichen Richtung zu verlängern, obwohl uns hier die urkundlichen Zeugnisse fehlen. Das ist allerdings ein Postulat; aber ein Postulat, dessen Anwendung nicht in unserem Belieben steht, sondern das ebenso mit Notwendigkeit in der Natur unseres Denkens liegt, wie daß wir einen Vorgang, den wir beobachten, als Wirkung und Ursache erfassen oder mit anderen Worten ihn kausal entweder als einen Willensakt oder aber als einen gesetzmäßigen Vorgang denken müßten. Wollten wir das Postulat negieren, so würden wir damit nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern das Denken überhaupt aufheben, oder vielmehr, wir würden sofort nach der Ursache suchen, welche diesen Stillstand und die dann plötzlich spontan eingetretene fortschreitende Entwicklung dennoch begreiflich machte, und damit lediglich das Postulat wieder als berechtigt anerkennen.

595. Wir müssen also annehmen, daß um 5000 v. Chr. das genus homo eine Stufe seiner Entwicklung erreicht hatte, die allen den Menschengruppen oder Völkern, die ihrer Veranlagung nach (d.h. nach den geistigen Kräften, die in ihnen beschlossen waren) überhaupt über dies Stadium hinausgelangen konnten, den Eintritt in diejenigen Bahnen ermöglichte, die zur Entstehung einer weiter fortschreitenden Kultur und zum Eintritt in ein historisches Leben führten. Von der Entwicklung, die dieser Epoche voranliegt, können wir wenigstens [935] einiges ahnen. Denn die Völker haben da, wo sie uns zuerst in geschichtlichen Zeugnissen greifbar entgegentreten, so nahe sie sich auch in den sozialen, rechtlichen, religiösen Anschauungen und in der äußeren Gestaltung des Lebens stehen, doch alle schon ihre Sonderindividualität, körperlich sowohl wie geistig, die sich im weiteren Verlauf des historischen Lebens zu größerer oder geringerer Eigenart entfaltet und auch aus gemeinsamer Wurzel neue Volksindividualitäten herausbilden mag, wie z.B. die Arier oder die Griechen, die aber im Keime bereits vorhanden ist. Überdies setzt z.B. die vollentwickelte Gestalt der indogermanischen Einheitssprache eine lange Vorgeschichte voraus, in der sich die grammatischen Bildungen, die Suffixe und Flexionsendungen, Wortschatz und Satzbau aus älteren Gestaltungen herausgebildet haben, so wenig es auch der Forschung möglich ist, den dabei durchlaufenen Weg im einzelnen zu erkennen und die Entstehung der einzelnen Formen mit Sicherheit zu erklären; und das gleiche gilt in vielleicht noch höherem Maße von der semitischen sowie der aegyptischen Sprache mit ihren ganz eigenartigen, auf innerem Vokalwechsel beruhenden Bildungen und ihrem Herauswachsen aus der in unbestimmbarer Ferne voranliegenden Epoche der semitisch-hamitischen Spracheinheit, und nicht minder von der Vorgeschichte des Chinesischen. Diesen sprachlichen Entwicklungsreihen, deren Ergebnisse uns in den ältesten erreichbaren Gestalten der Sprachen vor Augen liegen, ist eine innere Entwicklung der Völker und nicht minder eine immer von neuem sich wiederholende Berührung und Kreuzung der verschiedenartigen Volkselemente zur Seite gegangen, deren Ergebnis eben die Herausbildung der einzelnen, körperlich und geistig von einander geschiedenen Volkstypen gewesen ist. Die Zeit, welche diese Entwicklung in Anspruch genommen hat, auch nur annähernd zu schätzen, fehlt uns jedes Mittel; nur so viel ist ganz klar, daß wir hier mit sehr langen Zeiträumen zu rechnen haben, die der Zeit von rund 7000 Jahren, deren Entwicklung wir in stets steigendem Maße geschichtlich zu [936] übersehen vermögen, an Umfang mindestens gleich steht. Parallel sind ihr die Anfänge der äußeren Gestaltung menschlicher Kultur gegangen, von der uns in den älteren Überresten menschlicher Ansiedlungen mit ihren Werkzeugen von roh behauenem Stein, von tönernen Gefäßen, von Speiseresten und gelegentlich erhaltenen Leichen aus der Übergangsepoche von der paläolithischen zur neolithischen Zeit wenigstens einige Zeugnisse erhalten sind.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 932-937.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon