Die Kulturentwicklung des fünften Jahrhunderts. Dominierende Stellung Athens

[733] Wenn eine Nation ein aufstrebendes geistiges Leben aus sich erzeugt, das Schritt für Schritt vorwärts dringend die Banden der Tradition sprengt und dem Schaffen und Denken immer höhere Aufgaben stellt, dann tritt ein Moment ein, wo ein gewaltiger geistiger Gärungsprozeß die Nation ergreift und eine Fülle von Talenten gebiert, wo mit einem Schlage die letzten schon morsch gewordenen Schranken fallen und nun nach allen Seiten der Blick frei wird in neue, ungeahnte Fernen. Da schreitet in unaufhaltsamem Drängen eine Generation über die andere hinweg; in wenig Jahren ist veraltet, was eben noch als das Neueste und Kühnste galt; in ein paar Jahrzehnte drängt sich ein Fortschritt zusammen, der sonst in Jahrhunderten kaum erreichbar schien. Das ist die Geburtsstunde einer neuen Kultur, welche auf Jahrhunderte hinaus dem Denken und Empfinden des Volkes die Richtung weist. Eine solche Zeit war der italienischen Nation im 14. und 15. Jahrhundert gewährt, der englischen zur Zeit Elisabeths, der deutschen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Unsere eigene Geschichte beweist, daß ihr Eintreten mit einem die Tiefen des Volkes erfassenden politischen Fortschritt nicht notwendig verbunden ist, daß die Bewegung andauern kann, auch wenn die Nation staatlich völlig zu erliegen scheint, und daß sie dann umgekehrt ihr die Kraft zu neuer politischer Erhebung zu geben vermag. Bei den Israeliten, wo sich in kleinerem Maß doch im Grunde dieselben Erscheinungen wiederholen, haben die großen Geister, deren Gedanken die Wurzeln des Judentums entsprungen sind, ihre Hauptaufgabe sogar in der Bekämpfung der politischen Unabhängigkeit, in der bewußten Ertötung des politischen Lebens gesehen – daher [733] ist allerdings das Ergebnis auch eine beschränkte und künstlich eingeengte Kultur gewesen, die ihr Ideal nicht in der freien Tätigkeit des Menschen im Leben, sondern in dem Traumgebilde einer durch übernatürliche Mächte dereinst herbeizuführenden besseren Zukunft gesehen hat. Die höchsten Ergebnisse aber erschafft dieser geistige Gärungsprozeß, wenn er sich mit einem mächtigen politischen Aufschwung verbündet und so die im Menschen lebendigen Kräfte allseitig zu entfesseln vermag. Das ist der griechischen Nation beschieden gewesen wie kaum einer anderen. Die Generation, welche im Zeitalter der Perserkriege heranwuchs, und die, welche ihr folgte, haben eine Schar hervorragender Männer erzeugt, wie sie die Welt auf so beschränktem Raum nicht wieder vereinigt gesehen hat; wie diese Zeit für die Hellenen eine Weltstellung ohnegleichen errang und die großen politischen Kämpfe durchgefochten hat, welche, so verschieden sie äußerlich erscheinen, inhaltlich in ganz gleicher Weise auf allen Höhepunkten der Weltgeschichte wiederkehren, so hat sie eine Kultur geschaffen, welche für allen weiteren Fortschritt des Menschengeschlechts die Grundlage geworden ist.

Die äußere Erscheinungsform dieser Kultur ist durch die politische Gestaltung bedingt. Die bunte Mannigfaltigkeit, in der uns die griechische Welt und das griechische Leben noch zur Zeit der Perserkriege entgegentritt, geht mehr und mehr auf in einem großen Gegensatz (vgl. Buch II, Abschnitt 3, 395). Auf der einen Seite stehen die konservativen Mächte, die sich um Sparta scharen; aller Fortschritt aber konzentriert sich um Athen. Nur die Westwelt, Sizilien voran, steht noch abseits und geht ihre eigenen Wege, bis auch sie in den Gegensatz des Mutterlandes hineingezogen wird und politisch zum Teil, kulturell vollständig sich ihm unterordnen muß. Die konservativen Tendenzen haben ihr Ideal in der Vergangenheit; so stark die Mächte des Beharrens sich erweisen, innerlich sind sie erstarrt, zu neuen Schöpfungen vermögen sie nicht mehr zu gelangen. Aller Fortschritt, alles Neue, jede Macht der Bewegung sieht sich nach Athen gewiesen, und dies muß sie aufnehmen, mag es sich gegen manche der neuen Elemente, die übermächtig eindringen, noch so sehr sträuben. [734] Die neue hellenische Kultur, welche das 5. Jahrhundert erzeugt hat, ist die attische Kultur; sie trägt das Gepräge Athens im ganzen wie in jeder einzelnen Erscheinung, auch dann, wenn diese ursprünglich nicht auf attischem Boden erwachsen, ja wenn sie zunächst von Athen energisch bekämpft worden ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 733-735.
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