Die Arginusenschlacht

[339] In Sparta hat Lysanders Verhalten eine starke Opposition hervorgerufen. Wer an der alten ehrlichen Politik festhielt, als deren Verteidiger der Staat den Krieg gegen Athen aufgenommen hatte, [339] mußte sich beschämt fühlen über die Abhängigkeit, in die man von Persien geraten war, und entrüstet über die krummen Wege der neuen Politik. Demgegenüber war es unzweifelhaft, daß Lysander Sparta aufs neue zum Siege geführt hatte und daß vor ihm die athenische Seemacht zusammengebrochen und der gefährlichste Gegner Spartas vom Kriegsschauplatz verschwunden war. So wird es sich erklären, daß man lange gezögert hat, ihn abzulösen324, daß dann aber zu seinem Nachfolger ein Vertreter der entgegengesetzten Richtung bestellt wurde, Kallikratidas325. Auch er soll ein Mothax gewesen sein (IV 1, 436, 1); aber er war ein Anhänger der alten Politik, der in den Kampf ging mit dem Wunsche, den Krieg möglichst rasch zu beendigen und zu einem Abkommen mit Athen zu gelangen, um so Sparta aus dem schimpflichen Verhältnis zu den Barbaren [340] zu befreien. Als er zu Anfang des Jahres 406 in Asien erschien, machte Lysander aus der Entrüstung über seine Abberufung kein Hehl: er erklärte, er habe die Feinde besiegt und beherrsche die See vollkommen. Als dann allerdings Kallikratidas ihm befahl, sein Wort wahr zu machen, indem er die Flotte von Ephesos an Samos vorbei nach Milet führe, weigerte er sich: er habe jetzt kein Kommando mehr. Kallikratidas bekam alsbald zu fühlen, wie sehr Lysander für sich selbst gearbeitet hatte. Seine Anhänger murrten allerorten und zeigten sich unlustig. Den Restbestand von persischen Subsidien hatte Lysander an Kyros zurückgeliefert, und dieser zögerte, seinem Nachfolger gegenüber seine Verpflichtungen zu erfüllen; er ließ den spartanischen Nauarchen so lange antechambrieren, bis ihm die Lust verging und er ohne Geld zur Flotte zurückkehrte. Indessen Kallikratidas ließ sich nicht einschüchtern. Von Anfang an ging sein Sinn auf energische Kriegsführung, ganz im Gegensatz zu der bedächtigen Art seines Vorgängers. Unterstützung fand er vor allem bei Rhodos, dessen drei Städte sich vor kurzem zu einem einzigen Staat vereinigt und eine neue Hauptstadt Rhodos gegründet hatten326. Auch Chios und andere Städte sandten Schiffe. So brachte er die Flotte von 90 auf 140 Schiffe. Sein Haupquartier verlegte er nach Milet; durch offenes und gerechtes Auftreten und Ablehnung aller Intrigen und alles Koteriewesens gewann er die Stimmung für sich. Er erklärte, daß er, wenn seine Amtszeit abgelaufen sei, mit allen Mitteln für den Frieden wirken werde; er ließ durchblicken, wie wenig er mit der Auslieferung der Griechenstädte an die Barbaren einverstanden sei. So kamen ihm auf seine Aufforderung, zu beweisen, daß man auch ohne persisches Gold etwas leisten könne, hinreichend Gelder zu; die Anhänger Lysanders durften am wenigsten wagen, mit ihren [341] Mitteln zurückzuhalten. Dadurch war er in den Stand gesetzt, der Schiffsmannschaft wenigstens das nötigste Geld für die Ausrüstung, 5 Drachmen auf den Kopf, zu zahlen und dann mit der gesamten Flotte in See zu gehen (etwa Mitte Mai 406)327.

Mit Ausnahme von Samos wird Athen zu Anfang des Jahres 406 südlich von Golf von Smyrna nur noch wenige Positionen behauptet haben, wie z.B. Kedriai in Karien am Keramischen Golf, vielleicht auch noch Halikarnaß und Kos. Auch die äolische Küste und das Idagebiet war seit Jahren verloren328. Die Kykladen dagegen außer Andros waren noch untertänig, und ebenso bestand Athens Herrschaft über Lesbos und den Hauptteil der thrakischen und hellespontischen Provinz seit Alkibiades' Erfolgen unangetastet. Aus diesen Gebieten bezog Athen, was ihm von Einkünften noch zufloß; nur dadurch konnte es die Einwohnerschaft der Hauptstadt ernähren und der auf den Mauern stehenden Garnison die Löhnung zahlen. Kallikratidas beschloß, wie Mindaros im Jahre 411, den Krieg aufs neue nach Norden zu tragen und dadurch die Entscheidung zu erzwingen. Zunächst griff er Methymna auf Lesbos an, das schon einmal in den Händen der Spartaner gewesen war. Die attische Garnison wurde überwältigt, die Stadt erstürmt und geplündert. Die Soldaten forderten, man solle, um genügend Geld zu bekommen, die Bevölkerung verkaufen. Das verwarf Kallikratidas; nur die Sklaven und die gefangene athenische Besatzung wurden verkauft. Immerhin hatte der Nauarch jetzt Geldmittel genug, und auch Kyros, der anders als Tissaphernes die Niederwerfung Athens wünschte, sandte ihm Subsidien; seine Flotte wuchs auf 170 Schiffe. Konon versuchte, mit Leon und Erasinides Hilfe zu bringen; aber der feindlichen Übermacht waren seine 70 Schiffe nicht gewachsen. Kallikratidas verlegte ihm den Rückweg;[342] er sah sich gezwungen, nach Mytilene zu flüchten. Die Feinde drangen mit ihm in den Hafen ein; in hartem Kampf verlor er 30 Schiffe, die übrigen mußte er ans Land ziehen. Er wurde zu Lande und zur See eingeschlossen und belagert329. Um das Unglück voll zu machen, verlor auch Diomedon, der von Samos aus mit 12 Schiffen Hilfe bringen wollte – offenbar hat man jetzt die von Konon im vorigen Jahre eingezogenen Trieren bemannt –, alle Schiffe bis auf 2. Lange konnte die Stadt sich nicht halten, wo so viele Menschen zusammengedrängt waren; Rettung war nur möglich, wenn von Athen Entsatz kam. Mit Mühe gelang es einem von Konon entsandten Schnellruderer, durch die Feinde hindurchzukommen und die Kunde von der verzweifelten Lage nach Athen zu bringen.

In Athen hatte man seit Alkibiades' Sturz resigniert die Dinge gehen lassen, wie sie mochten. Schiffe lagen wohl noch in den Docks, aber man hatte weder Mannschaften noch Geld, sie zu bemannen; man konnte nichts tun, als die Dinge abwarten. Jetzt aber stand die Katastrophe unmittelbar vor der Tür; wenn Konon nicht gerettet wurde, war es mit Athens Seemacht definitiv zu Ende. Aber noch war der Mut der Bürgerschaft nicht gebrochen; als etwa im Juni 406 die Botschaft aus Lesbos eintraf, erhob sie sich zu den kühnsten Beschlüssen. Noch einmal wurde eine neue Flotte von 110 Trieren geschaffen, sei es, daß man die Schiffe neu baute, sei es, daß man alte, die noch verwendbar waren, wieder instand setzte330.[343] Wer immer das Ruder zu führen vermochte, sollte an Bord gehen, die Zeugiten und Ritter so gut wie die Theten und Metöken. Auch die Sklaven zog man heran: wer kräftig und bereit war, erhielt mit dem Eintritt in die Flotte die Freiheit331. Wie die Großväter bei Salamis, so zog auch jetzt fast das gesamte Volk hinaus aufs Meer, um die Heimat zu retten. Das Kommando über die Flotte wurde den bereits im Amte befindlichen Strategen gelassen; ihre für das neue Amtsjahr gewählten Nachfolger übernahmen (soweit sie nicht mit jenen identisch waren) vielleicht den Oberbefehl in der Stadt332. Den Dienst auf den Mauern mußte man den Epheben und [344] den älteren Männern überlassen und vertrauen, daß ihre Kräfte zum Schutz der Festung ausreichen würden. In den Schätzen auf der Burg war längst keine Drachme und kein phokäisches und kyzikenisches Goldstück mehr vorhanden; um die nötigen Mittel zu beschaffen, wurden die goldenen und silbernen Weihegeschenke und Tempelgeräte des Parthenon und die goldenen Niken bis auf eine oder zwei eingeschmolzen; im Pronaos des Parthenon blieb von allen Kostbarkeiten ein goldener Kranz zurück333. Alle Kräfte wurden [345] bis aufs äußerste angespannt: bereits nach 30 Tagen konnte die neue Flotte in See gehen (Juli 406).

Die athenische Flotte begab sich zunächst nach Samos und zog hier an Mannschaften heran, was sich noch von Athenern und Bündnern auftreiben ließ; durch 10 samische und mehr als 30 sonstige bundesgenössische Schiffe verstärkte sie sich auf über 150 Trieren. Dann brach sie nach Norden auf. Kallikratidas überließ die Belagerung von Mytilene seinem Adjutanten (Epistoleus) Eteonikos mit 50 Schiffen und fuhr selbst mit 120 an der Küste von Lesbos entlang den Athenern entgegen – offenbar war er über die Stärke ihrer Flotte nicht genügend informiert. Die Athener lagerten unweit von ihm an der asiatischen Küste bei der kleinen Inselgruppe der Arginusen. Ein Versuch, sie vor Tagesanbruch zu überfallen, wurde durch ein Gewitter vereitelt; am nächsten Tage kam es zur Schlacht, der größten dieses Krieges und zugleich der größten Seeschlacht, die Griechen einander geliefert haben. Über 270 Trieren und 50000 Menschen kämpften in dem weiten Meerarm zwischen Lesbos und dem Festland gegeneinander. Die Verhältnisse hatten sich gegen frühere Zeiten vollständig gewandelt; die athenischen Ruderer waren jetzt größtenteils ungeschult, die der Feinde hatten eine mehrjährige Erfahrung zur See hinter sich. Deshalb stellten die Athener ihre Schiffe in zwei Treffen hintereinander, um den Feinden ein kunstvolles Manövrieren mit Durchfahrten und plötzlichen Wendungen unmöglich zu machen. Der Steuermann des spartanischen Nauarchen riet, dem Kampf mit der feindlichen Übermacht auszuweichen; Kallikratidas aber erklärte wie einst Leonidas, Fliehen sei eines spartanischen Mannes unwürdig; sollte er den Tod finden, so sei er leicht zu ersetzen. Der Kampf war hart umstritten und verlustreich für beide Teile. Kallikratidas selbst fand in den Wellen den Tod, sein linker Flügel wurde geschlagen und ins offene Meer hinausgeworfen und dann auch der rechte mit fortgerissen. Über 70 Schiffe, mehr als die Hälfte der Flotte, gingen verloren, darunter 9 von den 10 spartanischen. Aber auch den Athenern waren 25 Schiffe in den Grund gebohrt; und da der Kampf auf hoher See stattfand, konnten die Mannschaften sich nicht ans Land retten. Als der Sieg erfochten war, beauftragten die [346] Feldherren eine Anzahl ihrer Untergebenen, an deren Spitze sie auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung die Trierarchen Theramenes und Thrasybul stellten, die Verunglückten aufzufischen; dazu wurden ihnen 47 Schiffe zurückgelassen. Aber ein ausbrechendes Unwetter machte alle Bemühung unmöglich; so gingen die Schiffbrüchigen zugrunde. Die Strategen hatten mit dem Rest der Flotte sofort nach Mytilene aufbrechen wollen, aber auch sie wurden durch den Sturm gehindert. Währenddessen fand Eteonikos Zeit, indem er die Nachricht verheimlichte und sich statt dessen eine Siegesbotschaft bringen ließ, seine Flotte nach Chios zu retten und sich mit den Landtruppen nach Methymna zurückzuziehen. Mytilene war befreit, Konon vereinigte sich mit den Siegern. Die attische Flotte machte noch einen Versuch, Chios anzugreifen, und kehrte dann nach Samos zurück334.

Die heroische Anstrengung Athens war von Erfolg gekrönt; zum zweitenmal war die Flotte vernichtet, welche die Gegner aufgebracht hatten. Aber der Sieg war teuer erkauft: mehr als 4000 Mann hatten den Tod in den Wellen gefunden, und davon werden weit über die Hälfte athenische Bürger aus allen Bevölkerungsschichten gewesen sein. Je größer die Opfer waren, welche die Bürgerschaft gebracht hatte, um so schmerzlicher empfand sie den Verlust: die wackeren Patrioten, meinte man, hätten eine bessere Behandlung verdient. Wer sich gerettet hatte, brachte herzergreifende Schilderungen heim von der Not und den Klagen der Ertrinkenden: es ist begreiflich, daß sie sich von den Feldherren aufgeopfert und verraten glaubten. Die Volksmassen waren derselben Ansicht. Die Feldherren hatten einen Bericht an Rat und Volk geschickt, in dem sie den Sturm schilderten, der den Rettungsversuch unmöglich machte; aber die Volksversammlung, größtenteils aus [347] den daheimgebliebenen Verwandten der Flottenmannschaft bestehend – von dieser selbst kann nur ein kleiner Teil nach dem Siege in die Heimat entlassen sein –, war nicht befriedigt: die Feldherren, mit Ausnahme Konons, wurden abberufen335, diesem aus den Strategen des neuen Amtsjahres Adeimantos und Philokles beigeordnet. Zwei der abgesetzten Strategen, Protomachos und Aristogenes, zogen in richtiger Erkenntnis der Sachlage vor, überhaupt nicht nach Athen zurückzukehren; die sechs anderen (der zehnte, Archestratos, war bereits bei Mytilene gefallen), Thrasylos, Diomedon, Aristokrates, Erasinides, Lysias und Perikles, der Sohn des Regenten von der Aspasia, wurden bei der Heimkehr nicht als Sieger, sondern als Verbrecher empfangen. Zunächst zog Archedemos, damals Leiter der Diobelie (s.S. 316f.), den Erasinides336, der vor allem für eine energische Ausnutzung des Sieges eingetreten war, vor Gericht, unter der Beschuldigung, er habe Gelder aus dem Hellespont unterschlagen, und ließ ihn in Fesseln werfen. Dann wurden auf Antrag des Timokrates auch die übrigen Strategen vom Rat gefangen gesetzt und vor die Volksversammlung gestellt. In ihrem Bericht hatten die Strategen auf den Wunsch des Perikles und Diomedon von dem an Theramenes und Thrasybul gegebenen Auftrag nicht geredet, um sie nicht zu kompromittieren; jetzt machten sie davon Mitteilung, um zu beweisen, daß sie alles getan hatten, was ihre Pflicht war. Freilich seien auch diese Männer nicht schuldig, da gegen den Sturm nichts zu machen war; aber wolle man jemanden zur Verantwortung ziehen, so müsse man sich an sie halten. Indessen Erfolg hatten sie damit nicht. Thrasybul hielt sich zurück; Theramenes aber – er mochte sich bei der herrschenden demokratischen Strömung wegen seiner Vergangenheit besonders kompromittiert fühlen337 – zeigte auch hier die neumodische Geschicklichkeit, sich niemals einschüchtern zu lassen und immer einen [348] Ausweg bereit zu haben. Bereits hatte er, in der Voraussicht dessen, was kommen mußte, die Massen aufgehetzt; an der Hand des offiziellen Berichtes wies er nach, daß von einer Schuld, die ihn treffe, keine Rede sein könne; wenn die Strategen jetzt die Dinge anders darstellten, bewiesen sie damit nur, daß sie sich schuldig fühlten und man sie mit Recht zur Verantwortung ziehe. Noch schwankte die Volksversammlung; schließlich gab man dem Rat den Auftrag, das Verfahren gegen die Feldherren zu regeln. Dazwischen aber fiel das Apaturienfest (Oktober), bei dem die Familien sich in den Phratrien zusammenfanden. Hier trat der Umfang der Verluste deutlich zutage; die Aufregung wuchs ins Ungemessene. Auf Kallixenos' Antrag eröffnete der Rat gegen die Strategen ein Eisangelieverfahren, bei dem die Volksversammlung selbst, nicht ein Geschworenengericht, die Entscheidung zu fällen hatte; in einer einzigen Abstimmung solle, da man ihre Verteidigung schon gehört habe, das Volk über alle Angeklagten zusammen das Urteil sprechen. Das war durchaus ungesetzlich; sowohl das solonische Recht wie ein Psephisma des Kannonos, das neuerdings das Verfahren in Hochverratssachen ganz in demokratischem Sinne geregelt hatte, schrieben ausdrücklich bei mehreren Angeklagten gegen jeden ein gesondertes Verfahren vor338. Aber die Versuche, den Antrag durch Einlegung der Klage wegen Gesetzesverletzung zu Fall zu bringen, scheiterten an dem Toben der Menge, welche forderte, auch die Widersprechenden sollten sofort abgeurteilt werden: »es sei arg, wenn man dem souveränen Demos nicht gestatten wolle, zu tun, was ihm beliebe.« Auch die vorsitzenden Prytanen wagten keinen Widerstand; nur Sokrates339, der an diesem Tage unter ihnen [349] saß, beharrte unerschrocken auf seinem Einspruch340. Euryptolemos, Peisianax' Sohn, hielt wenigstens den Antrag auf gesondertes Verfahren gegen jeden einzelnen aufrecht, und fast wäre er damit durchgedrungen; die erste Abstimmung war unentschieden, aber bei der zweiten siegte der Antrag des Rates. Das Todesurteil wurde gesprochen, die sechs verhafteten Feldherren den Henkern übergeben, ihr Vermögen für den Staat eingezogen341.

So hat die athenische Demokratie sich noch einmal, unmittelbar vor ihrem Fall, selbst ein unaustilgbares Brandmal aufgedrückt. Und doch – wem es gelingt, sich die Zeit mit all ihrer Not wirklich [350] lebendig zu machen, der wird geneigt sein, sie zu entschuldigen, ja fast, ihr zu verzeihen. Seit sieben Jahren führt Athen ununterbrochen einen Kampf um die Existenz; es schwebt am Rande des Abgrundes, seine Mittel sind erschöpft, seine Bürger haben nichts mehr zu leben; und doch beharrt es im Widerstand bis zum äußersten. Das ist politisch nicht zu rechtfertigen, und schwer hat Athen dafür büßen müssen; aber bewundern muß man es doch. Und wenn es an all seinen Ansprüchen festhält und nichts aufgeben will von der Machtstellung, von der die Bürgerschaft lebt, so hält es ebenso unerschütterlich fest an den Idealen, die es verkörpern will. Das rege geistige Leben, die unerschöpfliche Diskussion der höchsten Fragen des Daseins, die für uns verkörpert ist in den Gesprächen des Sokrates, sie reißt nicht ab, mag auch jeder waffenfähige Mann auf die Mauern oder auf die Schiffe gerufen werden. Die Gottesfeste, die musikalischen und dramatischen Feiern, sie gehen weiter, und das Volk versammelt sich, wenn die Tage der Festfreude gekommen sind, im Theater, als wenn der Krieg nicht vor den Toren tobte. Die alte Zeit freilich geht zu Ende. Euripides hat im Frühjahr 408 zum letzten Male eine Tetralogie auf die attische Bühne gebracht – ihr gehört der »Orestes« an –; dann ist er dem Ruf des Makedonerkönigs Archelaos gefolgt, und mit ihm ist Agathon gegangen. Ihnen mochten die Zustände der Heimat hoffnungslos erscheinen. Sophokles dagegen, der Neunzigjährige, hat noch einmal die geliebte Heimat verherrlichen und die hehren sittlichen Ideale Athens verkünden können; dann haben die Götter ihn in Frieden hinweggenommen, nach dem letzten Siege Athens, wenige Monate nach dem Tode seines großen Rivalen. Eupolis hatte bereits in einer der Schlachten des hellespontischen Krieges den Tod gefunden. Aber an Nachwuchs fehlte es nicht; und wenn die jüngeren tragischen Dichter meist nicht mehr waren als Nachahmer, so hat die Komödie noch bedeutende Talente hervorgebracht, vor allem in Platon342. Aristophanes aber stand noch immer in der Fülle seiner Kraft; bei den Lenäen zu Anfang des Jahres 405 [351] sind seine Frösche aufgeführt worden. Wenn man bedenkt, daß das Volk von Athen imstande war, damals, in der äußersten Not des Krieges, ein Stück anzuschauen und voll zu genießen – die Frösche haben den ersten Preis erhalten –, das trotz aller unerschöpflichen Komik im Grunde höchst ernsthaft eine ästhetische Frage, die nach dem Wert der alten äschyleischen und der neuen euripideischen Tragödie, zum Gegenstand hatte, dann wird man von staunender Bewunderung erfüllt über die Elastizität des athenischen Geistes; dann begreift man aber auch, daß dieses Volk drei Monate vorher von Stimmungen, die zwar nicht berechtigt, aber menschlich verzeihlich waren, sich in dem Wahne, Gerechtigkeit gegen tapfere Bürger zu üben, die leichtfertig geopfert seien, hat hinreißen lassen, einen schmachvollen Justizmord zu begehen an sechs achtbaren und patriotischen Männern, die immer treu zu seiner Sache gehalten und ihm jetzt den ruhmreichsten Sieg erfochten hatten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 339-352.
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