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Geschichtliche und psychologische Voraussetzungen

[160] Wie wir sahen, war nach Platos Ansicht eine radikale Reform von Staat und Gesellschaft nur auf dem Wege des Absolutismus zu erwarten. Trotz der vernichtenden Kritik, welche er im »Staat« an der Tyrannis geübt, ist er gleich den meisten Doktrinären – man denke[160] nur an Rousseau und St. Simon, an Lassalle und Rodbertus! – in gewissem Sinne Anhänger des Cäsarismus, – vorausgesetzt, daß sich derselbe zum Träger seiner Ideale macht.563 »Gebt mir einen Staat,« – heißt es noch in seinem letzten Werke – »der von einem absoluten Fürsten beherrscht wird. Der Fürst aber sei in jugendlichem Alter, mit gutem Gedächtnis und leichter Fassungsgabe ausgerüstet, unerschrocken und edelgesinnt; dazu füge es ein glücklicher Zufall, daß er unter seinen Zeitgenossen einen Mann als Berater findet, der zum Gesetzgeber berufen ist. Dann kann man sagen: Gott hat so ziemlich alles getan, was er tun muß, wenn er einem Staat eine außergewöhnlich glückliche Zukunft bereiten will.564 Jedenfalls ist kaum ein schnellerer und besserer Weg denkbar, auf dem der Staat in den Besitz einer Verfassung gelangen könnte, welche ihm dauerndes Glück verbürgt.«565

Es ist gewiß kein zufälliges Zusammentreffen, daß in derselben Zeit, wo in der sozialpolitischen Theorie das Königtum so bedeutsam in den Vordergrund tritt, eben die Monarchie für die hellenische Welt eine stetig steigende Bedeutung erhielt. Während sich im Norden die Erhebung des makedonischen Königtums vorbereitete und in Hellas selbst die Tyrannis wieder ihr Haupt zu erheben begann, war der größte Teil des hellenischen Westens durch die gewaltige Hand des ersten Dionys zu einem Reiche verschmolzen worden, dessen Bestand selbst durch den Übergang der Regierung auf einen jungen unerprobten Nachfolger nicht mehr in Frage gestellt werden konnte. Welch eine Aussicht, wenn diese starke Monarchie der Sehnsucht der edelsten Geister nach einer machtvollen Darstellung des Staatsgedankens verständnisvoll entgegenkam, wenn sie ihre Aufgabe im Sinne jenes sozialen Königtums erfassen lernte, wie es eben die Staatslehre des 4. Jahrhunderts als eines ihrer politischen Ideale proklamiert hat!566 Eine Aussicht, auf deren Verwirklichung man übrigens um so mehr hoffen durfte, als mit der Thronbesteigung des jüngeren Dionys eine Konstellation eintrat, welche in überraschender Weise alle die Voraussetzungen zu enthalten schien, von denen Plato selbst eine mehr oder minder weitgehende Verwirklichung seiner Ideen erwartete.

[161] Auf dem Throne des mächtigsten Hellenenstaates ein jugendlicher Fürst, dessen lebhafter und empfänglicher Geist bei richtiger Leitung einer höheren Auffassung seiner Stellung keineswegs unzugänglich schien, – ihm zur Seite einer der hervorragendsten Staatsmänner der Zeit, Dion, der, ganz von dem Geiste der Akademie erfüllt und ein Bewunderer ihres Meisters, für Plato als der geborene Gesetzgeber erscheinen mußte, und beide – der Fürst wie sein Minister – einig in dem Wunsch, den gefeierten Denker selbst in ihre unmittelbare Nähe zu ziehen, einig auch, wie es wenigstens den Anschein hatte, in dem Wunsch, daß in seiner Unterweisung der fürstliche Jüngling sich zum wahren Staatsmann bilde!

Ist es zu verwundern, daß Plato, als der Ruf nach Syrakus an ihn herantrat, sich demselben nicht versagt hat? Er konnte in dieser Einladung von seinem Standpunkte aus nur einen jener »glücklichen Zufälle« erkennen, von denen er selbst im »Staate« anerkennt, daß sie dem Philosophen die Notwendigkeit auferlegen, sich in den Dienst des Staates zu stellen, er mag wollen oder nicht.567

Wie weit allerdings die Hoffnungen gingen, mit denen er nach Syrakus kam, wissen wir nicht. Zwar wird allen Ernstes berichtet, er habe vom Fürsten Land und Leute erbeten, um mit ihnen den Versuch zu einer Verwirklichung des Idealstaates selbst zu machen, und Dionys habe ihm auch die Erfüllung dieser Bitte in Aussicht gestellt.568 Allein wenn dabei auch von der richtigen Voraussetzung ausgegangen wird, daß in dem damaligen Sizilien, wo so manche Hellenengemeinde verödet und in Trümmern lag, die Möglichkeit zu Neugründungen reichlich vorhanden war, so ist doch die Nachricht selbst allzu schlecht beglaubigt. Nur so viel wird man sicher annehmen dürfen: Plato muß mit großen Erwartungen, mit weitaussehenden Plänen gekommen sein. Denn wie hätte er sich sonst entschlossen, das beglückende Dasein im Haine der Akademie, die behagliche Stille der Schule im Kreise bewundernder Schüler aus allen Teilen der Hellenenwelt mit dem schlüpfrigen Boden und geräuschvollen Treiben eines Tyrannenhofes zu vertauschen?

[162] Ein so großes persönliches Opfer wird nur dann verständlich, wenn er in der Tat überzeugt war, daß der junge Fürst seinen Idealen ein hohes Maß von Empfänglichkeit entgegenbringen werde. Was aber eine solche Überzeugung gerade bei einem Plato zu bedeuten hatte, das wird uns klar, wenn wir uns den unverwüstlichen Optimismus vergegenwärtigen, mit dem er bis zuletzt den Glauben an einen wahrhaft Wunderwirkenden Einfluß machtvoller Persönlichkeiten festgehalten hat.

Noch in den »Gesetzen« äußert er die Ansicht, daß das, wovon das Schicksal aller großen sozialen und politischen Umgestaltungen abhängt:

die sittliche Erneuerung des Volkes, für einen unumschränkten Monarchen durchaus keiner besonderen Anstrengungen, ja nicht einmal sehr langer Zeit bedürfe.569 Wenn er nur selbst zuerst den Weg betritt, auf den er die Bürger hinleiten will, und in seinem ganzen Tun und Handeln das Muster aufstellt, indem er zugleich darauf bedacht ist, daß denen, die dem Beispiel folgen, Lob und Ehre, allen Widerstrebenden aber Tadel und Schande zuteil wird!570 Wem solche Überredungsmittel und solche Macht zu Gebote stünden, dem würden die anderen Bürger in Bälde nachfolgen.571 Glücklich der Staat unter solch vorbildlicher Herrscherleitung; sie wird für ihn die Urheberin tausendfältigen, ja alles denkbaren Guten,572 sie eröffnet den Pfad zur »besten Verfassung und zu den besten Gesetzen.«573

Diese Anschauungsweise läßt ein helles Licht auf das Ziel fallen, welches Plato vorschwebte, als er den Boden Siziliens betrat. Auf dem Thron von Syrakus sollte sich ohne Zweifel die ersehnte Ineinsbildung der politischen Macht mit der Philosophie vollziehen, der an dem schöpferischen Geist des Denkens herangebildete philosophische Herrscher alsdann die Ausbreitung der von der Doktrin verkündeten sozialethischen Grundwahrheiten, die Sammlung des durch schroffe innere Gegensätze gespaltenen Volkes unter dem Zeichen der ethischen Reform in seine Hand nehmen und so die Möglichkeit gewinnen für den Ausbau einer neuen besseren Ordnung des Staates und der Gesellschaft.574

[163] Je erhabener die Aufgabe war, die hier der Monarchie zugedacht wurde, um so schmerzlicher mußte die Enttäuschung sein, wenn der Träger der Gewalt, mit welcher dem reformatorischen Eifer so Großes erreichbar schien, all diese Hoffnungen zunichte machte.

Wie gründlich die Enttäuschung gerade bei Dionys war, ist bekannt. Es ist – bei aller zur Schau getragenen äußeren Verehrung für Plato – kaum ein schärferer Kontrast denkbar als der, welcher zwischen den Idealen der Akademie und dem Tun und Denken des Tyrannen zutage trat, sowie er die Zeit für gekommen hielt, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Mit erschreckender Deutlichkeit fiel hier am Tyrannenhofe gerade das ins Auge, was Plato bei dem Aufbau seines Staatsideals nur ungenügend gewürdigt hatte: die furchtbare Versuchung, welche bei der Schwäche der menschlichen Natur in dem Besitz einer unbeschränkten Gewalt liegt. – Hatte damals der Gedanke, daß nur mit Hilfe einer solchen Gewalt das ersehnte Ideal zu verwirklichen sei, jede andere Erwägung siegreich zurückdrängt, so mußte sich jetzt unter dem Eindrucke unmittelbarster persönlicher Erfahrung die nüchterne Erwägung der Tatsache aufdrängen, daß dieselbe Gewalt, welche das Ideal schaffen kann, zugleich ihrer ganzen Stellung nach förmlich darauf angelegt erscheint, in ihrem Träger gerade die Eigenschaften zu ertöten, deren er für seine ideale Aufgabe am meisten bedürfte.

Es liest sich wie ein elegischer Rückblick auf die bekannten Geschicke Dionys des Zweiten und seines Verhältnisses zu Dion, wenn es in den »Gesetzen« heißt: »Es gibt keine sterbliche Seele, die jung und in unverantwortlicher Machtstellung stark genug wäre, die höchste Gewalt unter den Menschen zu ertragen, ohne von Unvernunft ergriffen und dadurch selbst den nächsten Freunden verhaßt zu werden, was dann die unvermeidliche Folge hat, daß der Herrscher in kurzer Zeit zugrunde gerichtet und seine ganze Macht zerstört wird.575

Vor allem sieht der greise Plato durch den Besitz der absoluten Gewalt das gefährdet, was ihm als eine der fundamentalsten Tugenden des Bürgers erscheint, nämlich die Fähigkeit, die richtige Stellung zu finden zu dem Interesse des Ganzen. Wenn es für den einzelnen an sich schon schwer genug sei, sich davon zu überzeugen, daß die Staatskunst nicht einseitig den Nutzen des Individuums, sondern das Wohl der Gesamtheit im Auge haben müsse, und daß die Verwirklichung dieses Prinzipes auch seinem eigenen Interesse am besten entspricht, so würde[164] am wenigsten der unumschränkte und unverantwortliche Herrscher sich stark genug erweisen, dieser Überzeugung zeit seines Lebens treu zu bleiben und dem allgemeinen Besten das eigene Sonderinteresse unter allen Umständen nachzustellen. Die Schwäche der Menschennatur wird ihn vielmehr nur zu leicht verführen, den Antrieben der Selbstsucht und der Begierde zu folgen, statt den Forderungen der Gerechtigkeit; immer größere Finsternis wird sich über seine Seele breiten, und so zuletzt äußerstes Unheil auf ihn selbst und den ganzen Staat sich häufen.

Die Versuchungen des Absolutismus erscheinen jetzt Plato als so überwältigende, daß dadurch sogar die Grundansicht seiner Ethik, der Glaube an die ethische Bedeutung des Wissens und die Unfreiwilligkeit der Sünde, einigermaßen ins Wanken gerät. Er macht jetzt das bedeutsame Zugeständnis, daß selbst von demjenigen, der auf dem Wege der »Kunst«, d.h. der philosophischen Ethik und Staatslehre, zur Erkenntnis des rechten Verhältnisses zwischen Individuum und Staat durchgedrungen, auf die Dauer kaum ein dieser Erkenntnis entsprechendes Verhalten zu erhoffen sei, wenn ihm eine Macht zuteil werde, die keine Schranke kennt. Die Ideale, mit denen sich sein Geist erfüllt hat (καλοὶ ἐν ψυχῇ λόγοι ἐνόντες), würden ihn nicht hindern, ihnen in allen Stücken zuwiderzuhandeln!576Das Gegenteil würde eine sittliche Größe voraussetzen, die äußerst selten, ja vielleicht nirgends zu finden sei.577 Jedenfalls wäre es als eine besondere göttliche Fügung zu betrachten, wenn einmal ein Mensch von solcher Seelenstärke geboren würde.578

So ist es nicht minder als die Unwissenheit die Willensschwäche der menschlichen Natur,579 welche die Theorie bei ihrem Kalkül in Rechnung zu stellen hat; und Plato zögert nicht, auch hier die volle Konsequenz seines Gedankenganges zu ziehen. Ist der beste Staat nur unter der Voraussetzung zu verwirklichen, daß die größte Macht sich mit (der größten) Weisheit und Besonnenheit in ein und derselben Person vereinigt,580 so erscheint jetzt für Plato angesichts der tatsächlichen Lage der Dinge der Gedanke an das Eintreten dieser Möglichkeit nahezu aussichtslos.[165] Er gibt zu, daß kein Gesetzgeber es wagen darf, der Regierung eines Staates eine so diskretionäre Gewalt anzuvertrauen, wie er sie für die Herrschaft der Intelligenz im Idealstaat gefordert hatte.581

Aber auch da, wo die furchtbare Versuchung des Allmachtsgefühles nicht in Frage kommt, urteilt er jetzt ungleich nüchterner, resignierter. Seine Hoffnungen in bezug auf das, was der Menschennatur überhaupt zugemutet werden darf, erscheinen außerordentlich herabgestimmt. Wie tief muß der greise Denker die dämonische Macht der Selbstsucht empfunden haben, »des größten den Seelen der meisten Menschen eingeborenen Übels«, wenn er schon das als einen für den menschlichen Geist schwer faßlichen Gedanken bezeichnet, daß der Staat nicht einseitig zur Förderung individueller Interessen, sondern für das Wohl der Gesamtheit da sei! Und wie schwierig vollends erscheint ihm jetzt der Versuch, den einzelnen für den ungleich weniger einleuchtenden Gedanken zu gewinnen, daß eine prästabilierte Harmonie zwischen dem wohlverstandenen Einzelinteresse und dem der Gesamtheit bestehe, daß der einzelne daher am besten für sich selbst sorge, wenn er zugleich für das allgemeine Wohl sorgt!582 Eine Überzeugung, von der doch notwendig die große Mehrzahl der Bürger lebendig ergriffen sein muß, wenn nicht die Interessenharmonie im Sinne des Idealstaates von vorneherein ein Phantom sein soll.

Kein Wunder, daß Platos Glaube an die Möglichkeit einer so vollkommenen Ausgleichung des Individual- und Sozialprinzipes, wie sie der Idealstaat verwirklichen sollte, auf das tiefste erschüttert ist. Der Staat, in dem der Glaube an die Harmonie aller wahren Interessen die denkbar innigste, selbst auf Ehe und Eigentum verzichtende Lebensgemeinschaft erzeugt, ein solcher Staat ist jetzt für ihn in der Tat zur Utopie geworden, an deren Verwirklichung wenigstens in der damaligen Welt nicht zu denken war. Nur Götter und »Göttersöhne«, meint er in den »Gesetzen«, würden die Güter-, Frauen- und Kindergemeinschaft des besten Staates vertragen können.583

Durch den Verzicht auf den Kommunismus werden nun aber auch[166] die Hoffnungen hinfällig, welche Plato auf die ethischen und sozialpolitischen Wirkungen kommunistischer Institutionen setzte. Wurde der individuelle Besitz und die Individualwirtschaft für die damalige Menschheit als unvermeidliche Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung anerkannt, so war auch die Unmöglichkeit zugestanden, eine ganze Gesellschaftsklasse von dem Getriebe der wirtschaftlichen Interessen vollkommen loszulösen und der Staatsidee eine so ideale und über den gesellschaftlichen Interessenkampf so völlig erhabene Vertretung zu schaffen, wie sie die Hüterklasse des besten Staates darstellt. Ein Verzicht, der dann Plato naturgemäß zu weiteren tiefgreifenden Konsequenzen in bezug auf die ganze Gestaltung des staatlichen Lebens führen mußte.

Erschien es – so wie die Dinge einmal lagen – als unabweisbare Notwendigkeit, die Verwaltung und Gesetzgebung des Staates in die Hände von Individuen zu legen, die durch ihr Eigentum, sei es Grund- oder Kapitalbesitz, in das wirtschaftliche Interessengetriebe verflochten waren, so trat an die politische Theorie, wenn sie nicht von vorneherein an einer wenigstens relativen Verwirklichung ihrer Ziele verzweifeln wollte, eine neue wichtige Aufgabe heran.

Sie sah sich durch die Konsequenz ihres allgemeinen Standpunktes zu der Frage gedrängt: Wie läßt sich der Spielraum, den das ökonomische Selbstinteresse im Leben der zu politischen Funktionen berufenen Volkselemente einnimmt, und damit die Gefährdung der sittlichen Ziele der staatlichen Gemeinschaft durch die ökonomische Selbstsucht auf ein möglichst geringes Maß reduzieren?

Die Antwort darauf lautet ebenso einfach wie radikal: Die Grundlage aller politischen Berechtigung muß derjenige Beruf werden, der den Menschen nach Platos Ansicht584 am wenigsten an der harmonischen Ausbildung von Leib und Seele hindert: der Landbau. Die bürgerliche Gesellschaft des relativ besten Staates kann nur eine ackerbauende sein. Nachdem es einmal als unvermeidlich anerkannt war, daß alle Bürger zugleich »Haus- und Landwirte«585 seien, so sollte der Druck der wirtschaftlichen Interessen auf den Staat wenigstens dadurch möglichst abgeschwächt werden, daß man diejenigen Gebiete, auf denen sich der wirtschaftliche Interessenkampf intensiv und extensiv am meisten geltend machte, Handel und Gewerbe, zu völliger Bedeutungslosigkeit[167] herabdrückte, ja die ganze Handel und Gewerbetreibende Klasse außerhalb der staatlichen Gemeinschaft stellte.

Der Idealstaat hatte auch die Angehörigen dieser Klasse als Bürger anzuerkennen vermocht. Dank dem strahlenden Vorbild seiner philosophischen Regenten und dank seinen gemeinwirtschaftlichen Institutionen nach Platos Ansicht zur denkbar günstigsten Einwirkung auf das Gemütsleben aller Klassen befähigt, hatte dieser Staat auch in allen Klassen diejenige Gesinnung erzeugen zu können geglaubt, welche im Interesse eines harmonischen Zusammenlebens, eines wahrhaft befriedigenden Wechselverhältnisses der Stände erforderlich schien. Er hatte keinen Beruf von der staatlichen Gemeinschaft auszuschließen gebraucht Anders lag die Sache, wenn die erzieherische Kraft jenes idealen Vernunftregimentes und entwickelter gemeinwirtschaftlicher Institutionen in Wegfall kam. War ohne sie bei den der sittlichen Versuchung am meisten ausgesetzten Elementen des Volkes auf jenen Grad von Einsicht und Selbstzucht zu rechnen, ohne den die auch jetzt noch als unentbehrlich geforderte harmonische Übereinstimmung der Bürger über die höchsten Ziele staatlichen Lebens von vorneherein unmöglich war?

Plato verneint in den »Gesetzen« diese Frage unbedingt und zieht daraus mit der ganzen rücksichtslosen Folgerichtigkeit, die ihm eigen war, den Schluß, daß die genannten Elemente aus der politischen Gemeinschaft mit den übrigen ausscheiden müßten. Die Verwirklichung des schönen Traumes von einem alle Teile des Volkes beglückenden Gemeinwesen ist in nebelhafte Ferne gerückt. In der rauhen Wirklichkeit erscheint ihm der Glückszweck des Staates nur noch für diejenigen Elemente des Volkes realisierbar, welche dazu ganz besondere Voraussetzungen mitbringen. Der Gewerbsmann und Lohnarbeiter, den im Idealstaat auch die Höchststehenden wie einen Bruder lieben und als ihren Ernährer in Ehren halten sollen, vermag nach der Ansicht der »Gesetze« diesen Voraussetzungen nicht zu entsprechen und kann daher auch nicht Bürger sein. Eine unüberschreitbare Scheidelinie, wie sie der Idealstaat – abgesehen von dem Institut der Sklaverei – nicht gekannt hatte, trennt hier auch den Freien vom Freien. Was in der Politie scharf verurteilt und als ein Symptom des Verfalles des Idealstaates bezeichnet worden war – die Herabdrückung der wirtschaftenden Klassen in ein Beisassen- und Untertanenverhältnis586 –, wird hier wenigstens für einen Teil derselben geradezu gefordert.

[168] So sehen wir aus dem stolzen Bau eines idealen Staates einen Stein nach dem andern herausgebrochen, bis das ganze Gebäude von der Hand des Meisters selbst zertrümmert am Boden liegt.

Man begreift, wenn dem Greis, der sich zu solchem Zerstörungswerk verurteilt sah, quälende Gedanken an die Nichtigkeit und Vergeblichkeit irdischen Tuns aufsteigen, wenn er sich fragt, ob die menschlichen Dinge überhaupt eines großen und ernsten Strebens wert seien,587 und von den Menschen als von »Eintagsgeschöpfen« und von »Drahtpuppen« spricht, von denen man nicht wisse, ob sie von den Göttern bloß zu deren Spielzeug oder wirklich zu einem ernsteren Zweck geschaffen worden seien.588

Doch war Plato nicht der Mann, um die mächtigen reformatorischen Impulse seines Geistes durch solche Stimmungen lähmen zu lassen. An derselben Stelle, wo er erklärt, daß die menschlichen Dinge eines eifrigen Strebens unwert seien, und daß dasselbe jedenfalls nichts Beglückendes für uns habe, erkennt er an, daß ein solches Streben gleichwohl eine Notwendigkeit sei, der wir uns nicht entziehen dürfen.589 Kühnen Mutes unternimmt er, wie er sich ausdrückt, noch eine »zweite Fahrt«, eine neue Suche nach einem besseren Staat. Auch geht er in der Resignation keineswegs soweit, daß er nun sein ursprüngliches und höchstes Staatsideal als ein für die praktische Gestaltung der Dinge bedeutungsloses Spiel der Phantasie zu den Toten geworfen hätte. Im Gegenteil! Die Glut seines reformatorischen Eifers ist so wenig erloschen, daß er sich auch jetzt noch nicht genug tun kann in der begeisterten Schilderung der Herrlichkeit und Glückseligkeit eines Gemeinwesens, in dem der einzelne nichts mehr besitzt, was ihm allein zu eigen ist, wo sogar das, was ihm die Natur zum unmittelbarsten Besitztum verliehen, durch die Einheit von Wollen und Handeln zum Gemeingut wird, wo alle Augen, Ohren und Hände nur in Gemeinschaft sehen, hören, handeln, wo alle Herzen durch ein und dasselbe zu Freud und Leid gestimmt, zu Lob und Tadel bewegt werden!590

Auch glaubt Plato, wie wir sahen, selbst jetzt noch an die Möglichkeit einer wahrhaft Wunderwirkenden Reformtätigkeit, wenn sich nur[169] der gewaltige reformatorische Genius finden würde. Und so sehr seine Hoffnung auf das Kommen eines solchen Erlösers gesunken ist, etwas absolut Undenkbares ist es ihm doch auch jetzt noch nicht. Durch eine außerordentliche »göttliche Fügung« könne es immerhin geschehen, daß einmal eine wahrhaft philosophische Herrschernatur in dieser Welt erscheine.591

Wenn er daher auch an einer früheren Stelle einmal den idealen Kommunismus des Vernunftstaates und diesen Staat selbst eine Einrichtung »für Götter und Göttersöhne« nennt, so kann er denselben damit doch nicht als ein Ideal hingestellt haben, das menschlichem Streben und menschlicher Kraft für immer entrückt ist. Denn wie könnte er sonst an jene Möglichkeit überhaupt noch gedacht haben? »Götter und Göttersöhne« kann hier nur eine sprichwörtliche Wendung sein zum Ausdruck eines Ideals persönlicher Vollkommenheit, auf dessen Verwirklichung Plato zwar bei der gegenwärtigen Beschaffenheit des Menschengeschlechtes verzichtete, das er aber damit doch nicht schlechthin für unerreichbar erklären wollte. Sagt er doch selbst von jenem idealen Kommunismus nur so viel, daß derselbe für das »jetzige« Menschengeschlecht und das »jetzt« erreichte Niveau sittlicher und geistiger Kultur zu hohe Anforderungen stellt,592 womit doch unzweideutig genug die Möglichkeit einer Erhöhung des Typus Mensch und einer Steigerung seiner Fähigkeit zur Befriedigung solcher Anforderungen immer noch offen gelassen wird. Und es findet sich in der Tat in demselben Zusammenhang eine Wendung, welche die Verwirklichung jenes Kommunismus in der Zukunft ausdrücklich als eine mögliche und denkbare Eventualität behandelt.593

Doch sei dem wie ihm wolle, Tatsache ist jedenfalls, daß Plato grundsätzlich wenigstens an dem Staatsideal der Politie bis zuletzt festgehalten hat. Er hat zwar erkannt, daß es auf unabsehbare Zeit hinaus auf Flugsand bauen hieße, wenn man unter den gegebenen Verhältnissen an die Aufführung jenes kühnen Baues denken wollte. Trotzdem ist ihm das Idealbild des Vernunftstaates allezeit der Leitstern geblieben, der allein den rechten Weg durch das Labyrinth der großen Probleme des Staates und der Gesellschaft zeigen kann. Der Idealstaat bleibt nach wie vor die regulierende Norm, das mustergültige Vorbild[170] für alle Politik. Dieses Vorbild hat jeder praktische Staatsmann fest im Auge zu behalten und soweit, als es die Unvollkommenheit der menschlichen Dinge irgend zuläßt, die Wirklichkeit nach ihm zu gestalten.594

In diesem Sinne hat Plato noch am Ende seines Lebens in den »Gesetzen« das Bild eines »zweitbesten« Staates entworfen, der zwar den Forderungen des realen Lebens mehr angepaßt ist, aber doch anderseits diese Forderungen mit den Grundgedanken der Politie möglichst auszugleichen sucht.595


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 160-171.
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