[205] Fortschritt bedeutet seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die allmähliche Vervollkommnung. Ob die Natur und das Menschengeschlecht bei ihren Veränderungen fortschreiten oder[205] nicht, ist nicht leicht zu entscheiden. Es ist dies ein Hauptproblem der Geschichtsphilosophie. Manche leugnen es, indem sie den Werdeprozeß entweder dem Kreislauf oder der Wellenlinie vergleichen und auch darauf berufen, daß alles schon einmal dagewesen sei, ja daß die Menschen heute schlechter seien als je. Dagegen läßt sich einwenden, daß zwar im allgemeinen die Naturgesetze und die Triebe, Gefühle und Bestrebungen der Menschen seit Anfang der Natur und des Menschengeschlechts dieselben sind, daß aber unleugbar in der Natur eine Vermannigfaltigung der Arten und in der Kultur, d.h. in der Beherrschung der Natur durch den Menschen, eine stetige Ausdehnung stattgefunden hat, und nicht nur das menschliche Wissen, sondern, was wichtiger ist, seine Fähigkeit zu denken, seine Art, die Dinge zu begreifen, sich gesteigert hat, seine Gefühle verfeinert, seine Ideen gereift und seine Triebe veredelt worden sind, endlich daß die Glückseligkeit der Menschen extensiv und intensiv gewachsen ist. Heutzutage befinden sich mehr Individuen in einem menschenwürdigen Dasein als früher, und ihre Ansprüche an das Leben sind höher. So wird man von einem Fortschritt in Natur und Geschichte, wenn auch nicht im transscendenten Sinne reden dürfen. – Hiernach scheint ein gewisser Fortschritt der Natur und Menschheit, der freilich nicht in gerader Linie erfolgt ist, denn mit den Fortschritten sind auch Rückschritte verbunden, wirklich stattgefunden zu haben. Siehe Entwicklung. Vgl. J. G. v. Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit 1784-1791 und Briefe zur Beförderung der Humanität 1793. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart 1904, S. 192. H. Rickert, Geschichtsphilosophie 1902.