Irrtum

[295] Irrtum heißt ein falscher Gedanke, der für wahr gehalten wird. Veranlaßt wird er stets durch einen Schein des Wahren (species veri), der das Subjekt täuscht. Mit der Aufhebung der Täuschung schwindet auch der Irrtum. Denn wenn ein Mensch etwas für falsch erkennt, hält er es nicht mehr für wahr, mag er es auch aus Eigennutz, Furcht oder Bosheit noch dafür ausgeben. Jener Schein aber kann entweder scientifische oder moralische Ursachen haben: mangelhafte oder schlecht geschulte Urteilskraft, Vorurteile, Leidenschaften oder Mangel an Aufmerksamkeit sind seine Quellen. Bezieht er sich auf die logische Form des Urteils, so heißt er formell, geht er auf den Inhalt, so heißt er materiell. Jener widerspricht den Gesetzen des Denkens, dieser dem Tatbestände. Logisch falsch ist z.B. der Satz: »Die Substanz verändert sich«, sachlich falsch: »Die Sonne bewegt sich um die Erde«. Formelle Irrtümer lassen sich aus den logischen Gesetzen des Geistes, materielle dagegen nur durch das Studium der betreffenden Wissenschaften erkennen und widerlegen.

Alle Irrtümer sind also Sache des Verstandes (nicht der Sinne), des Gefühls oder des Willens; denn sie entspringen stets[295] aus einem falschen Schlüsse. Übereilung in der Annahme und Trägheit in der Prüfung veranlassen sie leicht und oft; daher die zahlreichen Sinnestäuschungen (s. d.), die Verwechslungen von Einbildungen und Räsonnements mit sinnlicher Anschauung, die Parteilichkeit und Leichtgläubigkeit in historischen Dingen, die Verwechslung der Erkenntnisquellen, die häufigen Paralogismen (Fehlschlüsse) und Sophismen (Trugschlüsse).

Zur Vermeidung des Irrtums führt vor allem ruhig-klare Gemütsstimmung, ernstes Nachdenken, Befreiung von Vorurteilen, Aufmerksamkeit, Konsequenz im Denken und Kritik fremder Ansichten. Vgl. Widerlegung, Kritik.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 295-296.
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