Mutation

[377] Mutation (lat. mutatio = Veränderung) nennt de Vries (geb. 1848) die sprunghafte Entwicklung von Arten aus Arten ohne Übergangsformen. Er sieht darin im Gegensatz zu Darwin die normale Entwicklung. Seit Darwin (1809-1882) galt bisher die Ansicht, daß neue Arten nur ganz allmählich durch Häufung zahlreicher kleiner Abweichungen von den bestehenden Arten, welche in erster Linie durch die Umgebung der Individuen bedingt werden, entstehen. Auf Grund zahlreicher, umfassender und jahrelanger Züchtungsversuche mit Oenothera Lamarckiana (Nachtkerze) hat nun aber de Vries um 1900 die heute allgemein gültige Ansicht ausgesprochen, daß die Darwinsche Ansicht von der alleinigen Erstehung der Arten aus allmählicher Variation falsch sei, daß vielmehr neue Arten aus einer bestehenden auch ganz plötzlich entstehen und zwar aus Gründen, die noch nicht erkannt sind, die aber nicht in der Umgebung, sondern im Innern der Pflanze[377] liegen. Für diese sprunghafte Entstehung der Arten hat er den Namen Mutation gewählt. Arten, die jahrelang völlig unverändert Nachkommen erzeugt haben, zeugen plötzlich Nachkommen mit völlig verschiedenen sie zu neuen Arten stempelnden Merkmalen; und zwar erzeugt ein und dieselbe Art nicht nur eine, sondern zahlreiche neue Arten, von denen jedoch nur wenige, die der Umgebung am besten angepaßt sind, neue Individuen zu erzeugen vermögen. Von diesen neu erzeugten fortpflanzungsfähigen Arten bleibt der größere Teil längere oder kürzere Zeit konstant, geht dann aber ein, während der kleinere Teil nach einer gewissen Zeit der Konstanz abermals in eine neue Mutationsperiode eintritt und demnach neue Arten erzeugt. Mit dem Nachweise, daß eine Mutation stattfindet, ist selbstverständlich nicht der Nachweis beseitigt, daß daneben allmähliche Änderungen stattfinden, und das Wort Jean Pauls: »Die physische Natur macht viele kleinere Schritte, um einen Sprung zu tun, und fängt dann wieder von vorne an; das Gesetz der Stetigkeit wird ewig vom Gesetze des Ab- und Aufsprungs beseelt«, klingt fast wie eine Vorahnung des wahren Naturverhältnisses (Jean Paul, Levana § 124). Für die Vorgänge der Mutation will neuerdings Jaekel den Namen Metakinese anwenden, indem er nicht nur Abänderungen, bei denen ein physiologischer Nutzen nicht vorhanden ist, sondern auch wesentliche, die Korrelation der Teile stark beeinflussende und daher physiologisch sehr wichtige Umformungen ins Auge faßt.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 377-378.
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