Occasionalismus

[404] Occasionalismus (franz. occasionalisme = Lehre von den Gelegenheitsursachen v. lat. occasio = Gelegenheit) heißt die Richtung der Philosophie, welche die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper und den Einfluß der Seele auf den Leib und umgekehrt leugnete und die Übereinstimmung beider in jedem einzelnen Falle auf ein vermittelndes Drittes, Gott, zurückführte. Sie bildete sich[404] in der Schule des Descartes (1596-1650) heraus. Während vorher die Theorie des natürlichen Einflusses (influxus physicus) von Körper und Geist, Leib und Seele aufeinander geherrscht hatte, stellte Descartes die dualistische Lehre von der substantiellen Verschiedenheit von Körper (Ausdehnung) und Geist (Denken) auf, die, konsequent durchgeführt, jede gegenseitige Einwirkung beider ausschließt. Clauberg, Louis de la Forge und Cordemoy lehrten dann, daß die scheinbare Wechselwirkung zwischen Körper und Geist auf Gott als die wirkliche Ursache zurückzuführen sei. Am entschiedensten vertrat diese Lehre Arn. Geulincx (1624-1669). Er behauptete, Gott rufe bei Gelegenheit des leiblichen Vorganges in der Seele die entsprechende Vorstellung hervor und bei Gelegenheit des Wollens bewege Gott den Leib. Nicht der Körper sei also Ursache für die bewußte Empfindung im Geiste, nicht der Wille sei unmittelbare Ursache der Bewegung, sondern das eine sei nur Gelegenheit für Gott (causa occasionalis), das andere hervorzubringen. Geulincx stützte sich dabei auf den Satz quod nescis, quomodo fiat, id non facis. Wir wissen nicht, wie unser Wille den Leib, unsere Sinnesreizung die Empfindung in Bewegung setzt. Also ist Leibesbewegung und Sinnesempfindung nicht unser Werk. Abgeschwächt ist das Problem bei Nic. Malebranche (1638-1716), welcher alles Tun überhaupt Gott zuschrieb. Gott hat zwei Grundideen, Denken und Ausdehnung, nach denen er alle Dinge geschaffen hat. Von den Körpern, hat er nur die Ideen in sich, die Geister aber hat er nicht nur als Ideen, sondern als Geister selbst in sich. Denn Gott, ist der »Ort der Geister«, die deshalb sich selbst und die Körper erkennen. In beiden, in der Körper- und Geisterwelt, geschieht alles von Gott. Bei Spinoza (1632-1677) schwächte sich das Problem noch weiter ab. Indem er nur Gott die Existenz: zuschrieb, Ansdehnung und Denken aber zu Attributen Gottes herabsetzte, war nur noch die Idee des vollkommenen Parallelismus (s. d.) beider Attribute nötig, um die Übereinstimmung zwischen Seelen- und Körpervorgängen zu erklären. Die Abweichung Malebranches und Spinozas voneinander liegt also, wie Malebranche hervorgehoben hat, nur darin, daß bei ihm selbst das Universum in Gott, bei Spinoza Gott im Universum zu suchen ist. Noch weiter sinkt die philosophische Bedeutung des Problems bei Leibniz (1646-1716), der an Stelle des Occasionalismus die Lehre von der prästabilierten [405] Harmonie setzte. Unter Verwerfung des physischen Einflusses (»die Monaden haben keine Fenster«) leugnete auch er, daß Leib und Seele Wirkungen aufeinander ausüben; um aber nicht ein Wunder ohne Ende anzunehmen, stellte er die Hypothese auf, Körper und Seele folgten spontan den ihnen von Anfang anerschaffenen Gesetzen und stünden, kraft göttlicher Prästabilierung, dabei in steter Harmonie, wie zwei kunstvoll regulierte Uhren. Jede Monade ist mit Rücksicht auf alle anderen geschaffen. Die Seele hat also in demselben Momente eine schmerzhafte Empfindung, wo der Körper geschlagen wird: der Arm streckt sich gemäß den Gesetzen des leiblichen Mechanismus in dem Augenblicke aus, wo in der Seele ein bestimmtes Begehren auftaucht. Erst mit dem Kritizismus Kants (1724-1804), der die Erkennbarkeit des Dinges an sich leugnete, verschwindet das Problem, das den Occasionalismus hervorgerufen hat, und mit ihm der Occasionalismus selbst, aus der Philosophie gänzlich. Vgl. Dualismus, Harmonie, Monade.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 404-406.
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