[556] Seelensitz. Beim Entstehen der ersten Vorstellungen vom Wesen der Seele dachte man sich dieselbe analog dem äußeren Leibe als etwas Substantielles und identifizierte sie mit irgend einem Kennzeichen des Lebens, mit dem Blute, dem Atem, der Lebenswärme usw. Man sah sich dann zur Annahme eines Prinzips der Empfindung und Bewegung veranlaßt, welchem man die Rolle zuwies, die Eindrücke der Außenwelt und die Einwirkungen auf dieselbe zu vermitteln. So erhob man sich allmählich zu dem Gedanken eines Trägers der Vorstellungen, Gefühle und Begierden. Diese Gesichtspunkte, welche sich in den Anfängen psychologischer Betrachtung ergaben, wurden miteinander verbunden. Die Kontinuität des Ichbewußtseins forderte die Einheit und Einfachheit des Trägers aller Bewußtseinsvorgänge. Die Seele wurde daher irgendwo (im Leibe) gesucht, wenn sie auch selbst unräumlich gedacht wurde. So entstand die Frage nach dem Sitze der Seele.
So lange man unter Seele nur die Lebenskraft verstand, suchte man ihren Sitz im Blute. Eine zweite Stufe der Betrachtung verlegte ihn in die Brust, eine dritte in das Haupt. Zuerst[556] dachten sich die Ägypter das Gehirn als Seelensitz; ihnen folgten die Pythagoreer wie Alkmaion und Hippokrates. Platon (427-347) lokalisiert die Seele dreifach: den Nous (logistikon) verlegt er in den Kopf, den Mut (thymos) in die Brust und die Begier (epithymêtikon) in den Unterleib. Aristoteles (384-322) verwirft die lokale Scheidung der Seelenteile bei Platon, macht die Seele zum Mikrokosmos und nimmt für den Menschen außer dem threptikon (dem Ernährungsvermögen) das aisthêtikon (Empfindungsvermögen), orektikon (Begehrungsvermögen) und kinêetikon kata topon (Bewegungsvermögen) und vor allem den nous (dianoêtikon, Verstand, denkende Seele an. die ernährende und empfindende Seele versetzt er ins Herz, das Zentrum des Leibes. Die Stoiker und Epikureer verlegten den vernünftigen Teil der Seele in das Herz, lehrten aber die Verbreitung der Seele durch den ganzen Leib. Erst Herophilos (um 280 v. Chr.) und Galenus (131-200) nahmen wieder das Hirn als Sitz wenigstens für die denkende Seele an. Die Neuplatoniker lehrten, die Seele, sei ganz im ganzen Leibe und ganz in jedem Teile desselben. Cartesius (1596-1650) verlegte ihren Sitz in die Zirbeldrüse (glande pinéale, glandula); ihm folgend, nahm Bonnet (1720-1793) den Balken, Digby die Scheidewand, Haller (1708-1777) die Varolische Brücke, Boerhave (1668-1738) das verlängerte Mark, Platner (1744-1818) die Vierhügel, Sömmering (1755-1830) das Wasser des Gehirns als Sitz der Seele an. Kant (1724-1804) verwarf das Suchen nach einem Sitz der Seele überhaupt. Die Identitätsphilosophie sprach sich für ihre allgemeine Verbreitung durch den ganzen Leib aus, jedoch mit dem Gehirn als vorzüglichem Organ. Die Hegelianer behaupteten, die Seele sei kein Ding, also sinnlicher Bestimmungen unfähig. Herbart (1776-1841) empfahl die Idee einer Verschiebbarkeit ihres Sitzes im Gehirn. Schopenhauer (1788-1860) erblickte im Gehirn die Objektivation des Intellekts, im Gesamtorganismus und besonders im Blute diejenige des Willens. Fechner (1801-1887) endlich meinte, im weiteren Sinne sei der Organismus der Sitz der Seele, im engeren (des Bewußtseins) ein Teil des Nervensystems, der mit dem Sinken der Organisationsstufe im Tierreiche zunehme. Die moderne Psychologie verknüpft mit Recht alles Seelenleben beim Menschen und Tiere mit dem Nervensystem.[557]