[613] Synthesis (gr. synthesis) oder Synthese, eigentlich Zusammenstellung, Verknüpfung, Verbindung, ist das Gegenteil von Analysis (s. d.). Die Synthesis besteht in der unwillkürlichen oder willkürlichen Verknüpfung, die bei der Auffassung und Verarbeitung der sinnlichen Erscheinungen und unserer eigenen Seelenvorgänge stattfindet, wenn wir die Empfindungen zur Einheit der Anschauung und die Mannigfaltigkeit der einzelnen Merkmale zur Einheit des Begriffs verbinden. Darum hat Kant das Ich die transscendentale synthetische Einheit der Apperzeption (s. d.) genannt; denn in ihm verschmelzen sich alle Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen des einzelnen Menschen zur Bewußtseinseinheit. Das Maß der Aktivität bei den einzelnen Synthesen (ob Assoziation oder Apperzeption) zu bestimmen, ist Aufgabe der Psychologie. Eine Synthesis findet bei der Wahrnehmung,[613] bei der Reproduktion, bei der Betätigung des Gedächtnisses und der Phantasie statt. Am meisten entwickelt sie sich aber beim wissenschaftlichen Denken, d.h. bei der Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. – Eine synthetische Erklärung ist dann möglich, wenn die Merkmale vor dem Begriffe, zu welchem sie verknüpft werden, bekannt sind und die Art ihrer Verknüpfung unzweifelhaft ist. Hier wird also der Begriff durch das zusammenfassende, konstruktive Denken (z.B. in der Mathematik) erst geschaffen, während die fertig und verbunden gegebenen empirischen Begriffe nur der analytischen Verdeutlichung, d.h. der Zerlegung in ihre Merkmale, unterliegen. – Ein Urteil heißt synthetisch, wenn sein Prädikat nicht schon, wie beim analytischen, im Subjekt liegt. So ist (nach Kant) z.B. ein analytisches Urteil: »Alle Körper sind schwer«, ein synthetisches: »Jede Veränderung hat eine Ursache.« Analytische Urteile erläutern, synthetische erweitern unsere Erkenntnis. Hängt das synthetische Urteil von der Erfahrung ab, so ist es ein synthetisches a posteriori; geht es aus der Vernunft hervor, so ist es ein synthetisches a priori. Kant knüpft seine gesamte Vernunftkritik an die Frage an: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« – Die synthetische Schlußreihe entwickelt, von Prinzipien fortschreitend, Folgerungen, während die analytische rückwärts von den Folgerungen zu den letzten Gründen emporsteigt. Jenes nennt man auch die synthetische (progressive), dieses die analytische (regressive) Methode (s. d.). Jene geht vom Prinzip aus, diese vom Einzelfall; jene empfiehlt sich mehr bei einfacheren, diese bei komplizierteren Phänomenen; jene wird besonders von der Mathematik und der spekulativen Philosophie, diese von der Naturwissenschaft angewandt.
Eine besondere Bedeutung hat die Synthesis noch innerhalb der Methode bei den absoluten Idealisten (Fichte u. Hegel): Hier ist Synthesis die Vermittlung des Gegensatzes von Thesis und Antithesis, durch welche sich das Denken zu höheren Begriffen fortentwickelt.