Tiefsinn

[635] Tiefsinn heißt das Vermögen des Geistes, in die Tiefe zu gehen, d.h. das innere Wesen der Dinge, ihre verborgenen Gründe und Gesetze zu erforschen. Der Tiefsinnige begnügt sich nicht mit dem, was auf der Oberfläche liegt, sondern ihn zieht das Entfernte, Dunkle und Verborgene an. Ohne Tiefsinn ist keine wissenschaftliche Forschung möglich, am wenigsten die philosophische. Das Alter ist meist tiefsinniger als die Jugend, welche dafür oft witziger ist. Es scheiden sich überhaupt Witz, Scharfsinn und Tiefsinn voneinander. »Der witzige Kopf erfindet, der scharfsinnige entdeckt, der tiefsinnige erforscht; der erste kombiniert, der zweite zergliedert, der dritte begründet. Witz blendet, Scharfsinn klärt auf, Tiefsinn erleuchtet; Witz überredet, Scharfsinn belehrt, Tiefsinn überzeugt.« (Dirksen, d. Lehre von den Köpfen. 1833, S. 136.) Berühmt wegen ihres Tiefsinnes sind Platon, Spinoza und Kant gewesen. – Bisweilen artet der Tiefsinn in Grübelei und Melancholie aus (daher tiefsinnig gleich melancholisch, gemütskrank); bisweilen ist er auch nur affektiert, nm den Mangel an Gedanken zu verdecken. Denn manche wähnen für tiefsinnig zu gelten, wenn sie recht unklar sprechen oder schreiben. On le croit profond, parce qu'il est mystérieux. Aber gerade der wahre Tiefsinn ist, weil er die Gründe der Dinge erforscht hat, klar und verständlich. Vgl. Scharfsinn, Witz.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 635.
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