Selbstkenntnis.

[61] Es ist eine gar gute, nützliche und heilsame Sache, sich selbst und seine Untugenden zu kennen und zu empfinden. Darum auch gar schon die Heiden gesagt haben: lerne dich selbst kennen, und es jedem Menschen zur Regel gemacht. Und ich will diese Regel gar nicht verachten, denn sie wirket Buße, Reue und Besserung. Erkenntnis der Sünde muß ja da sein so die Sünde selbst von uns weichen soll. So nimm denn, wenn ich dir brüderlich rathen soll, fleißig die Gebote deines Gottes vor dir, und gehe sie nach der Ordnung durch, und siehe zu, welche du gehalten, und wie lange du sie gehalten, welche du nicht gehalten, und ob du Lust und Willen in dir fühlest, sie fortan zu halten. Bedenke recht, welchen Zorn und Ungnade Gottes du auf dich hättest, wenn du dich noch in Ungehorsam und Widerspenstigkeit befindest, und bisher noch nicht alles gethan hast, was Gottes Wille ist. Diese Kenntnis deiner selbst ist dir so sehr von nöthen, als das liebe Brod, das du issest. Und du könntest dir wohl[62] des Tages eine Stunde müßigen, in dein Kämmerlein gehen, und dich prüfen, wie du mit deinem stehest, ob du an Jesum wahrhaftig glaubest, ihm folgest und dich auf ihn ganz und gar verlässest. Du wirst darnach eine wahre Freude und Seeligkeit haben, so du Glauben und Vertrauen in dir findest. Und, so du es nicht findest, wirst du dich betrüben, es dem lieben Gott abbitten, und für die Zukunft es besser machen.

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[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 61-63.
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