[84] Die Köchin spricht zum Koch:
»Fang mir das Mäuslein doch!
Es ist nichts sicher in Küch' und Keller,
Weder in der Schüssel, noch auf dem Teller.
Wo was liegt,
[84]
Da frißt es;
Wo was riecht,
Da ist es!
Wo ein Braten dampft,
Kommt das Mäuslein und mampft.
In den Küchenbehälter
Hat es gebissen ein Loch.
Komm, sang mir das Mäuslein doch,
Und jag es wieder auf die Felder,
Oder in die Wälder!«
Da macht der Koch ein Gesicht
Und spricht:
»Mäuslein, Mäuslein,
Bleib in deinem Häuslein!
Nimm dich in acht
Heut' nacht!
Mach' auch kein Geräusch,
Und stiehl nicht mehr das Fleisch,
Sonst wirst du gefangen
Und aufgehangen!«
Der Koch aber bedeckt die Schüsseln alle
Und stellt auf die Falle,
Hinten im Eck
Und thut hinein den Speck;
Sperrt die Küche zu,
Geht, und legt sich zur Ruh.
[85]
Das Mäuslein aber ist ruhig,
Und spricht: »Was er sagt, thu' ich.«
Aber es hat nicht lang gedauert,
So kommt schon das Mäuslein und lauert,
Und spricht: »Wie riecht der Speck so gut!
Wer weiß, ob's was thut?
Nur ein wenig möcht' ich beißen;
Nur ein wenig möcht' ich speisen.
Einmal
Ist keinmal!«
So spricht sein Mäuslein, und schleicht,
Bis es die Falle erreicht;
Duckt sich
Und buckt sich;
Ringelt das Schwänzlein
Wie ein Kränzlein,
Setzt sich
Ins Eck
Und ergötzt sich
Am Speck.
Reißt,
Beißt
Und speist.
Patsch! thut's einen Knall,
Und – zu ist die Fall'.
Das Mäuslein zittert vor Schrecken
Und möcht' sich verstecken.[86]
Aber wo es will hinaus,
Ist zugesperrt das Haus.
Es pfeift
Und zappelt,
Es kneift und krabbelt.
Ueberall ist ein Gitter,
Und das ist bitter.
Ueberall ist ein Draht,
Und das ist schad'.
Leider, leider
Kann's Mäuschen nicht weiter;
Wär's nur gewesen gescheiter!
Unterdessen wird es Morgen,
Da kommt die Köchin und will besorgen
Den Kaffee
Und den Thee.
Da sieht sie, was vorgegangen,
Und wie das Mäuslein ist gefangen.
Ganz sacht
Schleicht sie hin und lacht:
»Haben wir endlich erhascht
Das Mäuslein, das immer genascht?
Siehst du: einmal
Ist nicht keinmal.
Wärst du geblieben in deinem Loch,
Gefangen hätte dich nicht der Koch!«
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro