[69] Auch von den Tieren
Kannst du lernen, o Kind,
Welche Eigenschaften dich zieren,
Und welche häßlich sind.
Ameisen, winzig, gar nicht kräftig,
Sind doch jahraus jahrein geschäftig,
Arbeiten fleißig den ganzen Tag,
Keine von ihnen faullenzen mag.
[69]
Ein emsig Volk sind auch die Bienen,
Schaffen aus Blütenstaub Honig und Wachs
Sind in der Arbeit niemals lax;
Lasset sie euch zum Vorbild dienen.
Chamäleons Farbe, wie kurios!
Jetzt ist es rot, dann gelb, dann grau,
Dann grün, und wieder himmelblau;
So Menschen, die charakterlos.
[70] Der Dachs, im Gegensatz zum Schwein,
Hält seinen Bau vom Schmutze rein,
Auf Sauberkeit hält er peinlich.
Auch ihr seid immer reinlich!
Der Esel ist dumm, eigensinnig, störrisch,
Darum bekommt er oftmals Prügel.[71]
Das kluge Pferd dagegen willig
Läßt sich lenken mit dem Zügel.
Der Fuchs ein schlauer Patron
Von gar listigem Wesen.
Listig und schlau darfst du sein,
Zum Guten, nicht zum Bösen.
[72] Ein Mädchen in Samt und Seide
Und strahlend im Juwelenglanz:
Ist es unwissend und albern,
Sagt man doch: die dumme Gans.
Die kleinen Fischlein frißt der Hecht,
Der gefräßige, räuberische,
Ihn fressen wieder die großen Fische,
Und das geschieht dem Räuber recht.
Der Igel hat ein stachlig Fell.
Ihm gleicht ein Flegel, ein grober Gesell.[73]
Ihr aber sollet höflich sein,
Gegen jedermann, so groß als klein.
J.
Johanniskäferchen im Dunkeln
Leuchten und flimmern und schimmern und funkeln,
Tragen am Leibe eine Laterne,
Erscheinen wie lebendige Sterne.
Niedliches Kätzlein, schnurriges Ding,
Wie kann es vertraulich schmeicheln!
Doch tückisch und falsch manch Kätzlein kratzt.
Der Mensch aber soll nicht heucheln.
[74] Ihr Morgenlied die Lerche singt
So froh aus reiner Kehle;
So auch das Wort, der Sang erklingt
Aus reiner Menschenseele.
Diebisch und naschhaft ist die Maus.
Drum fängt man sie in Fallen,[75]
Oder die Katze mit ihren Krallen
Packt und verspeist sie als leckeren Schmaus.
Die Nachtigall mit ihren schönen
Liedern und Tönen
Entzückt, begeistert jedermann,
Und hat nur ein schlichtes Röcklein an.
Den Dummen neck und reize nicht,
Leicht mag er sich erbosen;[76]
Ein dummes Tier der Ochse ist
Und kann doch tüchtig stoßen.
Seht, wie der Pfau einher stolziert,
So eitel auf sein prächtiges Kleid.
Ein schmuckes Kleid gar wohl gefällt,
Doch lächerlich ist Eitelkeit.
[77]
Quack, quack so tönt es aus dem Sumpf,
Es kann der Frosch nicht singen.
Dem, der im Sumpf des Lasters weilt,
Wird Schönes nicht gelingen.
Ein diebischer Vogel ist der Rabe,
Nach glänzenden Dingen sehr begehrlich.
Nicht lüstern seid nach unrechter Habe,
Seid immer gewissenhaft, redlich und ehrlich.
[78] Die Schwalbe kehrt aus weiter Ferne
Ins alte Nest zurück so gerne.
Ob fern im fremden Land ihr seid,
Der Heimat wahrt Anhänglichkeit.
Anmutig, zierlich ist die Taube,
Der Sanftmut und des Friedens Bild.
Klug wie die Schlangen, sprach der He and,
Doch wie die Tauben, arglos, mild.
[79] Der Uhu scheut das Licht,
Ihm ist es wohl in Finsternissen.
Dem Uhu gleichet nicht,
Strebt nach dem Licht, dem Wissen.
Die Viper beißt mit giftigem Zahn
Auch den, der ihr nichts Böses gethan;[80]
Auch der Verleumder spritzt sein Gift
Auf Schuldlose in Wort oder Schrift.
Der Wolf ein unersättlich Tier,
Unmäßig ist des Räubers Gier.
So wer in schnöder Habsucht Bann
Nie Geld genug bekommen kann.
[81] Nun, Kinder, müsset ihr verzichten:
Ich kann euch hier kein Verslein dichten,
Für beide schuf uns Gott kein Tier;
Frau Adelfels kann nichts dafür.
Ein muntres Völkchen sind die Ziegen,
Springen und Klettern ist ihr Vergnügen.
Wie Kinder. Doch zügle dich, mein Kind,
Weil Kinder keine Ziegen sind.
[82]
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro