[98] Daß uns nun, lieber Wilhelm, in Deine Verhältnisse mit Andern näher eingehen. Diese mögen künftig seyn, welche sie wollen, so wirst Du überhaupt immer drey Klassen von Menschen vor Dir haben und mit ihnen umgehen, mit Höhern, mit Deines Gleichen und mit Niedern. Erstere sind Deine Obern und Vorgesetzten und Personen von höhern Ständen, die jenen gleich sind, ferner Deine Aeltern und diejenigen Verwandten, die diesen gleich sind; die zweyten sind Personen von Deinem Stande und solche, die diesen gleich sind, ob sie gleich in Absicht ihres Amtes oder Titels einige oder mehrere Stufen höher oder tiefer stehen, als Du, denn hier kommt auf die scharfe Hofrangordnung [98] nichts an; die letztern sind Deine Untergebenen und Personen, die deren Stande gleich sind.
Du wirst leicht einsehen, daß diese verschiedenen Verhältnisse verschiedene Formen Deiner Höflichkeit erfordern.
Gegen Höhere kann Dein Betragen nie anders als ehrerbietig seyn. Diese Ehrerbietung aber, welche aus der Meinung von den Vorzügen und Vollkommenheiten des Höhern und unserer Abhängigkeit von ihm entspringt, muß, wenn sie verbindlich seyn soll, aus dem Herzen kommen und freywillig, und daher mit einer besondern dankbaren Ergebenheit und Anhänglichkeit gegen die Person des Höhern, als bloßen Menschen begleitet seyn. Verbinde mit derselben ein offenes, furchtloses, freymüthiges, doch von aller dreisten Anmaßung und Zudringlichkeit entferntes Zutrauen zu seinem Wohlwollen und beweise ihm mit einer beständigen natürlichen Fassung und Besonnenheit, daß Du von diesem Wohlwollen nie Misbrauch machen und Dir nie etwas erlauben werdest, was jene Ehrerbietung verletzen könnte: so hast Du das wahre höfliche [99] Betragen gegen einen Höhern und kannst sicher auf seine Zufriedenheit rechnen. Gesetzt aber, der Höhere hätte die Vorzüge, die Tugenden, Kenntnisse, Talente, den persönlichen Werth nicht, um dir wahre Gesinnungen von Ehrerbietung abzunöthigen, so mußt Du doch äußerlich ein ehrerbietiges Betragen gegen ihn annehmen, als eine eingeführte und hergebrachte Formalität. Ich habe Dir schon in einem meiner ersten Briefe gesagt, daß diese Formalität keine Falschheit, kein Betrug ist. Aber dann würde sie es seyn, wenn Du die großen Kenntnisse, den Geschmack, die ausnehmenden Tugenden eines unwissenden, geschmacklosen und lasterhaften Höhern geflissentlich loben und erheben wolltest.
Durch jenes niedrige kriechende und sklavische Benehmen gegen Höhere gewinnt man nie; sie verachten es, weil sie es entweder für Nothwendigkeit halten, oder für eine Wirkung unlauterer Nebenabsichten, was es denn auch immer ist. Denn Kriecherey zeugt jedesmal von einem schlechten, falschen Charakter. Wer gegen Höhere kriecht, ist immer gegen seines Gleichen grob, anmaßend und beleidigend, und gegen Niedere stolz und tyrannisch.
[100] Von der andern Seite aber hüte Dich um so mehr, jenes ehrerbietige Betragen im geringsten zu vernachlässigen, je mehr die Höhern sich gegen Dich herablassen. Es ist ein sehr gewöhnlicher Fehler der Untergebenen, welche wenn sie sehen, daß ihre Obern sie mit Güte, Freundlichkeit, mit Vertraulichkeit behandeln, sich sehr leicht gegen sie vergessen, sich Ihnen gleich setzen sich mit ihnen gemein machen, scherzen, witzeln etc. und sie, zu ihrem großen Misvergnügen, nöthigen, sich gegen sie zurückzuziehen. Vernünftige Obere verlangen keinen sklavischen Zwang: dieß würde einen lästigen, unangenehmen Umgang mit ihren Subalternen machen; aber dieser Umgang kann auch auf keine Weise bestehen und für beyde Theile angenehm seyn, wenn letztere aus den Schranken der Ehrerbietung heraustreten wollen.
Einen andern sehr gewöhnlichen Fehler würdest Du begehen, wenn Du dasjenige, was ein Höherer, aus besonderer Achtung gegen Dich und um Dich etwa auszuzeichnen, wünscht und verlangt, mit einer übel verstandnen Höflichkeit verweigern und Umstände machen wolltest, es zu thun oder anzunehmen. Wenn Du, zum Beyspiel, [101] bey ihm speisest, und er Dir ein besonderes Stück für Dich vorlegt, und Du wolltest es nicht annehmen, etwa gar mit den Worten: ich willes Ihnen nicht rauben, oder Du wolltest es Deinem Nachbar anbieten; oder wenn Du bey ihm bist, und er verlangt, daß Du dieses oder jenes eingeführte Ceremoniell weglassen, beym Ausgehen voran gehen, beym Ausfahren, zuerst in seinen Wagen steigen sollst: so würden die Umstände, die Du machst, Deine Verweigerungen, entweder ein Vorwurf für ihn seyn, daß er nicht wisse, was die Lebensart von ihm fordert, oder in jedem Falle ihn zu Deines Gleichen machen, weil man nur mit diesen solche Umstände macht. Die wahre Höflichkeit gebietet in solchen Fällen, geradezu zu gehorchen; der Höhere kennt seinen Rang, er weiß was er thue, er würde Dir es nicht anbieten, wenn er nicht wirklich wollte, daß Du es annehmen solltest. Höchstens kannst Du in solchen Fällen eine kleine, augenblickliche, scheinbare Weigerung blicken lassen, um blos zu zeigen, daß Du immer Deinen Abstand vom Höhern fühlest und erkennest.
Gegen Deines Gleichen beobachte einen mit Achtung begleiteten freundschaftlichen [102] Ton, ohne Dir dabey etwas zu vergeben. Achtung sind wir einem Jeden schuldig und dürfen sie in unserm Betragen, auch gegen unsere Freunde, Geschwister, Ehegatten, keinen Augenblick aus den Augen setzen; ohne sie werden diese Verbindungen lästig und eine Quelle von Gleichgültigkeit, Verdruß und oft Feindschaft, statt daß sie wahre Zufriedenheit und Vergnügen gewähren sollen. Wenn Du nun mit diesem achtungsvollen Betragen einen freundschaftlichen Ton verbindest, das heißt einen Ton, wodurch Du Deines Gleichen zu erkennen gibst, daß Du nicht nur ihn Deiner freundschaftlichen Gesinnungen für würdig hältst, sondern ihn auch zu solchen Gesinnungen gegen Dich aufforderst, und hierbey zeigst, daß Du selbst Achtung verdienst und Dir nichts hierin vergeben willst, so ist dieß das wahre höfliche Betragen gegen Deines Gleichen.
Niedere behandle mit einem Tone der Güte, der theilnehmenden, wohlwollenden Vertraulichkeit, das ist, mit Nachlassung des willkührlichen Ceremoniells, ohne sie aus den Schranken der Ehrerbietung gegen Dich zu setzen und ihnen eine Gleichmachung [103] zu erlauben. Ein stolzer, harter, kalte Ton, ein finsteres, mürrisches, zurückstoßendes Wesen, eine verächtliche, erniedrigende, wegwerfende Begegnung, dieß zeugt weder von der Achtung, die wir einem jeden Menschen, einem jeden Stande, noch von dem dankbaren Wohlwollen, das wir unsern Untergebenen für ihre Dienste schuldig sind, noch von der Güte, mit der wir an ihrem minder günstigen Schicksale Theil nehmen sollen. Es ist nichts leichter, als den rechten Ton gegen Niedere und Untergebene zu beobachten, um sich eben so viel Liebe und Zuneigung von ihnen zu erwerben, als sie in gehöriger Ehrfurcht gegen uns zu erhalten. Zeige von der einen Seite nur Gefälligkeit, Theilnehmung, Diensteifer gegen sie, und zugleich Zutrauen zu ihren guten Gesinnungen und ihrer Anhänglichkeit gegen Dich, von der andern aber, eine unveränderliche Strenge in Deinen Grundsätzen und Befehlen, und gib hierbey nie selbst Blößen und erlaube Dir nie etwas unwürdiges, tadelnswürdiges gegen sie, so wirst Du nie Ursache haben, mit ihrem Betragen unzufrieden zu seyn; sie werden wahre Ehrerbietung gegen Dich haben, und nicht jene kalte, bloß äußere, die man nicht [104] der Person, sondern dem Titel, der Gewalt, dem Orden, dem Kleide bezeiget.
Die Zeiten sind vorüber, wo so manche ungebildete Personen glauben durften, sich gegen Niedere und Untergebene alles erlauben zu können, in der stolzen Meinung, daß diese nur ihrentwegen, ihres Nutzens und Vergnügens wegen da seyen; man weiß, daß der Tagelöhner, der Handwerker, der Bauer, ihre Rechte haben, und für das Beste des Staats eben so unentbehrlich sind, als die Höhern und daß sie, wenn sie redliche Menschen und nützliche Mitglieder sind, nie Verachtung, nie eine herabwürdigende Behandlung, sondern ihren Theil Achtung verdienen und erhalten müssen. Und in der That erhalten sie diese Achtung, diese gütige, höfliche Behandlung von allen Personen der höhern und höchsten Stände, welche wahre gute Erziehung und Bildung haben, so wie nur Personen von roher Gedenkungsart, oft nicht weit über ihre Untergebenen erhaben, und besonders Personen, die wie Pilze aus dem Schlamme in die Höhe geschossen sind, sich jenes herabwürdigende Betragen, das jederzeit verächtlich ist, Abneigung und Haß erzeugt, [105] oder doch das Recht einer mindern, vernachlässigten Höflichkeit, die noch dazu den Anstrich einer demüthigenden, gnädigen Herablassung hat, zu erlauben pflegen. Ich habe es immer gefunden, daß je höher eine wohlerzogene Person ist, desto höflicher ist sie auch gemeiniglich gegen Niedere. Wie ganz anders behandelt eine solche Person von hohem Stande ihre Untergebenen, und wie ganz anders Viele, die weit unter so einer Person sind, die Ihrigen! –
[106] ** den 14. Sept. 1802.
Buchempfehlung
Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.
62 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro