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Die Uhr auf dem kleinen Turme des Stadtparks zu Nürnberg schlug eben die vierte Nachmittagsstunde. Im gleichen Moment begann die Kapelle des 14. Infanterieregiments mit einem flotten Marsch [176] ihr Nachmittagskonzert. Innerhalb des Restaurationsplatzes herrschte das bunteste Treiben; eine auserlesene Gesellschaft aus den Repräsentantenkreisen der Stadt hatte sich hier zusammengefunden, um für Geist und Gemüt, den Leib natürlich nicht zu vergessen, neue Anregung zu finden. Prachtvolle Damentoiletten fesselten das Auge der reichen Müßiggänger und entfachten, indem sie das Äußere ihrer Besitzerinnen vorteilhaft den Blicken darboten, die Leidenschaften der Abenteuer suchenden Don Juans. Jugendlust, ja Übermut, wohl auch Koketterie sprühte von den Lippen und machte sich an den Geberden sichtbar, alles schien in rosigster Laune, keine Not schien zu existieren.
Außerhalb des Restaurationsgartens befindet sich der eigentliche Stadtpark zur freien Benützung des allgemeinen Publikums. Freiwillige und unfreiwillige Müßiggänger, Kranke und Rekonvaleszenten, Frauen mit irgend einer Handarbeit, Kindermädchen mit ihren Pflegebefohlenen etc. sind die Frequentanten dieses von der Stadt geschaffenen und erhaltenen, kunstvoll gärtnerisch veranlagten Parkes mit seinen jahrhundertealten Bäumen.
Es ist ein schroffer Gegensatz zwischen der Geldaristokratie innerhalb und dem Publikum außerhalb des Restaurationsgartens. Man darf sich aber durchaus nicht sorgengebeugte Gestalten mit kummervollen Gesichtszügen vorstellen; so schlimm ist es lange nicht. Einzelnen hat die Sorge wohl ihren Stempel aufgedrückt, und mit solchen wollen wir uns hier beschäftigen.
Karl L., ein Schlossergehilfe aus M., einem benachbarten Orte Nürnbergs, arbeitete bis vor sechs Wochen in der Schuckert'schen Fabrik. Eine eingetretene Krise veranlaßte eine Geschäftsstockung, und die Folge war: Entlassung von Arbeitern.
Vierhundert Mann mußten ausgestellt werden, darunter war auch der achtzehnjährige Karl L. Unermüdlich war er tätig, eine neue Arbeitsstelle ausfindig zu machen, vergebens. Seine wenigen Ersparnisse waren aufgezehrt, und jetzt stand er seit zwei Tagen voll ständig mittel- und obdachlos auf der Straße. Die warme Jahreszeit machte ihm den Aufenthalt auch zur Nachtzeit im Freien möglich; aber der Magen verlangte nach Sättigung, nach Nahrung. Kleider, Wäsche und Uhr waren schon zum Pfandleiher gewandert, nichts mehr war vorhanden, was ein Mittel zur Weiterfristung bot. Heute hatte es Karl mit »Betteln« versucht. Aber schon nach einigen Versuchen gab er dieses Vorhaben auf; denn unwirsch abgewiesen zu werden unter dem Hinweis auf die Jugend und die Jahreszeit, das beleidigte, das schmerzte ihn. Ratlos war er dahingeirrt, bis ihn endlich die allgemeine[177] Strömung mit in den Stadtpark hineinzog. Da saß er nun auf einer Bank am Rande des Teiches; an sein Ohr schlugen die herrlichen Töne der Militärmusik, sein Auge weidete sich an dem kunstvoll angelegten Blumenteppich und an dem Schwanenspiel im Wasser, aber nichts machte Eindruck auf sein Gemüt, denn in seinen Eingeweiden brannte das Feuer des Hungers. Welche Gedanken mochten den Unglücklichen beseelen? Vielleicht dachte er an seine Jugend, an seine verstorbenen Eltern und malte sich aus, wie es wohl sein könnte, wenn seine Eltern noch lebten. Plötzlich wird er aus seinen Träumen aufgerissen, eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt. Er blickte auf und sah in das Gesicht eines Mädchens. Es war ein Kindermädchen, wie ihre Kleidung und der Wagen mit seinen zwei kleinen Insassen verriet. »Wie kommt es, Karl, daß ich dich Dienstag nachmittag, wo andere Leute bei der Arbeit sind, hier im Stadtpark finde? Bist du krank gewesen?« Der Angeredete war durch das unerwartete Ansprechen ganz außer Fassung geraten; erst jetzt, da er in der Fragenden seine Schulfreundin Frieda St. erkannte, löste sich der Bann, und er erzählte seine Erlebnisse ohne Umschweife und schloß mit den Worten: »Frieda, das hätte ich nicht geglaubt, daß ich noch einmal vor fremder Leute Türe mein Brot betteln, daß ich im Freien nächtigen müßte. Sollte ich deswegen einen ordentlichen Beruf gelernt haben, um wie ein Hund auf der Straße zugrunde zu gehen? Sollte ich ...« »Aber Karl,« sagte Frieda, ganz ängstlich geworden, durch das Ungestüm des sonst so ruhigen Mannes, »aber Karl, was sind das für Worte? Seit ich dich das letzte Mal gesehen, es sind jetzt zwei Jahre, an deiner Mutter Grab, hast du dich arg verändert. Wie warst du früher so freundlich und gut, und jetzt, diese häßlichen Worte. Das macht die Fabrik.« Karl wollte aufbrausen und schimpfte über die dummen Frauenzimmer, er schimpfte auf Gott und die Welt, aber an der überlegten Frieda prallte alles ab. Das Mädchen, ebenfalls durch den frühen Tod der Eltern alleinstehend, hatte schon manche für ihr Alter so ernste Erfahrung gesammelt und hatte darum einen so praktischen Sinn für alles.
So ließ sie auch Karl austoben, und nachdem dies geschehen, sprach sie ihm Mut zu und streckte ihm einige Mark vor. Mit dem Versprechen, sich am anderen Tag wieder hier zu treffen, wenn Karl bis dahin nicht Arbeit gefunden, schieden sie.
Karl brannte das Geld in der Hand; von einem Mädchen Geld annehmen, das dünkte ihm eine Schande. Aber das Verlangen in ihm nach Sättigung besiegte alle aufsteigenden Gedanken, und er [178] wandte sich dem Restaurant »Löbleinsgarten« zu, seinen inneren Menschen zu befriedigen. Kaum hatte er dort Platz genommen, da näherte sich ihm ein ungefähr im gleichen Alter stehender Bursche. Ohne weitere Einleitung sagte er zu Karl, daß er dessen Leidensgeschichte mitangehört habe, daß er in gleicher Lage sich befinde und daß er hoffe, gemeinsam strebend sicher ein Ziel zu erreichen. Karl, dem das Mitleid eines in gleicher Lage sich befindlichen Fachkollegen wohltat und der nun seinerseits an dem Geschick des unglücklichen Gefährten regen Anteil nahm, ergriff die Gelegenheit dankbar. Ein Wort gab das andere, und die beiden Arbeitslosen schlossen ein Freundschaftsbündnis. Sie ließen sich eine Speise vorsetzen, bei der es mehr auf Quantität als auf Qualität ankam, tranken einige Glas Bier und brachen auf. Der neue Freund Karls war aber nicht, wie er angab, ein Schlosser, sondern ein verkommenes, gemeines Individuum, das als Zuhälter sein Wesen trieb, dessen Dirne aber wegen Überschreitung der Unzuchtsbefugnis eine sechswöchentliche Haftstrafe im Gefängnis verbüßte. Infolgedessen war seine Einnahmequelle versiegt und er suchte sich, da er ein geschworener Feind jeglicher Arbeit war, durch Betrug zu unterhalten, bis seine »Nährmutter« wieder auf freiem Fuß sei. Ohne Arg vertraute sich ihm Karl an. Es war acht Uhr geworden. In Karl erwachte das Bedürfnis, wieder einmal in einem ordentlichen Bette zu schlafen, und er teilte dem Freunde mit, daß er sich nach Ruhe sehne. Auch dieser war sofort mit einverstanden, daß man sich für die Nacht ein geeignetes Lager suchen solle. Da er kein Geld besaß, wollte Karl für ihn bezahlen; davon aber wollte Fritz Schlecht, wie er hieß, nichts wissen. Er redete Karl ein, daß es eine große Notwendigkeit sei, mit den paar Pfennigen zu sparen und daß die Jahreszeit zu verlockend sei, im Freien zu kampieren. Karl gab dem Wunsche des Verführers nach und begab sich mit ihm in das Wäldchen am Forsthofer Schießhaus, das Fritz empfahl. Dieses Wäldchen ist eine Anpflanzung junger Fichten- und Föhrenbäumchen in der Höhe eines großen Mannes. Die Dichtigkeit machte ein Durchblicken von der Straße aus unmöglich, Wege führten nicht hindurch; es war ein schützendes Heim, von der Natur geboten.
Die beiden jungen Männer forschten und spähten nach allen Richtungen, ob kein unberufenes Auge sie beobachte, dann ein Sprung über den Chausseegraben und verschwunden waren sie. Sie mochten etwa hundertfünfzig Schritte vorwärts gedrungen sein, als sich dem erstaunten Karl ein eigentümliches Schauspiel darbot. Hier saßen und lagen ein halbes Dutzend Burschen und ebensoviel Mädchen [179] auf ausgebreiteten Decken, gebildet von auseinandergetrennten Hopfensäcken. Etliche Stücke Leinwand und noch zusammengerollte Decken, sowie ein Haufe zusammengetragener Waldstreu deuteten darauf hin, daß hier eine regelrechte Herberge sei. Die Mädchen hatten sich ihrer Oberkleider entledigt, wahrscheinlich aus schonenden Gründen, und bildeten mit ihrem schmutzigen Untergewande ein würdiges Pendant zu den ebenfalls nicht sehr reinlich aussehenden Burschen. Die beiden Neuhinzugekommenen wurden freudig begrüßt. Schlecht war ja dieser Gesellschaft ein alter Bekannter, und man dachte, daß Karl eine »Wurze«, das heißt ein dummer Kerl, welcher Geld besitzt, sei. Nach einigen erklärenden Worten des Schlecht aber, daß sein Freund nicht einer sei, der Geld habe zur Zeit, hinter dem Rücken aber nickte er mit dem Kopfe bedeutungsvoll, hieß man Karl auch so willkommen, bot ihm von den vorhandenen Speisen und Flaschenbier an, und ehe er sich's versah, befand er sich an der Seite eines der Mädchen. Bier hatte Karl schon einige Wochen nicht getrunken, und so ließ er sich's hier wieder gut schmecken; aber sein durch Entbehrung geschwächter Magen konnte nicht so viel vertragen, und der Alkohol wirkte mächtig. Obschon halbbetrunken, ekelten ihn doch die Liebkosungen der Dirnen an. Ihre offen zur Schau getragenen üppigen Reize übten gar keine Anziehungskraft auf ihn aus, er hatte kein Verlangen nach Lust, denn die Sorge um die Zukunft lastete zu schwer auf ihm. Mit der Zeit aber, und mit der zunehmenden Trunkenheit unterlag seine moralische Festigkeit, er nahm teil an der allgemeinen Orgie und schlief schließlich ermattet im Schoße seiner Nachbarin ein. In welche Gesellschaft war Karl geraten? Es war lauter arbeitsscheues Gesindel, das sich vom Stehlen und der körperlichen Preisgabe der Mädchen nährte. Sie hatten in der vorhergehenden Nacht einen Raubzug veranstaltet, dessen Resultat eine reiche Beute Eßwaren gewesen, und dies war auch der Grund, warum sie sich heute schon so früh zusammengefunden. Dieser Waldplatz hier war der ständige Wohnort dieser Menschen. Im Wirtshaus oder privat durften sie nicht wohnen, weil die Polizei ihnen sonst auf die Spur gekommen wäre. Nun sollte man aber denken, daß diese flüchtigen Menschen von einem Zuwachs nicht sehr erbaut sein sollten; aber gefehlt. Bringt der Neuhinzutretende nicht gleich Geld mit, so weiß er wenigstens, wo solches zu »holen«, und das ist gleichviel. Außerdem hatte Sch. mit Karl L. anders kalkuliert. Sch. rechnete so: hat L. in der Frieda St. jemand gefunden, der ihn unterstützte, so hat auch er, Sch., wenn er jetzt eine teilnehmende Rolle spielt, etwas daran. Mittel und Wege finden sich schon, aus dem Mädchen ziemlich [180] viel herauszupressen, und ist diese Quelle erschöpft, so ist vielleicht bei ihrer Herrschaft ein kleiner Einbruch zu machen. Karl L. hatte natürlich keine Gedanken davon, was diese Gesellschaft mit ihm vorhatte, ja, in welcher gefährlichen Umgebung er sich befand. Als er am andern Morgen erwachte, machte er gleich den anderen Schlafgenossen Toilette, indem der nahegelegene Dutzendteich als Waschbecken benutzt wurde. Dann nahmen sie das gemeinschaftliche Frühstück, bestehend in den Speiseresten von gestern, ein und zerstreuten sich, nachdem sie noch die Decken in Gruben und unter Spreu wohl verwahrt hatten. Sch. und L. gingen zur Stadt, fragten bei einigen Schlossermeistern um Arbeit und als ihre Mühe, glücklicherweise, für Sch. ohne Erfolg blieb, setzten sie sich in eine Anlage zu beraten. Alle Beredtsamkeit bot nun Sch. auf, Karl zu bestimmen, er solle sich von Frieda St. fünfzig Mark geben lassen, dann wollten sie Südfrüchte kaufen und diese verhausieren. Karl hatte in der Nacht von seinen Schlafgenossen ähnliches gehört und er freute sich, durch einen redlichen Erwerb sein Leben fortfristen zu können. In den herrlichsten Farben malte Sch. ihm den Handel aus, und Karl ging auf den Vorschlag ein, nur wollte er sich vergewissern, ob dieses Tun auch gestattet, ja überhaupt möglich sei. Auch hier wußte Sch. Rat. Man ging zu einem Südfrüchtehändler, und Sch. trug diesem das gemeinsame Anliegen vor. Der Händler gab mit jener Bereitwilligkeit Auskunft, die einem etwas besseren Beobachter, als der naive Karl war, aufgefallen sein würde. Aber Karl in seiner Redlichkeit hegte gegen keinen Menschen Mißtrauen. Es wurde verabredet, daß man am nächsten Tage kommen wolle, wenn das nötige Geld vorhanden sei, und man trennte sich von dem Geschäftsinhaber. Fritz Sch. geleitete nun den arglosen Karl in das Gasthaus »zu den fünf goldenen Türmen«, um, wie er sagte, einen Liter auf das gute Gelingen des neuen Planes zu trinken. Im Wirtslokale befand sich eine bunte Gesellschaft, darunter auch die nächtlichen Gesellen Karls. Burschen und Mädchen, deren Äußeres verriet, daß sie gleichen Kalibers wie die oben geschilderten waren, saßen um die Tische. Etwas aber fiel Karl sofort auf. Denn, während in anderen Gasthäusern die Gäste angewiesen sind, sich wenigstens Getränke vorsetzen zu lassen, war es anders hier. Ganze Tische voll Leute saßen da, ohne etwas zu genießen, spielten Karten oder sangen. Hie und da wurde ein Liter bestellt; diesen brachte der Kellner und ließ sich sofort bezahlen, kannte er doch als selbst aus diesen Kreisen hervorgegangen seine Kundschaft zu genau. War der Krug leer, so wurde er weggenommen, manchmal verhinderten es die Gäste dadurch, daß sie ihn mit [181] Wasser füllten. Warum duldete der Wirt solche Gäste? Es war Berechnung des schlauen Gastgebers. Jetzt war zwar noch kein Geld vorhanden, denn die Mädchen konnten bei Tage nicht ins, »Geschäft« gehen, aber abends, wenn »verdient« war, dann begann ein Zechen, das den Verlust der Tageseinnahme vollständig aufwog. Geborgt wurde zwar nichts, aber Unterschlupf für den Tag fanden diese seltsamen Menschen doch hier. Karl wurde auch hier freundlich aufgenommen, es wurde auf seinen Namen sofort Bier bestellt und ihm zugetrunken. Wahrscheinlich würde man ihm den letzten Pfennig abgejagt haben, wenn nicht Sch., allerdings aus egoistischen Gründen, sich dazwischen gedrängt hätte. – Am Nachmittag finden wir Karl wieder am bezeichneten Platz im Stadtpark. Auch Frieda hatte sich mit den Kindern eingefunden, und Karl unterbreitete ihr seinen Plan. Er verschwieg wohlweislich seine Erlebnisse seit gestern, Sch. hatte ihm dies geraten, und erzählte nur das, was günstig auf die Gewährung seiner Bitte wirken konnte. Frieda St., froh daß Karl wieder neuen Mut gefaßt hatte, fand zwar fünfzig Mark etwas hoch, aber als Karl mit großer Wärme für den Erfolg seines Vorhabens eintrat, versprach sie ihm das Geld zu geben. Sie hatte, wie viele Dienstboten, das Geld auf der Sparkasse und mußte es erst holen. Karl erbot sich, dies zu besorgen und Frieda willigte ein. Sie fuhren mit den Kindern nach der Wohnung von Friedas Herrschaft, Frieda holte das Sparkassenbuch, und Karl ging zur Kasse. Sch. der sich immer in der Nähe hielt, folgte ihm und war schon bei dem Laufertore an seiner Seite. Sie betrachteten zusammen das glückverheißende Büchlein, es waren sechshundert Mark darinnen verzeichnet. Sch. war durch diese Summe geblendet, und er sann darauf, wie er in den Besitz des Geldes gelangen könnte. Hievon aber wollte Karl nichts wissen. Auf der Sparkasse wurden ihm die fünfzig Mark ausgehändigt, mehr konnte er nicht erheben. Jetzt aber, wo Karl das langentbehrte Geld in den Händen fühlte, und die Stimme des Verführers Sch. ihm immerfort in die Ohren tönte, wurde er vom Teufel der Habgier gepackt, und er beschloß im stillen, das Sparkassenbuch zu behalten. Gegen seinen Freund jedoch sagte er, daß er das Buch wieder abliefere; Sch. schalt ihn einen Esel. Da Sch.s Bemühungen einen Erfolg nicht sehen ließen, stimmte er scheinbar dem Vorschlag Karls zu, das Buch seiner Eigentümerin wieder zuzustellen. Insgeheim hatte er aber einen anderen Plan. Er forderte Karl auf, schnell einen Liter zu bezahlen und ging mit ihm in eine sehr berüchtigte Wirtschaft gleichen Kalibers wie die obengenannte. Dort teilte Sch. einigen Dirnen geheim mit, daß Geld vorhanden, und daß Karl auch [182] im Besitz eines Sparkassenbüchleins sei. Die Dirnen nahmen Karl in die Mitte, schenkten ihm tapfer ein und ließen sich tapfer einschenken und nahmen ihm, unter Herzen und Küssen, unter Liebkosung, ohne daß er es merkte, das Büchlein aus der Tasche. Dann mahnte Sch. zum Aufbruch. Karl bezahlte die gemachte Zeche und ging mit fort. Auf der Straße redete Sch. mit großem Eifer auf ihn ein, und als sie ein Stück Weg zurückgelegt hatten, forderte er noch einmal das Büchlein zu sehen. Karl griff in die Brusttasche und erbleichte. Ohne ein Wort zu sagen, stürmte er in die verlassene Wirtschaft, zurück, aber er fand die beiden Dirnen nicht mehr vor, die, wie er sogleich richtig vermutete, ihm das Büchlein entwendet hatten. Dann eilte er zu Frieda, ihr das Schreckliche mitzuteilen. Frieda meldete es ihrer Dienstherrschaft und diese machte sofort telephonisch Anzeige bei der Polizei. Karl ging schwer bedrückt von Frieda weg, ihm tat es leid, schuld zu sein an dem bösen Vorkommnis. Das Mädchen hatte ihn zwar getröstet, daß ja nichts verloren sei, aber doch war aus ihren Worten nicht mehr jene Herzlichkeit zu fühlen. Fritz Sch. war, als Karl ihn auf der Straße gelassen, nicht diesem gefolgt, sondern hatte einen andern Weg eingeschlagen, der ihn mit den Dirnen wieder zusammenführte. Das Sparkassenbüchlein wanderte in die Hand eines Wirtes, der fünfzig Mark darauf hergab. Als aber der Wirt das Geld kündigen wollte, wurde ihm das Büchlein abgenommen und nicht mehr ausgehändigt. Da er die Überbringer desselben nicht nennen wollte, angeblich weil sie ihm unbekannt, gingen diese straffrei aus, und der Wirt mußte den Schaden allein tragen. Hätte er sie genannt, so wäre er eben auch wegen langjähriger Hehlerei ins Zuchthaus gewandert. –
In den »fünf Türmen« war nun Polen offen. Es wurde gegessen und getrunken, als ob dieser Tag der letzte des Lebens sei. Man lachte und scherzte in der ausgelassensten Weise, Sch. war Hahn im Korbe. So oft die Türe aufging und ein neuer Gast, natürlich ein Mitglied der »Lage« erschien, ertönte freudiger Zuruf, und der Ankömmling mußte an dem Gelage aktiven Anteil nehmen. Auf einmal ging die Türe auf und herein trat – Karl. Anfangs waren Sch. und die am Diebstahl beteiligten Genossinnen etwas verblüfft; aber nur wenige Minuten, dann sprang Sch. auf Karl zu und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er ihn auf der Straße stehen gelassen. Dann erzählte er, daß hier einer der Anwesenden Geburtstag feiere und lud Karl ein, teilzunehmen. Karl war einer solchen Frechheit gegenüber sprachlos. Sch. aber bearbeitete ihn, und als Karl sagte, daß diese Dirnen ihm das Büchlein gestohlen und das Geld wahrscheinlich der [183] Erlös aus demselben sei, verschwor sich Sch. hoch und teuer, dies sei alles ein Irrtum, von den Anwesenden sei es keiner gewesen. Als auch noch die anderen, die den wahren Sachverhalt nicht kannten, aber doch für das Freibier sich erkenntlich zeigen wollten, eine drohende Haltung gegen Karl annahmen, gab dieser sich endlich zufrieden und nahm Platz.
Spät in der Nacht ging es dem »Bivouak« zu. Eine gerade aus dem Korrektionshause Bayreuth entlassene Dirne hing sich mit klettenartiger Festigkeit an Karl und bat ihn, es doch mit ihr zu halten. Er brauche nichts mehr zu arbeiten, sie wolle schon für beide sorgen. Karl, der sittenstrenge Karl, unterlag der Versuchung und wurde Zuhälter. Zwar trennte er sich des Nachts von seinen bisherigen Genossen und bezog mit seiner Liebe eine eigene »Burg«, d.h. eine Wohnung; aber bei Tag war er mitten unter ihnen. Die fünfzig Mark wurden zur Anschaffung von einigen Kleidungsstücken und Wäsche verwendet, das weitere Leben aber von dem Sündengelde des Mädchens bestritten. So sank Karl, ein Kind ordentlicher Eltern, mit einer sorgfältigen Erziehung, mit der vielseitigsten Kenntnis seines lohnenden Berufes, von Stufe zu Stufe. Während er sonst sparsam jeden übrigen Groschen zurücklegte, saß er jetzt, während sein »Schatz« ins »Geschäft« ging, spielend und trinkend im Gasthause, ohne Sorge für den künftigen Tag, ohne Sorge für die Zukunft. Hatte er sich sonst geschämt, anderes als selbsterworbenes Geld anzunehmen, wartete er jetzt habgierig auf die Ankunft des Mädchens, um ihr den klingenden Lohn ihres unzüchtigen Gewerbes abzunehmen, ja er ging so weit, daß er sie nach dem letzten »Geschäftsgang« vollständig entkleiden ließ, die Nähte der einzelnen Kleidungsstücke durchsuchte, das Haar durchforschte, ob sie nichts verborgen oder zurückgehalten. Tief, tief sank Karl in dieser Umgebung; er warf alles menschliche Wesen von sich und ließ sich, dem Tiere gleich, vollständig von seinen Trieben beherrschen.
Es war vier Monate später. Frieda St. hatte ihre bisherige Herrschaft verlassen und war als Kindermädchen in der Villa St. in der Maxvorstadt neu in den Dienst getreten. Sie hatte sich wenig verändert. Ihr Lohn betrug bei Herrn Kommerzienrat St. bedeutend mehr, als bei der bisherigen Herrschaft; die Behandlung war den Verhältnissen des reichen Handelsrats würdig und angemessen. Die Villa stand beinahe am Ende der Maxvorstadt, vor der Stadtgärtnerei. Sie war von einem herrlichen Garten umrahmt, sonst einsam stehend, [184] nur mit einer Breitseite an die Baumschule der Stadtgärtnerei angrenzend. Es war abends 10 Uhr. Die Kinder waren schon seit geraumer Zeit zur Ruhe gebracht; die Herrschaften hatten Besuch und saßen beim fröhlichen Mahle im Gartensalon. Einige gemietete Musiker sorgten für den musikalischen Teil des festlichen Schmauses. Frieda hatte eine Zeitlang am Fenster gesessen und gelesen; seit einer halben Stunde aber war die Dunkelheit so stark geworden, daß sie das Buch weglegte. Schon zur Ruhe zu gehen schien ihr noch zu frühe; die herrlichen Töne, Wagnersche Musik, klangen verführerisch aus dem Salon, und so beschloß das Mädchen, noch etwas in den Garten zu gehen. In der Gartenlaube machte sie es sich bequem und lauschte entzückt den Vorträgen im Salon; sie konnte jedes Wort hören und man sah es ihr an, daß sie sich mitfreute, wenn ein Gast mit beredten Worten ihre so gütige und angesehene Dienstherrschaft pries.
Auf einmal aber wurde ihre Aufmerksamkeit von den Vorgängen im Salon abgelenkt. Auf der Straße, die von der Stadt her- und an den Privathäusern der Nachbarschaft vorbeiführte, war es ungemein lebendig geworden. Im schnellsten Laufe jagten Menschen vorüber, Drohungen und Verwünschungen ausstoßend. Frieda lugte aus der Laube und sah im nächtlichen Dunkel schattenhafte Gestalten hin- und herhuschen, von denen sie einzelne ganz genau als bewaffnet unterscheiden konnte. Und wirklich, sie hatte recht; es waren Schutzleute. Eben gingen zwei so nahe an ihrer Laube vorbei, daß sie dieselben nicht nur genau sehen, sondern auch, was sie sprachen, hören konnte. Aus den Worten der Schutzleute entnahm sie, daß diese einen Verbrecher, der ihnen entwischt war, wieder einzufangen versuchten. Sie hörte, wie die Männer des Gesetzes die Vermutung aussprachen, daß der Verbrecher sehr wahrscheinlich die Umzäunung der Stadtgärtnerei übersprungen habe, um durch dieselbe nach Schoppershof zu freies Feld zu gewinnen. Da beide Männer die gleiche Ansicht hatten, setzten sie sich sofort nach der bezeichneten Richtung in Bewegung, um dem Flüchtling vielleicht doch den Weg abzuschneiden. Kaum hatten die Schutzleute sich entfernt, tauchte in der nächsten Nähe der Laube ein Mann auf und ging im herrschaftlichen Garten mit eiligen Schritten auf dieselbe zu. Das sonst so tapfere Mädchen erschrak bis ins innerste Herz, und bis sie soviel Fassung erlangte, um nach Hilfe zu rufen, hatte sie auch der Flüchtling bemerkt.
»Fräulein, oder wer Sie auch sind, schonen Sie mich, rufen Sie nicht,« sprach er mit gedämpfter Stimme, aber doch so laut, daß er [185] verstanden werden mußte. Dabei trat er so nahe an das Mädchen, daß dieses schon vor Furcht jeden Ausruf unterließ. Auge in Auge standen sich jetzt die beiden Menschen gegenüber, hier das Verbrechen, dort die Unschuld. Da erkannte Frieda in dem vor ihr stehenden Mann – Karl L., denselben, der auch sie so schwer betrogen und ihre Hilfe und ihr Vertrauen so schnöde gedankt und mißbraucht hatte. Aber auch L., hatte das Mädchen erkannt, und der Kampf, welcher sich in seinem Angesichte abspielte, legte Zeugnis ab von den Höllenqualen seines Gewissens. Er hätte am liebsten in die Erde sinken mögen, doch diese tat sich nicht auf. Den Rückzug getraute er sich aus Furcht, in die Hände seiner Häscher zu fallen, nicht anzutreten, und so blieb er denn wortlos und zitternd stehen. Wieder war es Frieda, welche zuerst den Bann brach. Sie nahm Karl bei der Hand und zog ihn zu sich auf die Bank in der Laube. Dann verlangte sie einen genauen Bericht über die Vorkommnisse dieses Abends und versprach, ihm nur dann Schonung angedeihen zu lassen, wenn er aufrichtig sei. Karl beichtete von dem Tage an, wo er Frieda um das Geld betrogen hatte. Er erzählte, wie er als Beschützer lasterhafter Dirnen dahinlebte, wie er von Tag zu Tag nicht wußte, wo er wohne und von was er lebe. Nun seien seine Mädchen alle in Haft und er habe, von der äußersten Not getrieben, stehlen wollen. In einem Hause der Maxfeldstraße wußte er bei zwei einzelnen Damen Geld; dieses wollte er sich heute Nacht aneignen. Eben hatte er die Türe des Vorplatzes geöffnet, als einige Herren von einem Abendspaziergang zurückkehrten und ihn überraschten. Er war entflohen, die Verfolger, denen sich die Patrouille der Schutzleute anschloß, dicht hinter seinen Fersen. Schon hatten ihn die Kräfte verlassen wollen, als er sich mit der letzten Kraftaufbietung über den Gartenzaun schwang und so seinen Häschern entging. Frieda hörte diesen Bericht ruhig an, dann erfaßte sie so viel Abscheu vor ihrem Schulkameraden, daß sie nicht wußte, was sie tun solle. Aber doch überwog das weibliche Mitgefühl den Abscheu und statt Verachtung ließ sie dem Armen noch einmal Hilfe zu teil werden. Sie gab ihm eine Mark mit der Weisung, in einem anständigen Gasthaus zu übernachten und sich morgen früh wieder hier einzufinden. Mit Dankesworten und Dankestränen schied Karl von Frieda. In seinem Herzen war ein Sturm losgebrochen, der ihn erbeben machte.
Alle seine Taten glitten an seinem geistigen Auge vorüber, und er gelobte mit heiligem Ernste in der Stille der Nacht ein neues Leben zu beginnen. Mit dem ernsten Vorsatz, ein andrer Mensch zu werden, ging er zur Ruhe und erwachte am nächsten Morgen mit [186] von schönen Hoffnungen geschwelltem Herzen. Frieda hatte auch ihr Kämmerlein aufgesucht, aber nicht ruhig schlief sie ein, sondern unter Weinen zermarterte sie ihr Gehirn die halbe Nacht, wie dem Unglücklichen zu helfen sei. Geld, das war ihr klar, durfte man ihm nicht geben. Aber was sonst? Inbrünstiger wie je betete sie ihr Nachtgebet, Gott ganz besonders um Erleuchtung in dieser schwierigen Lage anflehend. Dann siegte der Schlaf und sie schlummerte einem bedeutungsvollen Morgen entgegen.
Am nächsten Tage, als die Frau Kommerzienrat St. in der Kinderstube erschien, um sich nach ihren Lieblingen umzusehen und beim Baden anwesend zu sein, fielen ihr sofort die rotgeweinten Augen Friedas auf. Frau St. war noch eine Frau, der das Geschick ihrer Dienerschaft so stark am Herzen lag, als das Wohl der eigenen Familie. Auch die Dienerschaft wußte das Vertrauen der Herrschaft zu würdigen, und so verging nur eine kurze Zeit, bis die Kommerzienrätin alle Einzelheiten wußte. Auf die Versicherung des goldherzigen Kindermädchens hin, daß Karl L. noch gerettet werden könne, beschloß sie tatkräftig einzugreifen und ihren Gemahl in Kenntnis zu setzen. Dem Entschluß folgte die Tat auf dem Fuße. Der Kommerzienrat, ein Mann mit positiven Grundsätzen, zog die Stirne bei den Mitteilungen und Zumutungen seiner Gemahlin in Falten; aber doch willfahrte er ihrem Wunsch, den jungen Mann wenigstens einmal persönlich zu sehen und zu hören. –
Um zehn Uhr kam Karl an die Villa und ging vor derselben unschlüssig auf und ab, wußte er ja nicht, ob ihm der Zutritt gestattet. Die Köchin des Hauses bemerkte ihn und fragte Frieda, ob vielleicht dies der Erwartete sei. Frieda rief Karl herein und teilte ihm mit kurzen Worten mit, daß sie ihrer Herrschaft alles erzählt habe. Daraufhin wollte Karl verzweiflungsvoll das Haus verlassen, aber Frieda befahl ihm zu bleiben unter dem Hinweis, daß der Kommerzienrat ihn unterstützen werde in seinem Vorhaben. Karl blieb, und Frieda meldete es ihrer Gebieterin. Karl durfte eintreten zur Frau Kommerzienrat, es wurde ihm eine Erfrischung vorgesetzt, und nach einer Viertelstunde rief ihn Herr St. zu sich. In zwar strafendem, aber doch wohlwollendem Tone hielt der Kommerzienrat dem jungen Manne sein bisheriges leichtsinniges Leben vor und malte mit den schrecklichsten Farben die Zukunft aus, wenn er nicht umkehre. Mit zuckenden Lippen beteuerte Karl seinen ernsten Vorsatz, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden und bat den menschenfreundlichen Handelsrat um seine Beihilfe. St. hatte einen geübten Blick und eine große Menschenkenntnis. Er erkannte sofort, daß die [187] rechte Hilfe hier noch etwas auszuführen vermag. Aus diesem Grunde beschloß er, L. in seinem in nächster Nähe gelegenen Sägewerk als Reparaturschlosser zu beschäftigen. Mit vor Tränen erstickten Dankesworten nahm Karl das freundliche Anerbieten an und mit beflügelten Schritten eilte er zu Frieda, ihr sein Glück, die neue Pforte zu neuem Leben, zu verkünden. Doch wie erstaunte er, als Frieda nicht auch ihrer Freude Ausdruck gab, sondern ihn mit beinahe rauhen Worten ermahnte, das Vertrauen zu rechtfertigen und seine Pflicht stets ganz und voll zu tun. Mit einem Vorschuß des Herrn Kommerzienrats in der Tasche mietete er sich nun ein Zimmer in der Nähe des Sägewerks, kaufte sich etwas notwendige Wäsche und trat Mittag seinen neuen Posten an. Frieda hatte ihn rauh entlassen, hätte er aber einige Minuten später gesehen, wie sie ihrer Herrschaft für den neuen Beweis der Güte und des Wohlwollens dankte, er würde sich glücklich gepriesen haben, einen solchen Schutzengel zu besitzen. Angestrengt arbeitete Karl in seiner neuen Stellung; überall wo etwas zerbrochen oder reparaturbedürftig gewesen, war er ungerufen zur Hand. Er machte nicht nur die vorgeschriebenen Arbeiten, sondern suchte an den Holzbearbeitungsmaschinen verschiedene Verbesserungen anzubringen. Der Kommerzienrat war voll des Lobes über den brauchbaren Arbeiter. Frieda war erfreut, wenn sie die Lobsprüche zu hören bekam, oder wenn Karl bei den gelegentlichen Besuchen feurig von seinem Streben erzählte; Karl gegenüber aber trug sie eine auffallende Kälte zur Schau. Zwar waren es immer freundliche und ermunternde Worte, welche sie zu ihm sprach, aber Karl war unzufrieden, ihm kam es vor, als wehte ein eisiger Hauch hindurch.
Eines Tages erbat sich Karl eine Unterredung mit seinem Chef. Er war jetzt neun Monate im Sägewerk tätig und hatte sich beinahe unentbehrlich gemacht. Nichts wurde unternommen, ohne daß auch er zur Beratung gezogen wurde. Die Unterredung ward gerne gewährt, und erstaunt war Frieda, als am Nachmittag Karl L. ein Zimmer in der Villa bezog. Wie wuchs aber ihr Erstaunen, als er nicht im Arbeitskittel in die Betriebswerkstätte, sondern in Feiertagskleidung ins Bureau des Kommerzienrats ging. Doch sie bekämpfte die weibliche Neugierde und wartete, bis Karl ihr diese Veränderung selbst mitteilte. Aber dieser schien für seine Umgebung keine übrige Viertelstunde mehr zu haben. In den frühesten Morgenstunden ging er in das Bureau, in später Nacht verließ er es, nur die nötigsten Essenspausen sich gönnend. Der Kommerzienrat hatte zwar einmal versucht, diese Überarbeitung zu verhindern, aber Karl bestand so fest [188] auf seinem Willen, daß er keinen Einwand mehr machte. Nicht einmal Sonntags war Karl zu sehen.
Endlich nach vier Wochen ward das Geheimnis preisgegeben, als der Kommerzienrat bekannt machte, Karl habe auf dem Gebiete der Holzbearbeitung eine ganz bedeutende Erfindung gemacht, die in den berufenen Fachkreisen das höchste Aufsehen erregt. Nun schmolz auch die vermeintliche Eisrinde um das Herz Friedas, und sie versicherte Karl unter den herzlichsten Glückwünschen zu seinem Erfolge, daß sie jetzt fest überzeugt sei, daß er nun den alten Menschen abgelegt und wieder ebenbürtig allen Menschen auf festem Boden stehe. Der Kommerzienrat bestand nun darauf, daß Karl eine Fachschule besuche und sich ausbilde.
Voll herzlicher Dankbarkeit gegen seine Wohltäter schied er und bezog das Technikum Mittweida in Sachsen. Nach zwei Jahren kehrte er mit den besten Zeugnissen zurück und trat als technischer Betriebsleiter an die Spitze des Dampfsägewerks. Unumschränkt konnte und durfte jetzt Karl schalten und walten, und wahrlich, St. hat sein Vertrauen schön belohnt gefunden. Aus dem bescheidenen Sägewerk entstand ein Betrieb mit dreihundert Arbeitern. Nun dachte auch Karl L. daran, sich einen eigenen Hausstand zu gründen. Der Prinzipal billigte den Entschluß umsomehr, als er erfuhr, wer die Erwählte sein sollte. Karl bat den Kommerzienrat, seinen Freiwerber zu machen, da er einen Korb befürchtete. Gerne kam der edle Mann dem Wunsche seines treuen Technikers nach, und die Braut, Frieda St., von der Herrschaft mit einer reichen Aussteuer bedacht, ward gewonnen.
In glücklicher, harmonischer Ehe lebten die beiden Eheleute Karl und Frieda dahin, ein Vorbild ihren Kindern, aber auch ein Vorbild ihrer Umgebung. In engste Verbindung traten der Kommerzienrat St. und sein Techniker L., indem er diesen nach einigen Jahren als Kompagnon ins Geschäft eintreten ließ. Die Firma aber errang sich einen Weltruf und heute noch hat »St. & Komp.« einen guten Klang in der Welt, der Holzbearbeitung. –[189]
1 | 10. G.K. von N., unehelich geboren 1867, prot., lediger Maschinenschlosser. Vorstrafen: 5mal Gefängnis wegen Betrugs und Diebstahls, 4mal Zuchthaus wegen Diebstahls, Urkundenfälschung und Betrugs. Tätowiert am rechten Arm (Schlange, Herz, Anker, K.G. 1888), am linken Arm (M.S., zwei schnäbelnde Tauben) und auf der Brust (eine Krone, darunter L. II. und ein Band mit der Devise: »In Treue fest!«). Sehr gute Führung. Aufmerksam und lernbegierig. Hat außer der Volksschule noch eine Fachschule besucht und sich tüchtig fortgebildet. Sehr gewandter Zeichner. Auf die Frage, warum er schon wiederholt rückfällig geworden, hat er die stereotype Antwort: »Die Weiber sind mein Unglück!« Wegen Heiratsschwindels vorbestraft. – Tuberkulös, öfters operiert. Geschwüre an den Gelenken. Rippenresektionen. Häufig im Spital, wo er sich sehr gesetzt und anständig benahm. Kein Heuchler. Willensschwach. |
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