Mein Leben.
(Nr. 7. S.P.E.1)

... Von meiner Jugend will ich nicht reden, denn sie war der glücklichsten eine, die durchlebt werden können; mein stets gerechter Vater, meine herzensgute Mutter und meine braven Geschwister, sie waren Vorbilder in des Wortes edelster Bedeutung.

Nach einer 7jährigen Schulzeit, die ich zum größten Teil in E. (II. Bürgerschule) und zum geringen Teil in S., dem Aufenthaltsorte meiner Eltern, verbrachte, kam ich in die Lehre. –

[158] In der Papier- und Galanteriewaren-Handlung von E.T. sollte ich mich zum Kaufmann ausbilden, nachdem ich für den Beruf eines Mechanikers, der mir anfangs mehr zusagte, von fachmännischer Seite als zu schwach bezeichnet wurde. – Es war eine eigentümliche Lehrzeit. Ein oft grober Prinzipal und seine launische Gattin, ein verlodderter Kommis und zwei Ladnerinnen waren meine ständige Umgebung. Ihnen mußte ich auf's Wort gehorchen – und ich tat es. Vor meinen Augen wickelten sich Dinge ab, die nicht ohne Einfluß auf mein jugendliches Gemüt bleiben konnten; ich war damals 121/2 Jahre alt. –

Der Herr Kommis benützte mich als ein Werkzeug bona fide, indem ich den Verkehr mit dem Leihhaus vermittelte, dessen Räume oft genug ein Lombard-Objekt fraglicher Herkunft aus seinen Händen empfingen; daß es unrechtmäßig erworbene Sachen waren, wurde mir später erst klar. – – Ich wollte meine Entdeckung dem Chef melden, aber eine mir nicht mehr erinnerliche Ursache begünstigte ein Hinausschieben dieser wichtigen Pflicht, und nachdem noch eine geraume Zeit verstrichen war, wollte ich, aus Furcht die Ursache eines großen Skandals werden zu können, meinem Herrn gegenüber mit der Enthüllung nicht mehr herausrücken. Unter diesen Verhältnissen lebte ich damals, und mein Schweigen im Geschäft und zu Hause machte mir berechtigte Sorgen. Doch sollte sich dies bald ändern. Ich machte nach und nach Bekanntschaft mit gleichaltrigen und älteren Lehrlingen, ich wollte angesehen sein, eine gewisse Rolle spielen, und um dies herbeiführen zu können, erinnerte ich mich unseres Kommis, mit anderen Worten, ich trat in seine Fußtapfen – – ich fing an unehrlich zu werden. Anfänglich waren es nur Kleinigkeiten, die ich entwendete, dann wurde es schlimmer. Es währte nicht allzulange. – Eines Abends, ich hatte einen von den vielen Vorwänden gebraucht, die jungen Leuten zu Gebote stehen, um von zu Hause fortzukommen, als ich nach einem Streifzug durch den Dammgarten gegen 11 Uhr die elterliche Wohnung wieder betrat. Vater nahm mich wegen des langen Ausbleibens in ein scharfes Verhör und ich begab mich darauf zu Bett. Aber was war das! Als ich mich meiner Kleider entledigen wollte, fielen verschiedene Geldstücke zu Boden. Schnell waren meine Geschwister um mich versammelt, meine Mutter kam in voller Hast in unser Zimmer und sah noch, wie ich mich bemühte, das Geld aufzuheben. »Wo hast Du das viele Geld her?« rief sie beinahe außer sich und mein Vater, der durch die Seitentüre den Auftritt mit anhörte, kam im nächsten Augenblick herein, erkannte die Situation und nahm mich mit in sein Zimmer. [159] Unter seinem Blicke mußte ich Farbe bekennen und ihm sagen, daß ich durch Veräußerung entwendeter Geschäftsgegenstände zu diesem Gelde gekommen. Es folgten dann Schläge, wohlverdiente Schläge, deren Schmerzen mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Am anderen Tag ging es dann zum letztenmal ins Geschäft. Mein Vater hielt es so für richtig. Ich war der Hoffnung, ein Kaufmann zu werden, beraubt. – »Sieh' zu, wo Du Arbeit bekommst«, das waren jeweils die letzten Worte seiner nun alltäglich sich wiederholenden Strafpredigt. Wenn ich mich heute frage, durch welche Ursachen ich zu diesen verhängnisvollen Gelüsten in meiner Lehrzeit gekommen bin, so muß ich wohl sagen, daß es zuvörderst eine »schlimme Freundschaft« war, die mich auf diesen Weg brachte, andererseits finde ich die Erklärung darin, daß ich – einmal angefangen – zumeist nicht imstande war, meiner Leidenschaft Halt zu gebieten und wegen dieses Mangels an moralischer Willensstärke, an sittlicher Energie häufig einer strafwürdigen Äußerung der erregten Lust verfallen bin.

Für meine armen Eltern und Geschwister war diese Zeit eine Zeit der Erniedrigung und Schmach; manche Mutterträne sah ich fließen, ob des unheilvollen Anfangs meiner Laufbahn. – Eine Beschäftigung zu finden war unter den obwaltenden Umständen (obwohl die Sache nicht bekannt war) wirklich keine leichte Sache. Vergebens waren alle meine Versuche, und ich sehe mich nun in Begleitung meines Vaters nach L. fahren, wo ich beim Bezirkskommando als Unteroffizier-Schüler für die Anstalt E. (Baden) eingeschrieben werden sollte. Aber auch dies sollte nicht gelingen; es fehlten mir nämlich 1,5 cm an dem Mindestmaß für eintretende Zöglinge. Jetzt war mein Vater kurz angebunden, und schon auf dem Rückwege gab er mir zu verstehen, daß ich nun keinerlei Hoffnung mehr zu haben brauche; jede, auch die geringste Arbeit zu bekommen, bedeute noch ein Glück für mich. Ja, er hatte Recht – und doch auch wieder Unrecht. – Es war nämlich kein Glück, was ich in meiner folgenden Stellung fand. Die Bürstenfabrik von C. & R. in S. nahm mich als jugendlichen Fabrikarbeiter auf. – Neugierige Leute frugen mich nach dem »Warum« meines Berufswechsels, andere verhöhnten und verspotteten den früheren »Tintenbub« und »papiernen Taglöhner«, die meisten von ihnen machten direkte und indirekte Anspielungen auf die Ursache meiner Erniedrigung. Daß mir unter solchen Leuten bezw. bei derartigen Chikanen der Mut oft sank, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen. Doch ich wollte tapfer sein, ich ließ mir zu Hause nichts merken. Während von einigen Arbeitern die verschiedenartigsten Lügen über mich verbreitet wurden, während das blinde Vorurteil [160] (beinahe Haß zu nennen) tagtäglich größere Dimensionen annahm, ging in meinem Innern ein unbeschreiblicher Kampf vor, ich war nahe daran, meinem Leben selbst ein Ende zu machen. – Doch, ich war hierzu zu feig; nicht sozu etwas anderem. Ich versuchte mir das Schweigen meiner Mitarbeiter zu erkaufen; ich traktierte sie mit Bier. Das kostete Geld, und als ich am Ende der Woche meinen Eltern den geschmälerten Arbeitslohn einhändigte, war ich vor die Alternative gestellt, die Wahrheit über den Verbleib des Mankos zu berichten oder zur Lüge zu greifen. Leider wählte ich letzteren Ausweg und mit einem ernsten Verweis diesmal davongekommen, traten sofort die Sorgen um das Kommende in Aktion.

Man wußte in meiner Umgebung, daß mein Vater als Werkführer einer Schuhfabrik fungierte und hielt bei mir Anfrage, ob es nicht angängig sei, die Produkte dieser Fabrik durch die Vermittlung meines Vaters zu erniedrigten Preisen zu erhalten. Jetzt kam mir ein ganz verwerflicher Gedanke, der zum Urquell aller späteren Leiden wurde. Wohl setzte mich die Ausführung desselben momentan in den Stand, mir einerseits die Gunst meiner Arbeitskollegen zu erhalten, auf der anderen Seite war mir auch der Frieden mit den Eltern gesichert – aber mein eigener Gewissensfrieden ging dabei verloren. – – 3 Monate und 4 Wochen Gefängnis (S.u.S.) waren das Resultat meines schändlichen Unternehmens; ich versuchte nämlich bei drei Schuhwarenhändlern unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Ware zur Auswahl zu bekommen, was mir auch in einem Falle gelang. In Z. hatte ich Zeit die Schwere meiner Schuld einzusehen; ich hatte Gelegenheit mit mir selbst zu Rate zu gehen. Und ich tat es. Nach verbüßter Strafe machte ich mich auf den Heimweg. –

Nie in meinem Leben vergesse ich die Stunde, als ich, vom Gefängnis kommend, wieder in den Kreis der Familie aufgenommen wurde, wie ich, dem verlorenen Sohne gleich, zwischen Eltern und Geschwistern stand. Vater und Mutter hatten mir in pietätvoller Weise das Weihnachtsbäumchen aufbewahrt, um mir damit so unendlich vieles in's Gewissen zu rufen. Damals fühlte ich, wie auch heute wieder, das große mit nichts Anderem zu vergleichende Glück treue Eltern zu besitzen, und in jener ernsten Stunde habe ich meinen verzeihenden Eltern und Geschwistern gegenüber ein Gelübde abgelegt, dessen Erfüllung nun von Stund an mir ernstlich am Herzen lag. – Es waren keine geringen Sorgen, welche jetzt meine Eltern und mich gemeinsam beschäftigten, die Sorgen um die Begründung einer auskömmlichen, ehrlichen Existenz. Die buntesten Pläne wurden erdacht, durchgesprochen, festgehalten und wieder verworfen, bis endlich[161] der Vater – nach diversen erfolglosen Gängen – entschied, daß ich, wie einige meiner Schulkameraden, die Karriere eines Schiffsjungen zu der meinigen machen sollte. Ich war damit zufrieden, und es ging rasch und resolut in das neue Leben hinein.

Mit einigen Geldmitteln und den nötigsten Kleidungsstücken versehen, ließ man mich – nicht ohne wohlgemeinte Ratschläge und Warnungen – dem neuen Ziele zustreben. Ich erinnere mich heute, daß die Wirtschaft in M. den Namen »zur Hoffnung« führte, in welcher ich meinen Schiffer kennen lernte und ich muß sagen, an Illusionen und an Luftschlössern mangelte es damals nicht. Nachdem die Ausrüstung eines Schiffsjungen angeschafft war, fuhren wir zusammen nach B.b.M., wo die »Gertrud« (d. Fa. Gebr. M., M.a. Rh.) vor Anker lag.

Ich wurde noch am gleichen Tage mit meinen Pflichten vertraut gemacht; zwei Matrosen und dem Kapitän war ich unterstellt. Was ich in den 9 oder 10 Monaten meiner Tätigkeit an Bord dieses Schiffes alles erlebte, würde allein den Raum dieser Beschreibung beanspruchen, und ich kann wohl ohne jede Übertreibung sagen, gleiche Bilder sah ich nie. Im Bezug auf Sittlichkeit und gute Vorbildung im Allgemeinen war es schlecht bestellt. Ausschweifungen gemeinster Art, Orgien frivolster Sorte – ausgeführt mit moralisch gesunkenen Frauenzimmern – hatte ich von diesen »Vorgesetzten« anzusehen. Dabei fast keine Ruhe, dem Sturm und Regen ausgesetzt und obendrein noch eine rohe, niederträchtige Behandlung. O, lassen Sie mich hiervon schweigen! – Gott sei gedankt, daß ich damals standhaft sein konnte! –

Nachdem ich diesen finsteren Bildern den Rücken gekehrt, hatte ich das Glück an meiner Seite. Damals, wie auch heute wieder, sagte ich mir: »Das Leben ist ein Kletterbaum, oben hängen seine Früchte. Bist Du einmal abgeglitten, so spuck Dir in die Hände und gehe nochmal los; nur nicht verzichten; nur nicht aufgeben! Lieber einige Male einen neuen Anlauf nehmen, und fällst Du dabei ebenso viele Male auf die Hosen!« – So kam es, daß ich jetzt mit verhältnismäßig leichter Mühe die Stellung eines Hausdieners in der Lederhandlung von Js. K. in M. erlangte. –

Mein Streben, mich möglichst wieder in die kaufmännische Laufbahn hineinzubugsieren, war schon in dieser geringen Position insofern von einem nennenswerten Erfolg begleitet, als ich bereits im zweiten Monat meiner Tätigkeit mit der Erledigung von Lager- und Bureau-Arbeiten betraut wurde. Bei einem mir in Aussicht stehenden Engagement war es von nicht zu unterschätzendem Wert, mich nicht [162] als Hausdiener (wie angefangen), sondern als Bureaugehilfe ausgeben zu können. Es kam denn auch soweit, daß ich auf Grund eines guten diesbezüglichen Zeugnisses mir die Stellung eines angehenden Kommis in der Maschinen- und Armaturen-Fabrik von Gebr. R. in M. eroberte, in welcher ich indes nur 6 Monate verblieb, da mir s.Z. Gelegenheit geboten wurde, in die große Maschinenfabrik von H.L. in M. einzutreten. Freilich war diese »Gelegenheit« mit diversen Schwierigkeiten verknüpft und erkämpft, die ich an dieser Stelle nicht einzeln aufführen will. Ich versetze mich im Geiste nur in jene Stunde, wo ich gelegentlich eines scharfen Kreuzverhörs, gelegentlich meiner Vorstellung den Befähigungsnachweis für den in Frage stehenden Posten erbringen sollte und kann es heute noch nicht ganz verstehen, wie dies gelang. Das Probestenogramm, welches mir der Herr Direktor diktierte, die Beantwortung einiger kaufmännischen Fragen – alles fiel zur Zufriedenheit aus und ich, der ich mich für dieses mündliche Examen nicht im geringsten vorbereitet hatte, war verdutzt von diesem Erfolg. – Mit der Erlangung dieser Stellung war für mich der eigentliche Anfang einer glückverheißenden Zeit geschaffen. Mein Dasein war von nun an in eine harmonische Gleichheit gerückt, nicht leidenschaftlich gespannt, sondern freudig und hell gingen mir meine Tage in M. dahin. Vielleicht »zu guter Letzt« ein bißchen zu freudig, denn das Vereins- und Freundschaftsleben war wohl auch als ein Grund zu betrachten, der mich nach zweijähriger Wirksamkeit bei L. veranlaßte, M. zu verlassen, mein bewegtes Leben mit einem ruhigeren zu vertauschen. Von drei mir angetragenen Stellungen (Fr. K.E., Schnellpressenfabrik W. und F.B.Z.) wählte ich letztere; einesteils, weil der Antrittstermin günstig war und zweitens, weil mir Z. als ein nettes, kleines Städtchen gerühmt wurde. Die erste und zweite genannter Vakanzen schlug ich aus, da ich 3 bezw. 2 Monate beschäftigungslos geworden wäre, bis der Eintritt hätte erfolgen können. Jetzt galt es Abschied nehmen von den Eltern, die ich bisher alle 14 Tage besucht hatte; mit der Empfindung eines Scheidenden, der wenig Aussicht hat wiederzukehren, ging ich nochmals alle Erinnerungen froher Stunden, die ich in M. erleben durfte, durch und nahm dann persönlich von meinen Freunden Abschied. In S. hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit meinem Vater zu bestehen; er war nicht dafür eingenommen, daß ich diese glückliche Stellung, die zu einer Lebensexistenz für mich werden konnte, so leichten Herzens aufgegeben. Doch meine Versicherung, daß ich auf Grund einiger Welt-Erfahrung, die ich mir jetzt zu erwerben beabsichtige, erst recht in den Stand gesetzt würde, mir eine solche zu [163] schaffen und die Erneuerung meines früheren Gelöbnisses, ließen endlich eine Sinnesänderung bei ihm eintreten. Eltern und Geschwister waren verstimmt ob des Scheidens, denn wir waren allesamt verbunden durch das Band der Liebe. Anstatt ernst und gesammelt der bevorstehenden Trennung ins Auge zu sehen und dem Schmerz darüber sein Recht zu gestatten, zwang ich mich förmlich, scheinbare Gleichgültigkeit zu erheucheln – und sprach meinen Lieben Trost zu. Ich hörte noch die Worte meines Vaters: »Das Schild der Ehre halte rein!«, die Worte meiner Mutter: »Vergiß' Deine Eltern und Geschwister nicht!« – Dann ging es fort! – –

Über Thüringen, wo ich noch ca. 8 Tage mit Nichtstun zubrachte, langte ich pünktlich an meinem Bestimmungsort Z. an. – Z. war wie geschaffen für ein ruhiges Verweilen, und meine Stellung als Nachkalkulator gefiel mir auch ganz gut. Doch ein plötzlicher ungünstiger Umschwung in der Werkzeugmaschinen-Branche machte sich bei dieser Firma so bemerkbar, daß der Inhaber der Fabrik eine große Anzahl Arbeiter, einige Techniker und zwei kaufmännische Beamte wohl oder übel entlassen mußte. Da ich noch ein Neuling im Geschäft war, ist es kein Wunder, daß auch mich das Los traf. Die Firma sorgte für anderweitige Unterkunft, und so kam es, daß ich nach dreimonatlichem Schaffen in dieser trauten Stadt meinen neuen Posten als zweiter Korrespondent bei der Aktien-Gesellschaft vorm. St. in M. bezog.

Ich hatte scheinbar nicht schlecht getauscht, denn ich erhielt ein höheres Salär, aber meine so sehnsüchtig erwünschte Ruhe war verloren. Lange Arbeitszeit und ein gänzlich neuer Geschäftsgang, in welchem ich mich erst einzuarbeiten hatte, waren mir hier beschert. Kaum war ich richtig im Geleise; als mich (nach 3monatlicher Tätigkeit) eines Tages – unverhoffterweise – eine Depesche und ein kurz darauf folgender Eilbrief der Firma H.L. in M. vor die Frage stellte: ob ich eine in der Filiale L. offene Korrespondentenstelle anzunehmen gewillt sei; allerdings müsse der Eintritt möglichst sofort erfolgen. Überglücklich, wieder in das alte Geschäft eintreten zu können, das ich im Übermut verlassen hatte und mich aufrichtig freuend, daß ich von einem so großen Hause nicht vergessen war, suchte ich bei meinem Direktor um die Vergünstigung meines sofortigen Austritts nach, was mir indes mit dem besten Willen nicht gelingen wollte. Erst die Vermittlung der Firma L. brachte dies zustande und ich begab mich alsbald nach meinem neuen Domizil – nach L. So glücklich dieser Schritt in mei nem Leben für mich war[164]so unheilvoll sollte er auch sein, und ich kann wohl sagen: »O L., hätte ich Dich nie gesehen!«

Das schöne wahre Sprüchwort: »Im Glück nicht stolz sein« usw. wurde hier gründlich von mir mißachtet. Ich müßte viel, sehr viel, berichten, wenn alle meine momentanen Erinnerungen, die wie Bilder eines Kaleidoskops an meinem geistigen Auge vorüberziehen, in dieser Beschreibung Erwähnung finden sollten, ich tue dergleichen lieber auf mündlichem Wege. Was ich indes unbedingt sagen muß, das ist die Ursache der über mich hereingebrochenen Katastrophe. Meine Stellung war eine ziemlich selbstständige, auch eine ziemlich verantwortungsvolle; in Abwesenheit des Filialvorstandes (E.J.) war mir die Unterzeichnung der täglichen Post – soweit dieselbe nicht wichtiger Natur war – äbertragen, auch hatte ich die Kasse während der An- und Abwesenheit meines Chefs zu verwalten. In Anbetracht meiner Jugend gewiß ein großes Vertrauen.

Am Ende eines jeden Monats hatte ich Rechnung abzulegen und einen Auszug aus den Büchern nach dem Stammhaus in M. zu senden; ich führte diese Geschäfte mit großem Interesse und anfänglich auch mit Gewissenhaftigkeit. Ich sage deshalb »anfänglich«, weil in der Folge das Gegenteil der Fall war.

Gelegentlich einer Vereins-Festlichkeit machte ich die Bekanntschaft eines 17jährigen Mädchens, der Tochter des k. Bahnmeisters R., und die vielgerühmte sächsische Gemütlichkeit machte mich auch bald mit der ganzen Familie bekannt. Einmal im Netz, war ich so gut wie gefangen.

Die Mutter, eine gute, allerdings etwas zudringliche Frau, bildete die eigentliche Triebfeder bei dem Liebesverhältnis, welches sich aus dieser Gelegenheitsbekanntschaft entwickelte. Ich gratulierte mir selbst dazu, in eine so nette Familie Eingang erhalten zu haben und rechnete es mir in meiner Freude als große Ehre an. Es folgten Einladungen über Einladungen zum Ausflug, zur Hochzeit, zum Stiftungsfest, zum Dienst-Jubiläum irgend eines Verwandten oder Bekannten, kurz – ich kam aus dem Trubel nicht mehr heraus. Die vergnügungssüchtige Mama hatte stets etwas Neues. Mit der Beteiligung an all diesen Festlichkeiten ging ein fortwährendes Geldausgeben Hand in Hand. Zuletzt ließ ich mich sogar herbei, mein Taschengeld mit Hilfe der Geschäftskasse zu vermehren, um dann am Ende des Monats den erforderlichen Betrag zu ersetzen. Ich blinder Tor lebte mich ärger wie zuvor in den Leichtsinn hinein. Die Katastrophe blieb nicht aus! – Vor einer längeren Reise meines Chefs wollte derselbe noch einen Einblick in die Kassenverhältnisse haben. Unvorbereitet, wie ich war, gab ich[165] Buch und Geldbestand zur Kontrolle und sah meinem Vernichtungsurteil entgegen; ich war mir nämlich eines Mankos von über 100 Mark bewußt. Im letzten Augenblicke suchte ich mich aus der Schlinge zu ziehen und sagte, daß der Eintrag der bezahlten Rechnung von N.N. noch nicht vollzogen sei, deren Höhe mit dem Defizit beinahe übereinstimmte. Ich war in eine bedenkliche Lage geraten; der Kassenbeleg (die Quittung über den Betrag) fehlte, und ich sollte ihn doch vorlegen; eine Ausrede war bereit, und ich sagte meinem Chef, daß ich diese Quittung versehentlich zu Hause gelassen habe, da ich die Rechnung selbst bezahlt hätte. Nachmittags sollte ich dieselbe mitbringen. Ich lief in Todesangst zu der Firma, welche diese Rechnung ausgestellt hatte, machte deren Inhaber mit der ganzen Tatsache vertraut und bat ihn, meinem Chef gegenüber die Begleichung fraglicher Faktura zu bestätigen; ich versicherte prompte Zahlung, obwohl sich mir vorläufig nicht der geringste Ausweg aus dieser Kalamität bot.

Er ging auf meine inständigen Bitten nicht ein und wies mir die Türe. Das Unglück war fertig. – – Nach einem mißlungenen Selbstmordversuch stellte ich mich freiwillig der Polizei – Mein Chef, der zwischenzeitlich von dem Geschehenen Kenntnis bekommen hatte, wollte die Angelegenheit aus der Welt schaffen; er gab sich die größte Mühe, der Gerichtsbehörde klar zu machen, daß mein Schritt nur eine Voreiligkeit wäre, daß ich kopflos gehandelt hätte – aber ohne Erfolg. Seinem tatkräftigen Eingreifen ist es allerdings zu verdanken, daß ich am nächsten Tage wieder auf freien Fuß kam, – aber nur vorläufig, denn eine Strafe hatte ich jedenfalls zu gewärtigen. – – Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen jetzt meine Empfindungen schildere, die ich bei diesem kläglichen Sturz von der Höhe in die Tiefe gehabt; – ich weiß, was »Stürzen« heißt! –

Der Frau R. nebst Tochter war dieses Ereignis nicht unbekannt geblieben, und ich muß es den Leuten zum Lobe nachsagen, daß sie sich betrugen, wie es die Situation erforderte. Wenn auch bei diesen wie bei mir, die Einsicht leider zu spät kam, sie war doch wenigstens vorhanden und ich rechne es der Frau R. hoch an, daß sie sich meiner nicht schämte und vielmehr sich dazu bereit erbot, »Mutterstelle« bei mir zu vertreten, d.h. durch pekuniäre Hilfe meine Zukunft zu fördern. Sie wußte, daß ich meinen Mut und den Glauben an mein Können noch nicht ganz verloren hatte. Dieser und der Trost der Tochter taten mir wohler, als derjenige, welchen ich von meinem Chef erhielt. – – Nun ich wieder auf eigene Kraft angewiesen war, galt es vor allem Ernst zu machen mit meinem neuen [166] Leben und das war nicht leicht, denn schon die Losreißung vom alten erforderte einen nicht geringen Kraftaufwand. Doch wer den Kampf nicht scheut und die Mäßigkeit nicht vergißt, gelangt vorwärts. –

Ich wandte mich nach E., der Stadt meiner ersten Jugend. Hier erhielt ich – es ist Glück zu nennen – die Stellung eines Stadtreisenden bei der Firma F.A. Sch., wenn schon auch diese Tätigkeit keine beneidenswerte genannt werden konnte, da sie mit vielen mir bis dahin unbekannten Schwierigkeiten verknüpft war. – An weiteren Bemühungen um Erlangung eines, wenn auch geringen Bureaupostens, hat es damals nicht gefehlt; täglich wurden 3–4, ja mitunter noch mehr Offertbriefe abgesandt.

Meine Zeugnisse, darunter auch das L.'er waren günstig zu nennen und es hing einzig und allein vom Stammhaus M. ab, wie es sich dem Vorkommnis in L. gegenüber verhielt. – Doch ich sollte mit dieser Eventualität nicht mehr zu rechnen haben. Ein unfaßbares Glück harrte meiner; ich bekam nämlich ein Stellungsangebot von der Lokomobil-Fabrik R.W. in M./B., der geachtesten und angesehensten Maschinenfirma dieser Stadt. Meine persönliche Vorstellung und die Vorlage meiner Zeugnisse, speziell aber eine telefonische Anfrage bei der Akt. Gesellsch. St. in M. hatten ein sofortiges Engagement zur Folge; ich mußte mich vertraglich verpflichten. – Ein Glück, ich konnte es damals und kann es heute noch nicht begreifen. Da W. eine direkte Konkurrenz von der Firma L. ist, hatte ich von letzter Seite nichts mehr zu fürchten. Es war mir eine unsagbare Freude, diese beglückende Tatsache sofort meinen Eltern und meiner L.er Familie mitteilen zu können, hatte ich doch die sichere Gewähr, daß beide Teile sich dieses großen Glückes aus aufrichtigem Herzen mitfreuten.

Der Wegzug von E. war bald vollzogen und in M. hatte ich mich bald wieder heimisch gemacht. Meine Stellung war der besten eine, die ich bisher innehatte.

Die Beziehungen zu meinem L.er Chef mußte ich jetzt abbrechen, da er keinesfalls erfahren durfte, daß ich zur Konkurrenz übergetreten war. Sein letzter Brief, welcher mich noch in E. erreichte, enthielt die beruhigende Mitteilung, daß ich wohl keine Strafe zu erwarten habe, da er es nicht an den nötigen Bemühungen fehlen lasse. Diese Nachricht war es auch, welche mich dazu bewog, von einer neuerlichen Anmeldung bei der L.er Gerichtsbehörde Abstand zu nehmen; die übliche städtische Anmeldung hielt ich für genügend. In E. tat ich beides, wie vorgeschrieben, aber in M. sollte mir die Unterlassung dieser einen Meldepflicht teuer zu stehen kommen. Hier machte der [167] Übereifer der Polizei den Wert der Freiheit nicht nur illusorisch, sondern verwandelte die edle Absicht des L.er Gerichts in einen verhängnisvollen Fluch für mich; – ich wurde verhaftet.

In der Meinung, daß es sich nur um die Abgabe einer Erklärung handeln könne, erbat ich mir von mei nem Direktor eine Stunde Dispens (unter einem plausiblen Vorwand), ich dachte nicht in Entferntesten daran, daß man mich festhalten würde. Meinen verschiedenen Bitten, doch sogleich vorgeführt zu werden, schenkte man nicht das geringste Gehör; man führte mich ins Amtsgerichtsgefängnis ab. – Am anderen Tage wurde ich dem Amtsgerichtsrat vorgestellt, und nachdem derselbe in aller Kürze erklärte, daß meine Verhaftung nur auf Grund der Nichtbeachtung der gerichtlichen Meldepflicht erfolgt sei und im Weiteren festgestellt hatte, daß ich mich in fester Position befand, gab er mich wieder frei. Ich war leicht erklärlicherweise ziemlich erregt über den Nichtigkeitsgrund meiner Verhaftung und gab dies dem Herren auch deutlich zu verstehen mit dem Hinzufügen, daß nun wohl auch meine Stellung wenn nicht verloren, so doch als erschüttert zu betrachten sei. Eine Verantwortung irgend welcher Art lehnte er strikte ab, indem er mir bedeutete, daß mir bereits am Tag zuvor das Recht zugestanden und die Möglichkeit einer sofortigen Vernehmung an die Hand gegeben wäre, wenn ich die Sache nur einigermaßen wichtig aufgefaßt und die Verwaltung damit vertraut gemacht hätte. – – Hatte ich mir denn nicht alle erdenkliche Mühe gegeben, hatte ich mich denn nicht auf meine Stellung und auf meine ordnungsgemäße städtische Anmeldung berufen? und hatte es etwas genützt? – –

Ich war wieder frei, ja! – Aber zu Hause fand ich das Pendant zu diesem Bilde, die niederschmetternde kurze Nachricht: Entlassen aus dem Geschäft! Und als ich kurz darauf meinen Bureau- und Pultschlüssel dem Geschäftsboten überreichte, sagte mir dieser Mann, daß der mich verhaftete Polizist über den Zweck und Sachverhalt meiner Inhaftierung Schwätzereien gemacht, und diese Mitteilungen dann wie ein Lauffeuer ihren Weg durch sämtliche Bureaus der Firma genommen hätten. Mein Ruin war voll!

Was ich damals gefühlt, ich wills verschweigen. Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern, und ich will durch eine Wiedergabe der damaligen Empfindungen die traurigen Denkmäler meines Sturzes nicht von Neuem heraufbeschwören. Meine Selbstberuhigung in diesen schweren Tagen ließ mich nicht in eine völlige Lethargie verfallen. Ich sagte zu mir: Verliere nicht den Glauben an Dich selbst, erhalte [168] Dir eine ungeschwächte Willensstärke und zeige, daß noch Mut und Unternehmungsgeist in Dir steckt! –

Um meinen Eltern und meinen L.er Gönnern einen abermaligen Schreck zu ersparen, begab ich mich daher, unter dem Vorwand einer Versetzung, nach B., wo eine Filiale dieser Firma existiert. Ein Post-Revers genügte, um mir alle an diese Adresse für mich einlaufenden Sendungen nach meiner Wohnung bestellen zu lassen, und während die armen Leute glücklich waren über den vermeintlichen Erfolg in meiner neuen Sphäre, irrte ich stellungslos in B. umher. Entbehrungen kannte ich dabei allerdings nicht, denn meine L.er Familie ließ es sich nicht nehmen, mir einen erklecklichen Gehaltszuschuß zukommen zu lassen, und ich – Unglücklicher nahm ihn an in der festen Absicht, bei Erlangung einer Stellung die volle, traurige Wahrheit zu enthüllen. – – Vier Wochen waren verstrichen, als ich endlich durch Empfehlung eines angesehenen B.er Geschäftsmannes, der mich gelegentlich der Landw. Ausstell, in H.a.S. kennen gelernt, einen guten, einträglichen Posten als 2. Buchhalter bei der Kohlen-Engroshandlung von L.K. erlangte. Mein jetziges Glück betrachtete ich mit einem gewissen Pessimismus. – Bei einem Besuch, den ich zu dieser Zeit in L. machte, brachte ich von Seiten meines Freundes in Erfahrung, daß meine Strafsache nicht so scharf zu nehmen sei und als ich erst das glückliche Gesicht meines lieben Mädchens und dessen Mutter sah, da brachte ich es nicht übers Herz, die Hiobspost zu verkündigen. Ich tröstete sie vielmehr mit allem Möglichen und Unmöglichen. –

Nur einige Tage lagen dazwischen, als mich mein Geschick in Gestalt einer Vorladung zu der Gerichtsverhandlung ereilte. Auf mich machte dieses Ereignis den Eindruck, als wollte der Himmel über mich hereinbrechen.

Die L.er Behörde, an welche ich mich mit der Bitte um Hinausschiebung des Termins wandte, drohte mir sofortige Verhaftung an, wenn ich bei der Verhandlung nicht erscheinen sollte. – Ich war kopflos. –

Was nun folgte war nicht der unbedeutenste Stein im Schachbrett meines Lebens, durch ihn wurde ich, was ich jetzt bin. Um mich der zu erwartenden Strafe zu entziehen, um die guten L.er Leute durch meine Verhandlung bezw. durch die Veröffentlichung derselben in ihrem Ansehen nicht zu schädigen, ließ ich mich verleiten, die mir zur Begleichung der Bahnfrachten übergebene Summe (einige Hundert Mark) zu unterschlagen. Mein Glück lag ja in Scherben, und zu einer späteren Wiederaufrichtung desselben war nicht die [169] kleinste Hoffnung vorhanden, – so philosophierte ich damals und flüchtete nächtlicherweise aus der Unglücksstadt B. – Wohin ich gehen wollte, das wußte ich noch nicht gewiß; es riß mich nur fort, hinaus in die Welt! Plan hatte ich mir keinen vorgezeichnet. Mein ganzes Wesen war in eine unbeschreibliche Erregung versetzt. Trotz des Grames und der Unruhe, die mich quälten, stieg die Frage immer deutlicher in mir auf: Was nun beginnen? – Ja, was beginnen! Wohl hatte ich bei einiger Mäßigkeit auf einige Monate zu leben; doch früher, wie gedacht, ging mein Barbestand zur Neige. Eine Irrfahrt nahm ihren Anfang, deren Begleiter Sünde und Schande waren; ich will davon Abstand nehmen, an dieser Stelle die Schandflecke meiner Vergangenheit aufzuführen. Der Hausakt gibt Ihnen ja erschöpfende Auskunft hierüber. Es sei ferne von mir, meine Taten irgendwie zu beschönigen; sie waren nichts weniger als ehrlich, und die Schwere meiner Schuld tritt mir von Tag zu Tag mehr vor Augen. Die Erinnerung an sie war es auch, welche mir die Feder in die Hand zwingt, um den Gefühlen meines Herzens freien Lauf zu lassen, um mit meinem Seelsorger, dem ich so vieles zu danken habe, reinen Tisch zu machen. – Schopenhauer sagt: »Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte.« – So ganz Unrecht hat der tiefsinnige Philosoph wohl nicht. – Doch habe ich nicht auch Glück, unbegreifliches Glück gehabt? –

Wenn ich den Zickzackkurs meiner Lebensfahrt nochmals überblicke, so komme ich zu der Erkenntnis, daß mich der liebe Gott wunderbar geführt hat. Im Anschluß hieran muß ich mich aber auch fragen: Wird es Dir nochmals gelingen, in die Höhe zu kommen? und ich kann mir gleich die Antwort darauf geben: Mit Gottes Hülfe hoffe ich dies!

Ja, ich will es hoffen! Das Glück ist ja mit klaren Augen betrachtet nur ein Geschenk, das zu verlangen niemand berechtigt ist, aber meinen Posten – und wäre es der geringste – nach besten Kräften auszufüllen, das ist eine Pflicht, die meiner Ansicht nach Freude und ein gewisses Glück im Gefolge hat.

Es geht seit einiger Zeit ein großer Gärungsprozeß in meinem Geiste vor, und jene innern Kämpfe, welche mich früher an der Zukunft beinahe verzweifeln ließen, machen einer gesunden Anschauungsweise Platz. Während mein Fühlen, Sinnen und Trachten früher eine entgegengesetzte Richtung verfolgten, während ich mir früher oft einredete, daß ich ohne ein, wenn auch kleines, Anfangskapital nicht imstande wäre, mich wieder in die Höhe zu bringen, halte ich diese Meinung jetzt für irrig, ja im gewissen Sinne für direkt schädlich. Ich habe vielmehr die Ansicht gewonnen, daß es [170] entschieden das Beste ist, wieder »klein« zu werden, mit dem geringsten Posten fürlieb zu nehmen und mich durch eifriges Streben emporzuringen. Mein vergangenes Leben in seiner mittleren Periode ist mir hier ein bedeutsamer Fingerzeig. Das eine steht fest: Lieber ein ruhiges, zufriedenes Leben, ein bescheidenes Auskommen, als ein gehetztes, überstürztes Leben im Banne einer Schuld! – Und warum sollte dies nicht zu ermöglichen sein?

Es ist ja unbestritten.

Im Leben und speziell für den einmal Gefallenen ist Beharrlichkeit auf gutem ehrbaren Wege die notwendigste Eigenschaft. Manchen begünstigt bei seinem ersten Wurf das Glück. Aber wer von der Laune des Glückes gehoben wird, von dem gilt das Wort des Dichters: »Was Du Dir frühzeitig erstrebst, hast Du dann später die Fülle« – nur dann, wenn er unverrückt und zähe seinen Zielpunkt im Auge behält. Und was langsam erreicht wird, das ist am sichersten gewonnen. Allerdings muß dem Streben nach aufwärts von vornherein ein bestimmter Zug gegeben werden, wenn derselbe dem Strebenden selbst noch nicht eigen ist; ich meine die Zufriedenheit. Was mir ferner in meinem Leben mangelte, das war der religiöse Geist. Ich sehe jetzt ein, daß der Mensch, der sich selbst segensreich regieren will, erst einmal vom Glauben regiert werden muß. Er muß eine oberste Führerin und Leiterin seiner Grundsätze haben, die da unfehlbar richtig ist, die Religion. Ohne sie kann ich mir jetzt ein geordnetes Leben nicht mehr vorstellen. Wenn ich mich in einsamer Zelle mit diesbezüglichen Gedanken beschäftige, wenn ich mir die früher gehörten leichtsinnigen Reden seitens meiner Freunde ins Gedächtnis zurückrufe, so muß ich mir sagen, es sind blöde Naturen, die den Kuchen essen, ohne jemals gefragt zu haben, wie er gebacken wird, die in echt stumpfsinniger Weise alles als selbstverständlich hinstellen. – Nachdenkliche Menschen, – Leute, die sich nicht durch phrasenhafte, einseitige Reden ohne Weiteres übertäuben lassen, vielmehr den sogenannten »wissenschaftlichen« Feststellungen gegenüber ein exclusives Verhalten zeigen, werden, wie auch ich jetzt in den Wunderwerken des Universums einen allmächtigen Schöpfer und Erhalter erkennen und auf ihn vertrauen. Für mich gibt es einen persönlichen Gott, einen Vater im Himmel, eine Hoffnung auf ewigen Frieden. Der Unglaube, wie ich ihn draus und hier im Hause vorgefunden, stammt meines Erachtens meist aus Gleichgültigkeit, oft auch aus purem Vorurteil – und aus Bosheit, ist aber in keinem Falle etwas, worauf man stolz sein könnte, wie es leider hier oft gesehen werden kann. –

[171] Ich lasse von jetzt ab den satten Weltleuten ihre Philosophie und richte meine Blicke zuerst auf mich selbst. Da habe ich unendlich viel zu verbessern, zu reformieren, und ich glaube bei richtiger Anwendung des Verstandes müßte ein jeder Einzelne das Resultat erhalten beziehungsweise zu der Erkenntnis gelangen: »Eins ist not!« –[172]

1

5. H.E. Br. von S. (Preußen), ehelich geboren 1864, prot., lediger Skribent. Nicht tätowiert. Vorstrafen: 1mal wegen Landstreicherei und Bettels, dann 4mal Gefängnis wegen Unterschlagung; zuletzt 1 Jahr 6 Monate Zuchthaus wegen Diebstahls. Führung gut. Einzelhaft auf seine Bitte. Tuberkulös. Willig und folgsam. Nicht mehr rückfällig seit 1895. Starb 1900 in seiner Heimat.

Quelle:
Jaeger, Johannes: Hinter Kerkermauern. Berlin 1906, S. 11-12,158-173.
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Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

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