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Ich will mich bemühen, eine genaue Schilderung meines elenden, jammervollen Lebens zu schreiben.
Ich wurde als Kind armer Eltern zu Mainz am 14. August 1851. geboren. Wirkliche Kindesjugend habe ich nicht erlebt, dagegen [14] vom zartesten Kindesalter an schon die rohesten Mißhandlungen eines unmenschlichen Vaters zu erdulden gehabt. Ich schwebte infolgedessen oft in Lebensgefahr wegen geringfügiger Kleinigkeiten. Es würde kein Ende nehmen, wollte ich alles aufzählen. Meine arme Mutter hatte noch viel mehr von der Roheit des entmenschten Vaters zu leiden. Den allerschändlichsten Akt spielte er mit ihr, als sie mit meiner noch lebenden jüngsten Schwester in gesegneten Umständen war. Ich stand damals im 7. Lebensjahre. Am Tage ihrer Entbindung konnte die Mutter morgens das Bett nicht mehr verlassen; deswegen konnte sie auch für Mittag nichts kochen. Als nun der Wüterich nach Hause kam und sich statt eines Mittagessens mit einem Glas Bier, Wurst und Brot begnügen sollte, da fing er in der Wut an, die im Bette liegende Mutter mit allerhand ganz gemeinen, nicht wieder zu gebenden Ausdrücken zu schimpfen, und sagte zuletzt, er wäre sein Leben so müde und satt, wie wenn er es mit dem Löffel gefressen hätte. Natürlich verdroß das meine Mutter, und sie entgegnete dem zornigen Vater: »Na, wenn Du Dein Leben so satt hast, dann nimm Dir's halt!« Da packte er die Mutter und warf sie über Hals und Kopf aus dem Bette, und ich mußte Leute herbeirufen, die der armen Mutter wieder ins Bett halfen. Unsere ganze Nachbarschaft prophezeite meiner Mutter eine unglückliche Entbindung; aber ein Wunder war es, daß diese Weissagung nicht eintraf. Als meine Schwester zur Welt geboren war, war meine Mutter drei Jahre ganz kontrakt und konnte sich nur auf zwei Stöcke gestützt fortbewegen. Da war ich denn so mit Arbeit überladen, daß ich des Nachts schlief wie tot. Trotzdem daß die Mutter so daran war, mußte sie vom Morgen bis Abend täglich arbeiten. Weil der schlechte Vater fast seinen ganzen Lohn versoff, so hätten wir Hunger leiden müssen, wenn wir uns nicht selber geholfen hätten. Ich holte aus der Lederfabrik Wolle zum Zupfen und Ziegenfelle zum Nähen. Um seinem Suff so recht frönen zu können, übernahm der Vater von ein paar Metzgereien Beile und Messer zum Schleifen, wobei ich und meine Mutter drehen mußten, als diese soweit wieder hergestellt war. Daß ich deswegen oft in die Schule kam und meine Aufgabe nicht gemacht hatte, das genierte den Vater ganz und gar nicht. Und so ging das fort bis zu meinem dreizehnten Lebensjahre, wo ich in den Konfirmandenunterricht mußte. Da befahl er mir eines Tages wieder, den Schleifstein zu drehen. Meine Mutter meinte, sie wolle schon drehen, ich solle nur meinen Katechismus lernen. Aber der Vater brüllte: »Nein, der dreht!« Das empörte mich, und ich sagte im Zorn: »Jetzt drehe ich gerade nicht!« Hätte ich überlegt, was ich [15] gesagt hatte, dann hätte ich meiner armen Mutter zu Liebe schweigen müssen. Aber es war gesagt. Mein Vater kam in solche Wut, daß er nach einem Beile griff. Ich sah dies gerade noch und sprang zum Tor hinaus; aber der Wütende warf mir das Beil nach. Hätte er mich getroffen, dann hätte er mir sicherlich ein Bein abgeworfen, denn das schwere Beil blieb in der Torschwelle stecken.
Vier Tage lang getraute ich nicht nach Hause zu gehen, bis mich meine Mutter halb erfroren und verhungert am Rhein fand. Darauf wurde ich neun Wochen schwer krank. Hernach kam die Geschichte mit dem Holz, das wir acht Knaben sollten gestohlen haben. Glücklicherweise erfuhr mein Vater nichts davon, bis mir die Schmach in der Kirche angetan wurde und ich vom Konfirmationsaltar ganz ohne Grund hinweggejagt wurde. Das erfuhr der Vater, der an meinem ganzen Unglück schuld ist, und jagte mich aus dem Hause. Ich ahnte damals schon, daß ich für das ganze Leben verloren war. Und so ist es auch gekommen. Ich hatte das Unglück, auf einen Platz zu kommen, wo mehrere nichtswürdige Schufte beisammen waren. Meine Verhältnisse wurden ihnen bald bekannt, und sie warfen alle schlechten Streiche, in die sie mich Unerfahrenen verwickelten, auf mich ab. Als Knabe war ich nicht besser und auch nicht schlechter als andere Knaben auch. Vor gemeinen Streichen hatten mich die vielen Ermahnungen meiner braven Mutter bewahrt. Aber jetzt diesen Mahnungen entzogen und unter solcher Gesellschaft wurde ich schlecht. Es wollte mir nur selten gelingen, Beschäftigung zu finden. Und so war es nur immer der Hunger, der mich zu Schlechtigkeiten trieb. Ich mußte es erfahren, daß dasselbe Gericht, das uns Kinder wegen Diebstahls bestrafte, wo wir nichts gestohlen hatten, mich mit 17 Jahren wegen meiner Jugend frei sprach. Dreimal wurde ich unschuldig bestraft – ohne andere Beweise, als den, daß man mich für fähig hielt.
So kam ich in das Alter, wo ich mich vor dem, der mein Vater hätte sein sollen, nicht mehr fürchtete, und kehrte nun wieder ins Elternhaus zurück, um meine Mutter vor dem Tyrannen zu schützen; denn dieser schauerliche Unmensch ließ die arme Frau, die damals an der Waschbütte außerhalb des Hauses von morgens früh bis abends spät arbeitete, des Nachts nicht schlafen, indem er die halbe Nacht in seiner schamlosen Besoffenheit immerzu schimpfte und tobte. Bei einem solchen Vorkommnis erhielt ich einmal 3 Tage Haft, da mein Vater auf die Polizei ging und mich anzeigte, ich hätte mich an ihm vergriffen; und ich habe weiter nichts getan, als daß ich [16] ihn ins Bett zwang. Hätte ich diesen Wüterich, den ich haßte, doch windelweich durchgehauen, wie er es verdiente!
Nicht lange darnach wurde mein Vater nervenkrank, und meine Mutter erkrankte ebenfalls infolge Überanstrengung und zu geringer Nahrung. So schlimm wurde es mit der Mutter, daß sie glaubte, sterben zu müssen. Und das war zu einer Zeit, wo ich selber keine Arbeit hatte. Da mußte ich die traurige Erfahrung machen, wie parteiisch es mit dem evangelischen Hilfsverein steht. Ich sah mich genötigt, mich an Herrn Pfarrer St., der an der Spitze dieses Vereins stand, um eine Unterstützung zu wenden. Als ich bei ihm eintrat, fertigte er mich mit barschen Worten ab; ich sollte mich in 14 Tagen melden, weil erst am vorhergehenden Tage Sitzung gewesen wäre. Auf meine Entgegnung, daß die Hilfe sofort nötig sei, wenn meine Eltern nicht verhungern sollten, sagte der Herr Pfarrer: »Nun, so will ich mich morgen erkundigen; kommen Sie übermorgen wieder!«
Als ich wieder auf der Straße war – heraus aus dem düsteren Studierzimmer des Pfarrers, begegnete mir ein Schmiedemeister, der mich kannte, und gab mir den Auftrag, das Holz von einem abgebrochenen Bau zu verkaufen; was mir begreiflicherweise sehr gelegen kam. Ich verkaufte das Holz zu einem Spottpreise, um es schnell an den Mann zu bringen und Geld zu bekommen zur Linderung der ärgsten Not. Hätte ich gewußt, daß ein anderer Pfarrer, den ich auf Wunsch meiner Mutter bestellt hatte, der Schwerkranken 20 Mark gespendet, so hätte ich natürlich den unehrlichen Holzverkauf unterlassen; nun war es aber zu spät. 15 Monate Gefängnis waren die Folgen dieser von bitterer Not diktierten Unehrlichkeit.
Daß es auf diese Weise mit meiner Existenz immer schlechter wurde, ist wohl begreiflich. Auch trug die Polizei redlich bei zu meinem Untergang, indem sie meine ohnehin schon traurige Lage noch dadurch verschlimmerte, daß sie die Leute, bei denen ich noch Arbeit fand, vor mir warnte. Und doch habe ich, wenn ich Arbeit hatte, nie etwas Schlechtes begangen.
So mußte ich denn ein Stromer werden, weil ich es in meiner Vaterstadt nicht mehr aushalten konnte. Obschon ich – das kann ich hoch und teuer versichern – nur zu arbeiten wünschte, so wollte es mir doch nur selten gelingen, Arbeit zu finden. Vorübergehende Beschäftigung gegen geringen Lohn fand ich wohl hin und wieder, aber ich mußte, da ich keine guten Papiere und Zeugnisse hatte, oft zur Lüge die Zuflucht nehmen, indem ich sagte, ich wollte die verlangten Zeugnisse in etlichen Tagen schon herbeischaffen. Länger als 14 Tage konnte ich nirgends bleiben, denn meine erlogenen Zeugnisse [17] kamen nicht, und ich mußte wieder wandern, ohne ein Arbeitsattest zu erhalten.
Nach meiner Entlassung aus der Anstalt in Bruchsal ging ich wieder nach Hause, weil ich sicher gedachte, Arbeit bei der Stadt zu finden; denn so hatte mir der Strafanstaltsgeistliche geraten. Ich habe den Herrn Oberbürgermeister zweimal schriftlich und zweimal mündlich fast kniefällig gebeten, mir Arbeit zu geben; aber es war umsonst. Darauf ging ich zum Herrn Provinzialdirektor und bat diesen um Vermittlung. Er meinte: »Die Stadt muß doch die entlassenen Sträflinge beschäftigen«, und verwendete sich für mich schriftlich. Und was war die Folge? Der Herr Oberbürgermeister schickte mir einen Schutzmann auf den Hals, der einen Zettel überbrachte, auf welchem geschrieben stand, daß ich nie von der Stadt Arbeit zu erhoffen hätte. Jedenfalls eine schlechte Fürsorge. Und so wird mein Elend kein Ende nehmen, und ich werde im Zuchthause sterben müssen. In meiner Heimat kann ich mich nicht aufhalten, darum muß ich wieder wandern und zwar den Rhein hinunter an die Ruhr; vielleicht daß ich dort Beschäftigung finde. So werde ich heimatlos in der Welt umher gehetzt. Noch einmal in eine Strafanstalt – nein, lieber sterben![18]
1 | 1. E.G. von M., ehelich geboren 1847, lediger Schleifer und Taglöhner. Vorstrafen: 9mal Haft wegen Bettels und Landstreicherei; 7mal Gefängnis wegen Diebstahls und Betrugs, 3mal Zuchthaus wegen Diebstahls, 2mal Arbeitshaus (6 und 9 Monate). Schlechte Erziehung. Qualvolle Jugend. Ein bedauernswerter Mann, der sich sehr gut führte und äußerst fleißig war. Hat keine Heimat mehr und findet nirgends dauernde Arbeit und Unterkunft sowie die rechte Hilfe und Fürsorge. |
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