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Sollte der Mann, der das Wort: »Einmal ist keinmal!« zu einem geflügelten machte, alle die Schuld und die Last derer tragen, die sich, als sie am Scheidewege des Guten und Bösen standen, zum Bösen wandten und ihr sie warnendes Gewissen oberflächlich beruhigten [140] mit diesem Worte, er würde ohnmächtig zusammenbrechen unter dieser Last.
Das genannte Sprichwort lebt im Volksmund, aber weil es zweideutig ist, ist es verwerflich.
»Einmal ist keinmal« sagte ich, als ich in frühester Jugend schon meiner Mutter Zucker stahl. »Einmal ist keinmal« sagte ich, da ich als 10jähriger Knabe den Tokayer der kranken Mutter verstohlen trank und die Flasche mit Wasser anfüllte, um nicht entdeckt zu werden. »Einmal ist keinmal« war die Beschwichtigung meines mahnenden Gewissens, wenn ich meines Vaters Geldbörse und später seine Zigarrenkiste zum Teil leerte. »Einmal ist keinmal« sagte ich, als ich mit 13 Jahren zum ersten Mal das sechste Gebot übertrat und der Onanie verfiel. Aus diesem einmal wurden aber unzählige Male. Es reihte sich an das erste Glied der Sündenkette, deren Last ich jetzt tragen muß, Glied an Glied bis zum letzten Ring, dessen Malzeichen ich hier zu tragen habe. Dies war der Fluch der ersten bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses mußt gebären, weil ich es – wollte!
Doch nun zu meinem Lebenslauf.
Ich wurde am 29. Dezember 1866 zu E.a.d.R. als Sohn des Werkmeisters der Kr. Gußstahlfabrik daselbst, H.E.K. und seiner Ehefrau W., einer geborenen S., geboren. Aus meiner frühesten Jugend kann ich wenig berichten. Mit 6 Jahren kam ich in die Schule, und zwar in die Vorschule einer Realschule. Hier muß ich nun gleich bemerken, daß ich absolut keine Neigung zum Lernen zeigte. Meine Lehrer hatten mit mir die größte Mühe, und nur infolge von Privatunterricht, den ich erhielt, konnte ich vorrücken, bis ich schließlich mit knapper Not im 12. Lebensjahre in Quinta saß. Da erkrankte ich schwer, und nach überstandener Krankheit wurde ich, nachdem mein Vater mittlerweile meine schlechten Eigenschaften näher kennen gelernt hatte, einem Institute anvertraut, in welchem heranwachsende Knaben, die drohen, entarten zu wollen, mit der äußersten Strenge erzogen werden. Mit schwerem Herzen hatte mein Vater im Einverständnis mit meiner Mutter diesen Schritt getan. Das Institut befindet sich in D. am Rhein. Wenn ich nicht irre, war damals der Redakteur und Herausgeber des »Rheinisch-Westfälischen Sonntagsblattes«, Dr. E., Direktor dieser Anstalt. Alles war schon bereit, die Koffer schon abgeschickt, da – legte der Arzt sein Veto dagegen ein. Er behauptete, bei meinem schwächlichen Körper hieße mich dieser Zucht anvertrauen soviel, als »den Knaben langsam aber sicher töten«. Meine Mutter, die ohnehin im Grunde genommen nur mit Widerstreben in [141] den Plan gewilligt hatte, hielt sich freudigst an den Ausspruch unseres Arztes und ich – blieb zu Hause. Mein Vater setzte es nun durch, daß ich vorerst ganz von der Schule dispensiert wurde. Ich erhielt von verschiedenen Lehrern Privatunterricht im Hause. Aber ich war faul, wirklich faul. Dabei hatte ich ein träumerisches, melancholisches Wesen. Am liebsten war ich ganz allein, las verbotene Bücher, die ich mir zu verschaffen wußte. Von einem älteren Bekannten, der alle möglichen Bücher hatte, erhielt ich in dieser Zeit eine Schrift, die Anweisungen enthielt über »Viel oder wenig Kindersegen«, darauf das »6. und 7. Buch Mosis«, ferner ein Buch mit 50 Illustrationen aus dem intimen Eheleben, so, glaube ich, hieß der Titel. Es ist kein Wunder, daß ich schon sobald das 6. Gebot übertrat; denn ich sage heute: jeder, der in der Jugend solche Schriften liest, leidet Schaden an seiner Seele und an – seinem Körper. Die Wirkung dieser ganz ungeeigneten Lektüre ruinierte mich psychisch und physisch. Ob davon meine Eltern nichts merkten? Ich hatte für mich ein kleines Zimmer. In demselben erteilten mir Lehrer Privatunterricht. Mein Vater besuchte mich täglich dreimal: morgens, mittags und abends. An Ausflügen nahm ich nie teil; denn ich war schwächlich und nicht imstande, einen größeren Spaziergang mitzumachen. War schönes Wetter, dann war ich einige Stunden täglich im Garten. Von meinen Geschwistern schloß ich mich vollständig ab. Meine Mutter? Hier tut mir mein Herz weh! Meine gute, liebe, treue Mutter, die ja viel um mich war, war zu unschuldig, zu naiv, zu fromm, um solche Auswüchse an dem – schwächlichen, kränklichen Knaben sehen zu können. Das Gleiche muß ich von meinen älteren Schwestern sagen. Man sah in mir immer das schwache, kranke Kind, dem man auf jede mögliche Weise sein Leiden erleichtern zu müssen glaubte; den furchtbaren Abgrund, der zu meinen Füßen gähnte, ahnte niemand in meiner Familie. Auch nicht der Arzt? Auch er blieb lange im Unklaren, bis endlich bei einer Visitation meines Zimmers, der eine genaue Untersuchung meiner Leibwäsche folgte, ihm und meinen armen Eltern ein Licht aufging. Aber was wollten meine Eltern mit dem »kranken Menschenkinde« machen.
Mein Vater war ein Mann, ein deutscher Mann in jeder Beziehung. Seine Familie war sein Alles. Soll ich mir das Ideal eines braven deutschen Mannes vor stellen, wie er sein soll: keusch, bieder, fromm, so brauche ich bloß an meinen Vater zu denken. Nächst seiner Familie lebte er seinem Berufe, in dem er sich tatsächlich verzehrte. Noch auf dem Krankenbette stand er in telephonischem Verkehr mit dem Kontor. Jeden Sonntag ging er und meine Geschwister – ich[142] auch, wenn es mein Gesundheitszustand erlaubte – zur Kirche. Gegen meine Mutter war er wie ein Kind; er hing mit großer Liebe an ihr, und sie liebte und verehrte ihn von ganzem Herzen. Nun zur Mutter. Lieber Leser, stelle dir ein Bauernmädchen vor, das mangelhaftes Kopfwissen, aber ein ausgezeichnet frommes Herz besitzt. Dieses Mädchen heiratet sehr frühzeitig – mit 17 Jahren – und kommt durch ihre Verehelichung in Kreise, die ihr völlig fremd sind. Sie lebt nur ihrem Manne und ihren Kindern, die sie mit Liebe und Aufopferung großzieht. Das ist meine gute Mutter, der ich leider schon soviel Herzeleid bereitet habe.
Eine Frau von solcher Naivität, wie sie meine liebe Mutter besitzt, zu finden, dürfte heute schwer sein. An zwei Beispielen möchte ich zeigen, welcher Ton in meinem Elternhause herrschte. Mein Zimmer und die meiner Geschwister – die Schwestern hatten ein gemeinsames Zimmer – befanden sich in der letzten Etage. Es waren Mansardenräume. Punkt 7 Uhr abends mußten wir zu Bette gehen. Unter meinem und meiner Schwestern Zimmer befand sich unser Fremdenzimmer und in demselben unser Pianino. Hier saß der Vater und spielte einen Choral, der bis oben hinauf tönte, und die Mutter und wir Kinder sangen mit. Dann betete meine liebe Mutter und gab uns den Gutnachtkuß. Ähnlich war es des Morgens, bloß daß da mit Rücksicht auf die frühe Stunde und »böse Nachbarn« die Klavierbegleitung unterblieb. Dies ist heute noch so in meinem elterlichen Hause. Seit ich allerdings zwanzigjährig einmal erst früh morgens heimkam, erhielt ich keinen Gutnachtkuß mehr: ich hatte mich desselben unwert gemacht. Dies das eine Beispiel. Nun zum anderen. Wir hatten zu Hause ein ausgezeichnetes Pianino. Mit Ausnahme meiner Wenigkeit – wegen meiner krüppelhaften Hand – und meiner Mutter, die nicht einmal Noten lesen kann, spielten alle meine Geschwister. Einen Monat vor Weihnachten ging mein Vater einmal in eine Instrumentenhandlung und lieh auf sechs Wochen ein Harmonium; denn er meinte, wahrhaft gefühlvoll könne man Kirchenlieder, speziell unsere schönen Weihnachtslieder, auf einem Pianino nicht spielen. Soll ich den Verlauf des Weihnachtsfestes schildern? Ich meine, es wird nicht nötig sein. Ich will nur sagen: die schönsten Erinnerungen ans Elternhaus sind mit den gefeierten Weihnachtsfesten verknüpft.
Doch – ich bin abgeschweift – welche Maßregeln wurden nun seitens meiner Eltern ergriffen, um mich von meinem Laster abzubringen? Zunächst bekam ich von jetzt ab jeden Tag eine Unterrichtsstunde von einem Geistlichen, der mich vorbereiten sollte zur[143] Konfirmation. Dann mußte ich mein Zimmer mit meinem jüngeren Bruder teilen, der das direkte Gegenteil von mir war. Derselbe absolvierte mit nicht ganz 17 Jahren das Gymnasium, erhielt stets die besten Noten und Preisbücher, studierte Chemie, war Einjährig-Freiwilliger und hat eine sehr gute Stelle inne – gerade das Gegenteil von mir, dem älteren Bruder. Man sollte nun meinen, alle diese Maßregeln, sowie der Fleiß und die Tüchtigkeit meines Zimmergenossen hätten jetzt eine recht günstige Wirkung bei mir erzielt. Leider gerade das Gegenteil! Der Unterricht des Pfarrers J. ging bei mir nicht tief. Und meines jüngeren Bruders Einfluß? Anfänglich versuchte ich ihn für meine Schandtaten zu gewinnen; dann als alle derartigen Versuche scheiterten, als mein Bruder sogar hinging und alles dem Vater entdeckte, da wurden wir bittere Feinde. Auch meinem Vater, der mich jetzt oft, weil ich körperlich wieder erstarkte, züchtigte, wurde ich gram und feind, so feind, daß er es nur mit Aufbietung seiner ganzen Autorität dahin bringen konnte, daß ich ihn nicht ignorierte, d.h. ihm noch die Tageszeit im Gruße bot und ihm Antwort gab. In diese Zeit fällt auch ein Fluchtversuch, den ich unternahm, nach dem ich meinem Vater 400 Mk. und meiner Mutter die goldene Uhr nebst Kette und andere Schmucksachen entwendet hatte. Ich kam aber blos bis zum Bahnhof. Dem Billetteur dort fiel es auf, daß ein 13jähriger Knabe ein Billet nach Antwerpen forderte und einen Hundertmarkschein als Zahlung hinlegte; er teilte seine Bedenken dem Herrn Bahnhofs-Inspektor mit, derselbe kannte meinen Vater und ließ mich nach Hause bringen, wo ich eine ordentliche Tracht Prügel bekam. So kam dann schließlich das Jahr 1880, wo ich zu Ostern konfirmiert wurde. Und nun? Mein Vater hatte beschlossen, da ich zu nichts besondere Lust zeigte, mich zum Ingenieur heranzubilden. Ich sollte abwechselnd praktisch und theoretisch unter seiner speziellen Aufsicht arbeiten. Im November sollte ich dann als Modellschreinerlehrling eintreten und vormittags in der Schreinerei und nachmittags auf dem Zeichenbureau des Vaters tätig sein, hierauf abwechselnd je einen Monat in der Gießerei, Dreherei, Schlosserei u.s.w. arbeiten. Dies sollte ich 3 Jahre so treiben und dann nach B. bei Hamburg gehen, um die dortige technische Schule zu besuchen. Mein Vater hoffte, wie mir meine Mutter später einmal erzählte, daß diese reiche Abwechslung in der Beschäftigung einen wohltuenden Einfluß auf mich ausüben würde.
Um vom April bis zum November nicht müssig zu sein, sollte ich bei einem Vetter meines Vaters, der Sekretär eines Rechtsanwalts in meiner Vaterstadt war, als Schreibgehülfe eintreten – nur damit [144] ich nicht faulenzen müßte. Mit großer Befriedigung arbeitete ich als Schreiber; was mir aber ganz besonders angenehm war, das war der Umstand, daß ich mir jetzt ohne leidige Kontrolle wieder Bücher nach meinem Geschmack leihen konnte, die meinen geschlechtlichen Ausschweifungen immer neue Nahrung, immer gefährlichere Reize boten.
Es ist in meiner Heimat Sitte, daß einige Wochen nach erfolgter Konfirmation der Konfirmand sich zu seinem Seelsorger begibt und sich seinen Einsegnungs- oder Denkspruch holt, bei welcher Gelegenheit der Herr Pfarrer gewöhnlich noch einige ernste Worte dem Betreffenden ans Herz legt. Die Eltern geben da den Kindern je nach Vermögen eine Gabe für den Geistlichen mit als Zeichen ihrer besonderen Dankbarkeit. Nun hatte ich meine Mutter schon wiederholt gebeten, mir doch meinen Denkspruch zu holen, und der Herr Pfarrer hatte mich einmal auf dem Wege angesprochen in nicht mißzuverstehender Weise. Aber ich wich stets aus; denn ich fürchtete aus gutem Grunde eine ernstliche Moralpredigt. Entschlossen wandte ich mich aber doch endlich eines Tages zur Wohnung des Pfarrers. Die Mutter hatte mir in Papier eingewickelt einen Zwanzigmarkschein mitgegeben, den ich, wie sie mir sagte, beim Lebewohlsagen dem Herrn Pfarrer in die Hand gleiten lassen sollte. Was aber tat ich? Ich wechselte den Schein und gab meinem guten, alten Seelsorger die Hälfte! Zehn Mark behielt ich für mich. Niemand hat dies erfahren; heute kommt's zum ersten Male aus meinem Herzen. Wie mein Denkspruch lautete? Er war, wie ich heute sagen muß, sehr passend für mich gewählt. Wollte Gott, ich hätte ihn immer beachtet, mich immer nach ihm gerichtet. Es waren die ersten zwei Verse des 1. Psalms.
Du wirst, lieber Leser, fragen: Ja unglücklicher Mensch, was hast du denn gedacht, empfunden bei deiner Konfirmation, bei Ablegung deines Gelübdes und bei der darauffolgenden Einsegnung? Nichts! Rein gar nichts! Ich betrachtete diesen Akt nur als den notwendigen Durchgangspunkt vom Schulknaben zum »Erwachsenen«, der jetzt jeglicher Erziehung entbehren kann; denn Selbsterziehung war für mich ein unfaßbarer Begriff.
Was fing ich aber mit den 10 Mark an, um die ich den Seelsorger und die Eltern betrog? Bei einer Dirne, die ich schon kannte, ließ ich 6 davon, und die übrigen 4 verwandte ich zum Erwerben von schmutzigen Büchern.
Ich war kein Spieler und kein Trinker und rauchte nur mäßig. Auch Schnaps habe ich nur selten getrunken. Ich war in meinen jungen Jahren nicht ein einziges Mal berauscht, nicht einmal angeheitert. Warum ich dies betone?
[145] Meine heutige Erkenntnis, mit der ich mein vergangenes Schandleben betrachte, sagt mir, daß ich durch diese Konstatierung meine Vergehen und Verbrechen nur in grellerem Lichte zeige, da ich ja alles tat mit vollständig klarer Überlegung, d.h. soweit bei einem Menschen, der auf der tiefsten Stufe der Gemeinheit angelangt, noch die Rede sein kann von normaler Überlegung.
Aber, so fragst du vielleicht lieber Leser, haben denn deine tiefreligiöse Mutter, deine strengsittlichen Geschwister, dein biederer Vater und deine ganze Familie mit dem in ihr herrschenden religiösen Sinn und Geist gar keinen Eindruck gehabt auf dein so schmutziges Herz? Und wenn ja – wie äußerte sich dieser Eindruck? Freudlicher Leser, merke dir: ein Mensch, der wie ich nur seine Befriedigung fand in unsittlichem Lebenswandel, in geschlechtlichen Ausschweifungen schändlichster Art, der ist jeglichen besseren Gefühles bar, absolut bar! Ein Trinker oder ein Spieler kann nicht so verkommen, so tief sinken, wie der Unzüchtige. In meinen Augen war das andere Geschlecht nur dazu da, dem stärkeren zur Befriedigung seiner Lüste zu dienen. Eine reine Liebe kannte ich nicht, mit dem Worte Liebe bezeichnete ich meine schmutzigen Beziehungen zu Dirnen.
Als ich Schreiber ward, glaubten meine Eltern, es ginge besser mit mir; denn äußerlich betrug ich mich sehr anständig, und es ist Tatsache, meinen Geschwistern und näheren Bekannten gegenüber ließ ich es am sog. Takt nicht fehlen. Aber – warum? Etwa aus Liebe zum Edlen, Guten? Nein! Sondern um meiner Umgebung Sand in die Augen zu streuen, damit ich desto ungestörter meinen Ausschweifungen mich hingeben konnte.
Endlich kam der November 1880, wo ich in dem Kr. Werk eintreten sollte. Dies geschah auch, und ich blieb dort bis zum Mai 1883. Meine Leidenschaften wurden aber während dieser Zeit nicht gemindert, im Gegenteil. Ich eignete mir jetzt alle möglichen Finessen an, um ja meinem Vater, unter dessen spezieller Aufsicht ich stand, nichts merken zu lassen. Geld hatte ich jetzt reichlich. Teils machte ich Schulden, die die gute Mutter immer wieder mit blutendem Herzen bezahlte, oder ich nahm aus dem Kontor echte chinesische Zeichenfarben im Werte von 8–12 Mark das Stück mit, die ich um 2–3 Mark das Stück verschleuderte. Die Bureaubeamten, die begreiflicherweise die Diebstähle bemerkten, sahen mir als dem Sohn ihres Vorgesetzten durch die Finger. Das war ein folgenschwerer Fehler. Ich wurde immer dreister. Die Beamten meinten, mein Vater könnte sich gekränkt fühlen, wenn sie seinen Sohn bei ihm verklagten; ich bin [146] aber der festen Überzeugung, der Vater wäre ihnen gewiß sehr dankbar gewesen.
So kam also der Mai 1883 und mit ihm trat eine Wendung in meinem Leben ein, die für mich so verhängnisvoll werden sollte. Ich hatte einen »Genossen«, den ich meinen Freund nannte. Sein Vater war Stadtsekretär in E. Er war damals 20 Jahre alt, also 3 Jahre älter als ich. Bei einem Tanzkurse hatte ich ihn kennen gelernt. Dieser mein Freund kannte ein Frauenzimmer namens W. St. – ich erwähne den Namen darum ausdrücklich, weil derselbe noch eine große Rolle spielt in diesen Blättern. Diese St. war eine heimliche Prostituierte. Bei ihr verbrachten wir unsere freie Zeit, sie »versilberte« die Sachen, die ich und mein Freund aus dem Elternhause beiderseits stahlen, sie war unser alles. Ihre Mutter war noch viel schlechter als dieses Mädchen. Die Gemeinheiten, die ich hier gehört, gelernt und getrieben, spotten jeder Beschreibung. Ich kann sie nicht aufzeichnen, sie waren zu schmutzig.
Eines Tages komme ich eben aus dem Geschäfte. Mein Freund und »unser Minchen« erwarteten mich. Nach gegenseitiger Begrüßung entspann sich folgendes Gespräch:
»Du, gehst du mit nach Amerika?« – Ich: »Mensch, du bist wahnsinnig!« – »Nein, ich war noch nie so klar bei Verstand als jetzt. Ich habe meinem Vater 2000 Mark gestohlen, weil ich die ewigen Züchtigungen satt habe, und gehe nun nach Amerika. Minchen geht selbstverständlich auch mit.« – Ich: »Minchen, gehst du mit?« – Minchen: »Jawohl, solche Frage!« – Ich: »Abgemacht! Ich bin in eurem Bunde der Dritte. Doch halt! Papiere? Legitimationen?« – Mein Freund: »Brauchen wir keine; übrigens bin ich vorgesehen. Ich habe für uns alle genug. Bei meines Vaters Stellung war es mir leicht, Stempel, richtige Stempel zu erlangen. Vorwärts!« 24 Stunden später waren wir schon in Hamburg und lebten herrlich und in Freuden. Meinen Eltern hatte ich einen Brief geschrieben, in welchem ich als Grund meines Entweichens die Furcht vor Entdeckung großer Schulden angab, die ich in letzter Zeit gemacht hatte. Den Schmerz meiner Mutter – ich kann ihn nicht schildern. Vier Tage dauerte unser lustiges Leben. Dann war mein Freund spurlos verschwunden. Wohin? Wie ich später erfuhr, ist er damals tatsächliche nach Amerika gekommen, nach Sankt Franzisko. Von dort erhielt ich einen Brief von ihm, aus dem ich seine infame Gesinnung kennen lernte. Er schalt mich einen Esel, der sich so dumm hätte ums Licht führen lassen und bat zum Schluß, ich sollte ihm sein »Minchen« gut verwahren für den Fall, daß er wieder herüber käme und [147] nicht Bekanntschaft machen müßte mit dem Strick. Mich ärgerte diese Ironie sehr, doch – konnte ich von dem Men schen etwas anderes erwarten? – Nun stand ich in Hamburg mit der St. und noch 70 Mark in der Tasche. Was nun tun? Ich tat damals das Klügste, was ich wohl tun konnte, ich fuhr mit der St. nach Hause. Der Empfang? Meines Vaters Langmut war zu Ende. Ich durfte ihm unter keiner Bedingung unter die Augen treten. Die arme gute Mutter weinte sich schier zu Tode. Nach und nach siegte aber die mütterliche Liebe über den herben Schmerz, und sie fuhr mit mir nach Dortmund zu meiner verheirateten Schwester und bat, mich auf einige Zeit da zu behalten, bis sich der Zorn des Vaters gelegt. Auch nahm sie mir das Versprechen ab, alle Beziehungen zu der St. zu lösen und nie mehr mit derselben in Verbindung zu kommen. Ich versprach momentan alles und hielt es auch – vorläufig. So lebte ich etliche Wochen in Dortmund, ging jeden Tag mit meiner Schwester oder mit meinem Schwager und einer Kousine, die auch gerade auf Besuch da war, spazieren und merkte bald, daß dieser Aufenthalt einen wohltuenden Einfluß auf mich ausübte, besonders da ich gerade in diesen Wochen jenen ironischen Brief von meinem Freunde aus Amerika erhielt, den dieser an meine »Freundin« d.h. an deren Mutter geschickt hatte. Diese erfuhr meinen Aufenthalt, denn sie wußte, daß ich öfters mit ihrer Tochter in Dortmund früher gewesen war und daß dort mein Schwager wohne. Zorn und Ärger über den treulosen Freund, über Minchen und deren Mutter halfen mir aber vorläufig meiner Mutter das gegebene Versprechen zu halten.
Auf einem bei Dortmund liegenden Gute eines Adeligen lernte ich gelegentlich eines Ausflugs einen jungen Verwalter kennen, der ein wirklich feiner und liebenswürdiger Mann war. Immer hatte ich schon Neigung gehabt zur Ökonomie. Der Umgang mit diesem Gutsverwalter veranlaßte mich, dem Gedanken näher zu treten, ob es nicht für meine Zukunft besser wäre, wenn ich Landwirt würde.
Ich sprach mit meiner Schwester über diesen Plan. Sie war ganz derselben Meinung wie ich und erbot sich, bei den Eltern dahin wirken zu wollen, daß dieselben ihre Erlaubnis gäben. Sofort fuhr sie nach Hause, bat, weinte, flehte den Vater an, doch meinem Plan nichts in den Weg zu legen und – der Vater gab nach, kam mit der tiefgebeugten Mutter nach Dortmund, wo die Aussöhnung mit mir stattfand, deren Endergebnis war, ich sollte jetzt Landwirt werden, d.h. drei Jahre eine landwirtschaftliche Schule besuchen, die ihre Zöglinge theoretisch und praktisch unterrichtet und ihnen nach drei Jahren den Befähigungsnachweis ausstellt, einen Posten als Verwalter[148] annehmen zu können, wie ihn mein neuer Freund inne hatte. Die Schule, die ich nun besuchen sollte heißt H.F. und liegt bei W. an der Ruhr in Westfalen, Reg.- Bezirks A. Rasch wurden die nötigen Sachen in den Stand gesetzt, und mein Vater fuhr nach N., das ist die Station, von der aus man in kurzer Zeit die landwirtschaftliche Schule erreichte, sprach mit dem Direktor dieser Anstalt und ordnete alles zu meinem sofortigen Eintritt. Am 16. Oktober 1883 begab ich mich nach H.F.; obwohl das Schuljahr schon am 1. Oktober begonnen hatte, nahm man mich doch auf. Einiges hatte ich ja doch auch schon gelernt. Auf dieser Schule war ich mir so ziemlich selbst überlassen. Je drei Zöglinge bewohnten ein Zimmer. Diese Zimmer waren aber nicht durch Türen abgeschlossen. Die Zahl der Zöglinge war damals 42, alle im Alter von 16–19 Jahren. Das Lehrpersonal bestand aus drei Lehrern, 1 Inspektor, 1 Verwalter und dem Herrn Direktor, der den Unterricht in der Chemie erteilte.
Nun hätte wieder alles gut werden können. Ich hätte mir gar keine bessere Gelegenheit wünschen können für meine Besserung. Was ich nun werden wollte, entsprach ja ganz meiner Neigung. Aber die – böse Lust! Bis Weihnachten ging alles ganz gut. Zu den Ferien fuhr ich nach Hause. Ich war ordentlich stolz auf meine grüne Kleidung, eine Art Uniform der dortigen Zöglinge. Doch der Hochmut kommt ja vor dem Falle. Ich lernte daheim wieder ein Mädchen kennen. Es war ein sehr braves ordentliches Wesen. Ich knüpfte Beziehungen mit ihr an. Mein Verkehr mit ihr kostete aber Geld. Ich wollte doch prunken! Mein Vater hatte mir pro Woche 1,50 Mk. Taschengeld bewilligt, das mir der Herr Direktor jeden Sonntag vor dem Kirchgang aushändigte, wie er es auch bei den übrigen Zöglingen, von denen manche bis zu 2 Mk. wöchentlich hatten, zu halten pflegte. Hatte ein Zögling anderweitig Geld, so war dieser dem Direktor Rechenschaft darüber schuldig. Da ich nun mehr Geld brauchte, als ich zur Verfügung hatte, machte ich bei meinen Mitschülern und anderwärts Schulden. So kam ich in eine sehr mißliche finanzielle Lage. In der Not – stahl ich! Ja, Gott seis geklagt, ich stahl wieder und zwar meinem Mitschüler und Zimmerkollegen eine Geldbörse mit 18 Mk. Inhalt. Die Sache kam ans Licht, und der Herr Direktor sperrte mich in den Karzer und telegraphierte die Geschichte meinem Vater. In 12 Stunden war die Sache erledigt. Mein Vater weinte bittere Tränen über mich beim Herrn Direktor, und ich verstockter Mensch wurde nicht gerührt. Der Direktor beschloß mit Rücksicht auf meinen schwergebeugten Vater, auf meine ganze Familie Gnade für Recht ergehen zu lassen [149] und die Sache auf folgende Weise zu schlichten. Er ließ Schüler und Lehrpersonal versammeln und hielt eine Ansprache an die Schüler, in der er meine natürlich bekannt gewordene schändliche Tat als einen Ausfluß jugendlichen, aber gefährlichen Leichtsinns bezeichnete und an die Schüler die Frage richtete, ob sie gewillt seien, über eine ehrliche Familie Schande zu bringen, wenn die Sache ihren rechtmäßigen Verlauf nähme. Alle antworteten mit Nein. Hierauf mußte ich jedem die Hand geben, und die Sache war geschlichtet. Dieser Vorfall war aber ein Nagel zum Sarge meines Vaters. Und die Mutter? Ich muß schweigen, mir wird so weh im Herzen, wenn ich daran denke.
Statt nun in mich zu gehen, litt es mich nicht mehr unter meinen Kameraden. Zu ihrer Ehre aber sei es gesagt: keiner derselben hat mich je beleidigt. Aber der Wurm in meinem Innern nagte fort und schließlich faßte ich den Entschluß, zu fliehen. Wohin? Das wußte ich noch nicht. Da kam der Böse, faßte mich höhnisch grinsend wie Mephistopheles in Goethes Faust, da er über das arme Gretchen lacht, und sagte mir, wohin ich fliehen sollte. Ich tat seinen Willen und floh zu meiner früheren Geliebten, der St. Schnell waren meine sämtlichen Effekten gepackt, ein Knecht für meine Absichten gewonnen, der meine Sachen zwei Tage vor meiner Flucht auf die Bahn schaffte und sie dort als Frachtgut an die Adresse meiner »Freundin«, der W. St., aufgab. Am Sonntag, beim Kirchgang entfernte ich mich und fuhr heim. Ich ging zu Minchens Mutter, aber – o Entsetzen – meine Koffer sind nicht da. Die Leute behalten mich zwei Nächte zu Hause und dann – weisen sie mir die Türe. Und meine Eltern, die ich wiederum betrogen? Auf die Nachricht des Herrn Direktors fuhr Vater sofort zu diesem, löste den eingegangenen Schulkontrakt, bezahlte meine Schulden, regelte, was noch zu regeln war, und fuhr ganz gebrochen nach Hause, nach Trost sich sehnend ob des verkommenen Sohnes; er versuchte – selbst ohne Trost – das Mutterherz, das bisher immer wieder gehofft hatte, aber jetzt ganz verzagte, zu trösten.
Was nun? Wies mir der Vater die Türe? Nein! Er ignnorierte mich. Er hoffte, wie ich später aus dem Munde meiner Schwester hörte, ich würde ihn um Verzeihung bitten, angespornt durch seine Milde! Nichts von dem tat ich! Endlich bekam ich auf vieles Bitten und Drängen von der Schwester Geld und die Erlaubnis, wieder zu ihr nach Dortmund kommen zu dürfen. Ich reiste. Mein Vater hatte nun dieses Gesindel, Frau und Tochter St., zur Anzeige gebracht wegen Unterschlagung meiner Koffer. In der 2 Monate darauf erfolgten Verhandlung fungierten als Zeugen der [150] Direktor der landwirtschaftlichen Schule mit 2 Lehrern und 3 Schülern, sowie der Knecht, der meine Sachen seiner Zeit zur Bahn gebracht hatte. Von sachverständiger Seite wurde alles Entwendete und Unterschlagene auf 316 Mark taxiert. Mutter und Tochter St. erhielten je 6 Monate Gefängnis.
Was sollte ich nun aber anfangen? Ich wollte nach Amerika. Der Vater gab seine Einwilligung, und ich erhielt die nötigen Papiere und eine Anweisung, mit der ich in New-York auf einer bestimmten Bank 150 Mark erheben konnte. Die Überfahrt zahlte der Vater mir selbst aus, d.h. ein Billet, das ich in Antwerpen einlösen mußte, und 25 Mark Taschengeld für die Dauer der Überfahrt. War es recht vom Vater, seinen 18jährigen Sohn so ganz dem Schicksal preiszugeben? Ich will darauf keine Antwort geben. Verdient habe ich freilich eine solche Behandlungsweise seitens meines Vaters! Ich will aus einem Briefe des Vaters, den er zu jener Zeit an meinen Schwager in Köln schrieb ein Bruchstück möglichst getreu aus dem Gedächtnis mitteilen.
»... Gott weiß es, was ich leide. Ich spreche mit Luther: lieber einen toten, denn einen ungeratenen Sohn. Nun sende ich ihn ins Ausland im festen Vertrauen auf Gott, der ihm vielleicht durch des Schicksals rauhe Hand noch den Weg zum Frieden zeigt. Wollte doch der liebe Gott mein gutes, treues Weib trösten, ich, selbst so trostbedürftig – vermag es nicht. Denke ich an meinen Sohn – dies ist und bleibt er ja doch immer – so glaube ich sterben zu müssen vor Weh ...« –
Ich fuhr also nach Antwerpen und kam nach – Amerika? O nein! Ich blieb in Antwerpen, verkaufte meine Anweisung und kehrte nach 3 Wochen wieder in die Heimat zurück! Dem Vater durfte ich nun nicht mehr vors Gesicht kommen. Die Mutter konnte mir nicht helfen, und die Schwestern wollten von mir nichts mehr wissen. Da war ein frommer Mann in E., ein Freund unseres Hauses; der gab der Mutter den Rat, mich nach Wilhelmsdorf auf die Arbeiterkolonie zu schicken, damit ich Beschäftigung bekäme. Die Mutter schrack erst zusammen über diesem Plan, schließlich aber gab sie, weil ein anderer Ausweg nicht vorhanden war, ihre Zustimmung, und ich fuhr im Juli 1884 nach Wilhelmsdorf auf die Arbeiterkolonie – ohne jegliche Empfehlung. Die Verhältnisse dort kannte ich aber ziemlich genau aus Zeitschriften.
Gleich nach meiner Ankunft meldete ich mich beim Hausvater. Ich wurde aufgenommen. In dieser Anstalt habe ich mich – ich darf es ohne Eigenlob sagen – gut geführt und bald in die bestehenden [151] Verhältnisse fügen gelernt. Von hier aus suchte ich die Versöhnung mit meinem Vater anzubahnen, und sie – gelang, gelang noch einmal! Im November schrieb er mir selbst, daß ich nach Hause kommen könnte und daß er mir bereits eine Stelle verschafft hätte bei einem seiner Freunde auf den Kr. Werken. Ich kehrte heim und trat als – Mechaniker meine Stelle bei dem Freunde des Vaters an. Obwohl ich nur wenig verstand, eigentlich fast nichts, erhielt ich doch denselben Lohn wie andere tüchtige Arbeiter. Dies hätte mich allerdings veranlassen sollen zum Aufpassen und Lernen und, eine gute Führung zu pflegen, vor allem aber, meinem Vater herzlich zu danken für seine liebende Fürsorge.
Bis März 1885 hielt ich in dieser Stellung aus. Vorher hatte ich leider wieder Liebschaften angefangen und riesige Schulden gemacht. Als ich keinen anderen Ausweg mehr sah, aus geradezu unhaltbaren Verhältnissen wieder herauszukommen, entfloh ich nach Hannover zu einem Bruder meines Schwagers. Dieser wollte aber nichts von mir wissen, steckte mir 25 Mark Geld in die Hand und zeigte mir in nicht mißzuverstehender Weise die Türe. Ich ging ohne Plan und Ziel nach Harzburg, Goslar, Braunschweig, wieder zurück nach Harzburg und traf dort zufällig einen 3 Jahre älteren Schulkameraden, der hier Prokurist war an einer kleinen Eisenhütte. Derselbe nahm mich freundlich auf; als ich ihm meine Verhältnisse annähernd schilderte, schüttelte er mir die Hand mit dem Ausrufe: »Ich helfe Ihnen!« Er führte mich zu einer ihm befreundeten kinderlosen Gutsbesitzersfamilie, sprach für mich, stellte sich als Bürgen und bewirkte meine sofortige Einstellung. Der Gutsbesitzer nahm mich als Eleve in seinen Dienst. Nun hatte ich aber keine Kleider außer denen, die ich am Leibe trag! Was tat dieser menschenfreudliche Schulkamerad? Er fuhr selbst nach E., sprach mit meinem Vater und brachte es dahin, daß derselbe mit nach Harzburg fuhr, mir dort Wäsche und Kleider kaufte und mit dem betreffenden Gutsbesitzer Verbindlichkeiten einging, laut welchen ich 2 Jahre bei diesem verbleiben sollte. Für alles sorgte der Vater, nur Beköstigung bekam ich von dem Gutsbesitzer. – Was war in diesem Falle größer, die unerschöpfliche Liebe und Güte meines Vaters oder der Edelsinn meines Schulkameraden oder die unaussprechliche Langmut Gottes?
Hier führte ich mich ziemlich gut. Ich hatte es aber auch sehr gut; denn der Gutsbesitzer behandelte mich wie einen Sohn. Mein Schulkamerad pflanzte manches gute Korn in mein Herz. Alle 3 Monate kam der Vater, auch hin und wieder die Mutter zu Besuch. [152] Da kam eine Versuchung an mich heran, der ich aber nicht erlag dank meinem Schulkameraden, der die Gefahr für mich rechtzeitig bemerkt hatte. Es kam mir hart an, hier nicht zu unterliegen; doch es gelang, der Sieg war unser! Mein Gutsherr war ein Mann von 30 Jahren. Seine Gemahlin eine vollendete Schönheit von 24 Jahren, und ich 19jähriger, unsittlicher Tölpel glaubte sie zu lieben! Und sie selbst? Man sagt, in den Augen liegt das Herz. Die feurige Augensprache, die sie redete, verstand ich vollkommen, besonders seitdem ich bemerkt hatte, daß zwischen Gatten und Gattin eine mir ganz unbegreifliche Disharmonie herrschte. Mein Freund, der dieses Augenspiel beobachtete, stellte mich zur Rede und bat und beschwor mich einzuhalten, denn er – liebe sie auch! – Lieber Leser, staune! Ja, er liebte sie, aber er wäre lieber für sie gestorben, ehe er sie zum Bösen verleitet hätte. In dieser Stunde war er ihr rettender Engel. In mir aber regte sich die Dankbarkeit gegen den Gutsherrn, der mich ja wie einen Sohn liebte, in mir regte sich die Dankbarkeit gegen meinen ehemaligen Schulkameraden, der weinend mir gegenüber saß, mich beschwörend, doch ja nicht schlecht zu handeln. Ich entsagte. Nach einer Verständigung mit meinem Chef, der von alledem nichts ahnte, trat ich aus dessen Dienst. Meine Eltern waren begreiflicherweise sehr bestürzt und erklärten sich einverstanden mit dem Vorschlag meines Freundes, mich in sein Bureau als Schreiber aufzunehmen. Das war im November 1886. Aber ich hatte keine Ruhe. Sollte nicht der unter der Asche glimmende Funken zum hellen Brand auflodern, so mußte ich H. verlassen. Ich wendete mich mit einer diesbezüglichen Bitte an den Vater, und – o welche Liebe! – er hieß mich nach Hause kommen und nahm mich auf sein Comptoir. Alles ging seinen gewohnten Gang. Ich bemühte mich auch ernstlich, ein anderer Mensch zu werden. Doch der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! Grobe Fehler ließ ich mir längere Zeit hindurch nicht zu schulden kommen, bis Ostern 1887 wieder die Versuchung mir entgegentrat. Was nun von mir geschah, war die indirekte Ursache, die letzte indirekte Ursache meines späteren Strafanstaltlebens.
Ich lernte ein Mädchen mit Namen Adele H. kennen. Ihre Eltern waren blutarme Leute. Der Vater war Dreher bei K. mit einem Tagelohn von zirka 4 Mk., aber er hatte außer dem Mädchen A. noch 9 lebende Kinder und seine Frau mit seinem Verdienst zu ernähren. Das war keine Kleinigkeit. Adele war 16 Jahre alt und Nähmädchen, aber durchaus sittenrein bis zu der Zeit, da ich sie kennen lernte. Mein Vater war damals krank. Trotzdem erfuhr er [153] von meinen Beziehungen zu diesem unverdorbenen Mädchen. Was ihn veranlaßte, hauptsächliah veranlaßte, mich vor Adele zu warnen, war die Tatsache, daß sie unehelicher Geburt sei. Ich will über die Eltern des Mädchens weiter nichts sagen, als daß sie sich »recht und schlecht« durchschlugen und von der Hand in den Mund lebten. Am 14. Dezember 1887 war ich mit Adele nach Mühlheim gefahren. Als wir abends wieder nach Hause gekommen waren, blieb ich – wie dies schon zur Gewohnheit geworden war – bei ihr. Sie wohnte allein und hatte ein möbliertes Zimmer, das ich ihr bezahlte. Bis früh um 1 Uhr blieb ich bei ihr; dann ging ich nach Hause. Als ich meine elterliche Wohnung betrat, hatte ich – keinen Vater mehr. Er war wenige Stunden vorher verschieden. Seine letzten Worte waren nach den Mitteilungen meiner Mutter: »Mimi, Mimi« – ein Kosenamen für Wilhelmine – »achte auf Karl!« Also der sterbende Vater gedachte noch seines ungeratenen Sohnes in der schwersten Stunde, und dieser ruhte sorglos, bodenlos leichtsinnig in den Armen seiner Geliebten!
Vorerst war ich ganz betäubt, als ich erfuhr: »Der Vater ist tot!« Dann faßte ich mich. Es gab ja unendlich viel zu tun und der Mutter an die Hand zu gehen. Der Vater war Mitglied von 9 Vereinen gewesen. Da mußten überall die Todesanzeigen hingeschickt werden; ferner an alle Bekannte und Verwandte. Ich konnte vor lauter Erledigungen, die in diesen Tagen meiner harrten, gar keinen klaren Gedanken fassen, um richtig zu überlegen, was ich an diesem Vater verloren habe. Der Tag der Beerdigung kam. Ich sah den unermeßlichen Leichenzug, hörte die Trauermusik der Vereine, die mit ihren Fahnen erschienen waren, sah die 12 Arbeiter, die ihm, dem guten, braven Vater einen Riesenkranz nachtrugen: da mußte ich bitterlich weinen, da ergriff mich ein namenloser Schmerz. Das Eis meines Herzens fing an zu schmelzen. Nach der Leichenfeier fuhr ich, ohne mich um meine Verwandten zu bekümmern, die sich alle an mich herandrängten, um mich als den ältesten Sohn des Hauses mit zeremoniellen Höflichkeitsphrasen zu überhäufen, nach Hause zur trauernden, still vor sich hinklagenden Mutter. Acht Tage lang habe ich das Haus nicht verlassen. Wir bedurften alle, mit unserem Schmerz allein zu sein. Dann ging ich wieder ins Geschäft, und alles ging seinen gewohnten Gang. Ich sank wieder zurück in meinen nur jäh eine Zeit lang unterbrochenen Leichtsinn und kam kaum je vor 2 Uhr morgens ins elterliche Haus. So fesselte mich die Sünde an das Mädchen, die durch mich verführt und schlecht wurde. In dieser Zeit – es war gegen Mitte Januar 1886 – bekam [154] ich zum ersten Male einen epileptischen Anfall im Beisein Adeles, die furchtbar darüber erschrack. Ich achtete nicht viel darauf in der Meinung, es sei lediglich ein ganz gewöhnlicher Ohnmachtsanfall infolge der allzugroßen Anstrengungen und Aufregungen nach dem Tode des Vaters. Aber zwei Monate später erfolgte ein weiterer Anfall. Jetzt hätte ich zum Arzt gehen sollen; aber ich genierte mich, denn ich ahnte den Ursprung der auftretenden Epilepsie. Da ich die Anfälle nur nachts bekam und ein Zimmer allein bewohnte, merkte die Mutter lange nichts davon. Aber eines Nachts hörte sie einmal mein Schreien und Stöhnen, nachdem das Dienstmädchen sie auf Laute, die aus meinem Zimmer herausdrangen, aufmerksam gemacht hatte. Sie kam sofort in mein Zimmer und sah mich. Mich hat es späterhin gewundert, daß diese schwächliche Frau den Anblick ertrug. Sie war eben nicht so schwächlich, als ich meinte; das sollte ich bald erfahren. Zunächst erzählte sie, was sie gesehen, unserem Hausarzte. Dieser setzte ihr in klaren nackten Worten auseinander, was nach seiner Ansicht die Ursache dieser schrecklichen Krankheit sei. Und was tat meine Mutter, diese schwache Frau? Sie ließ mich augenblicklich rufen, wiederholte mir die Worte des Arztes und fügte die bitterernste Bemerkung bei, daß, wenn ich nicht sofort mein Verhältnis mit Adele H. aufgäbe, ich nicht mehr ihr Sohn sei.
Folgte ich ihr? Nein! Das Gegenteil war der Fall. Ich mietete mir ein möbliertes Zimmer, und nun war, wie der Volksmund sagt, der Teufel ganz los. Ja, er war los. Jeden Abend lud ich meine Freunde und Freundinnen – und welche Freundinnen! – in meine Wohnung ein. Eine Orgie folgte der anderen; von einem Taumel fiel ich in den anderen, bis endlich die Mutter, die von meinem schändlichen Treiben durch anderer Leute Mund erfahren hatte, zu meinem Vorgesetzten ging und denselben dringend ersuchte, mir einmal gehörig ins Gewissen zu reden. Er tats. Und ich? Ich wurde grob und unverschämt und ging voll Zorn nach Hause. Mein Zimmer hatte ich noch mit einem anderen sogenannten Freund in Gemeinschaft. Ich wollte nun fort. Da ich aber nicht hinreichend Geld – höchstens nur 15 Mk. hatte, nahm ich dieses Freundes Geld, das offen im Nachttischchen lag, im Ganzen 45 Mk., und fuhr, ohne mich noch um irgend etwas zu kümmern, nach Hamburg. Hätte sich dieser Freund, als er den Diebstahl entdeckte, an meine Mutter gewendet, diese hätte sicher nicht gesäumt, ihm die weggenommenen 45 Mk. zu ersetzen. Aber nein, das tat er nicht, der Mensch, der erst mit Hilfe meines Geldes trank und Unzucht trieb, er zeigte mich an, und ich wurde gerichtlich verfolgt, ohne davon eine Ahnung zu [155] haben. Ich trieb mich überall in Norddeutschland umher, stets mit Frauenzimmern verkehrend, bis ich endlich in Diepholz wegen eines neuen Diebstahls verhaftet wurde. Das Urteil war milde: ich erhielt wegen Diebstahls 1 Monat Gefängnis. Zu meiner großen Bestürzung empfing ich da Kunde davon, daß ich seitens meiner Heimatsbehörde gerichtlich verfolgt wurde. Nach Verbüßung dieser einmonatlichen Strafe wurde ich nach Hause geschubt, wieder vor Gericht gestellt und wegen des Diebstahls zum Schaden meines Zimmergenossen mit 2 Monaten Gefängnis bestraft.
Jetzt nahm sich der Gefängnisgeistliche Pastor H. meiner an. Er trat mit meiner Mutter in Korrespondenz, verschaffte mir eine Arbeitsstelle auf einem Kohlenbergwerke der Umgegend, die ich sofort nach meiner Entlassung antreten konnte. Man wollte mich auf dem Bureau als Schreiber beschäftigen. Aber! Aber! Bei meiner Entlassung an 2. Oktober 1888 wartete meine frühere Geliebte schon auf mich, und in ihren Armen vergaß ich alle guten Vorsätze und das Versprechen, das ich dem Gefängnisgeistlichen gegeben. Zwar ging ich nach Hause, gab auch der mich mit Tränen empfangenden Mutter das Versprechen, nicht mehr mit Adele H. zu verkehren, überhaupt von jetzt ab sittenrein zu leben; aber bald hatte der Satan mein Herz wieder völlig in seiner Gewalt. Ich fiel wieder ins alte Laster in das gewohnte schmutzige Leben zurück. So kam der Mai 1889. In diesem Monat kam es zu einem Zusammenstoß zwischen mir und meiner Mutter. Ich hatte ihr die Bitte vorgetragen, sie solle mir doch gestatten, die Adele H. zu heiraten. Und was entgegnete sie mir darauf? »Wenn du glaubst, partout heiraten zu müssen, nun, so heirate! Aber willst du meinen Segen haben und meine finanzielle Unterstützung, woran dir doch, wie ich meine, am meisten liegt, so muß deine zukünftige Frau eine tadellose Vergangenheit aufweisen können und sich stets eines durchaus reinen Lebenswandels beflissen haben, und sollte sie auch so arm sein, daß ich ihr selbst die Brautkleider kaufen müßte. Nur fromm, keusch und absolut anständig und rein muß sie sein. Adele H. kann deine Frau nicht werden, und warum? Erstens ist sie außerehelich geboren. Zweitens können Eltern niemals wahrhaft gut ihre Kinder erziehen, die schon vor Einsegung ihrer Ehe durch ein uneheliches Kind beweisen, auf welch niedriger Stufe sie beide stehen. Daraus folgt zum Dritten, daß es bei Adele in der Erziehung gefehlt haben mußte. Den Beweis hat sie dir und mir deutlich genug geliefert. Antworte mir 'mal ehrlich und offen: Hält ein sittenreines Mädchen ihren Geliebten halbe Nächte zu Haus?«
[156] Was wollte ich zu diesen klaren Vernunftschlüssen sagen. Ich sagte gar nichts! Im Herzen gab ich wohl der Mutter recht. Aber ich hatte nicht den Mut, es ihr einzugestehen, ihren Rat zu befolgen. Auch hatte ich keine Ruhe in mir. Und so zog ich abermals hinaus in die Welt – planlos, ziellos! In Köln hatte ich eine Bekannte. Mit dieser zog ich überall umher; ich lebte von ihrem Verdienste. Dann hatte ich mir eine Menge falscher Legitimationspapiere verschafft. Hiermit ging ich dann zu besseren Kaufleuten, zu Bauunternehmern u.s.w. und bat um Stellung. Vorher erkundigte ich mich in jedem Falle, ob der, bei dem ich vorsprach, niemanden braucht – Arbeit suchte ich da nicht –, dann ging ich hin und gab zu verstehen, daß ich mich in finanzieller Verlegenheit befände, und ich kann sagen: unter 2 Mk. hat mir noch kein besserer Geschäftsmann angeboten. Also eine vornehme, einträgliche Bettelei. Dies betrieb ich täglich bei 5–7 verschiedenen größeren Gewerbetreibenden, konnte also auf diese Weise anständig, sehr anständig leben. Für meine Begleiterin, die ich gleichzeitig als Spionin benutzte, brauchte ich nicht zu sorgen. Sie verdiente reichlich Mittel zu Nahrung und Kleidung und zur Bestreitung der jeweiligen Logisgelder – wir wohnten immer in besseren Gasthäusern. Heute war ich hier, morgen da; heute hieß ich Mayer, morgen Schulze und übermorgen womöglich Schneider, wenn zu viel Müller herumliefen.
In dieser ganzen Zeit – vom Mai 1889 bis Dezember 1890 – lebte ich so gemein, so ausschweifend, daß es jeder Beschreibung spottet. Es ging auch nicht ohne Strafen ab. Einmal wurde ich in Hamburg wegen Diebstahls mit 1 Tag Gefängnis, dann in Altona wegen Hausfriedensbruchs mit 4 Wochen Gefängnis und in Heidelberg wieder wegen Diebstahls mit 14 Tagen Gefängnis bestraft. Alles war mir gleichgültig. Ich steckte zu dieser Zeit so im Sumpfe, daß ich gar nicht mehr fühlte, was Schmutz ist.
Im Dezember 1890 ereilte mich in Hamburg die Nemesis auf längere Zeit; ich erhielt wegen Verbrechens des Diebstahls 1 Jahr Gefängnis.
Im Strafhause kam ich wieder zur Besinnung. Ich gedachte wieder meiner Mutter in der Heimat und wagte es noch einmal um ihre Verzeihung zu bitten, und sie – verzieh dem verlornen Sohne. Ja, sie erlaubte mir sogar, wieder nach Hause zu kommen. Meine Strafzeit nahm ein Ende, und ich kam im Januar 1892 wieder nach E., wo ich von meiner gealterten Mutter freundlich aufgenommen wurde. Meine Geliebte, von der ich glaubte nicht lassen zu können, Adele H. war eine – Witwe! Ja, sie war eine Wittwe! Sie hatte [157] während meiner zweijährigen Abwesenheit geheiratet und ihr Mann war in seinem Berufe als Maschinist verunglückt. Sie hieß jetzt A.F.
Was sollte ich aber in E. anfangen? Die gute Mutter hatte gesorgt. Sie hatte mir durch eine ihrer Freundinnen, durch die Frau des Direktors der städtischen Gasfabrik, zu einer Stellung verholfen als – Kontrolleur. Ich mußte in den Häusern Gas- und Wasseruhren kontrollieren. Das war wirklich eine schöne Stellung nach meinen schändlichen Irrfahrten. Aber – verflucht sei meine Leidenschaft! Ich kam wieder ins alte Geleise hinein, sank wieder hinab in den Schmutz. Was war Schuld? Wer trat mir als Versucher entgegen? Ach, ich fing wieder mit Adele H., der verwitweten Adele F., ein Verhältnis an! Schrecklich, aber wahr!
Meine arme Mutter erfuhr davon, ich zankte mit ihr und verließ am 14. Juni 1892 meine schöne Stellung und das Elternhaus. Wieder planlos und ziellos trieb ich mich mit einem schlechten Frauenzimmer herum und wurde am 8. September 1892 in Innsbruck verhaftet. Die mir zuerkannte Strafe verbüßte ich in Garsten. Der Grund, warum ich, von Garsten entlassen, 10 Tage später schon wieder in Untersuchung saß, war der, daß ich bei meiner Entlassung der lange mühsam unterdrückten Leidenschaft die Zügel schießen ließ und mein ganzes von der Mutter geschenktes Geld sowie meine Kleider in Augsburg verhurte. Mit dem Reste des Geldes konnte ich bloß bis Aschaffenburg kommen. Um die Mittel zur Heimreise zu bekommen, machte ich in Aschaffenburg einen Einbruchsversuch, der mißlang und mir die Zuchthausstrafe einbrachte, die ich eben verbüße. Was wird die Zukunft bringen? Werde ich jemals noch in die Höhe kommen und auf der Höhe bleiben? Ich bin im Abgrund zur Besinnung gekommen; ich erkenne die Situation und täusche mich nicht mehr. Wird mir die bessere Erkenntnis nützen? Wird es nicht mehr dunkel um mich werden?
Ach Gott, laß mich lieber sterben, als nochmals fallen! –[158]
1 | Zwei Jahre nach der vorhergehenden kürzeren Biographie ins Heft geschrieben. 6. E.K. von E., ehelich geboren 1866, prot., lediger Skribent. Vorstrafen: 7mal Gefängnis und 2mal Zuchthaus. Zuletzt 3 Jahre Zuchthaus – wegen Betrugs, Diebstahls, Unterschlagung. Aus gutem Hause. Nicht tätowiert. Epileptiker. Gute Führung. Fand zuletzt wegen seines Leidens nirgends Arbeit. Groß und kräftig. Nach Verbüßung seiner Strafe nach Bethel entlassen. |
2 | 6. E.K. von E., ehelich geboren 1866, prot., lediger Skribent. Vorstrafen: 7mal Gefängnis und 2mal Zuchthaus. Zuletzt 3 Jahre Zuchthaus – wegen Betrugs, Diebstahls, Unterschlagung. Aus gutem Hause. Nicht tätowiert. Epileptiker. Gute Führung. Fand zuletzt wegen seines Leidens nirgends Arbeit. Groß und kräftig. Nach Verbüßung seiner Strafe nach Bethel entlassen. |
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