12.


[364] Mit Anfang December 1829 hatte sich der Winter in ungewöhnlich rauher und strenger Gestalt eingefunden. Massenhafter Schneefall, von gewaltigen Stürmen begleitet, hatte auf dem ausgedehnten Glacis Wiens förmliche Gebirgszüge von Schnee und Eis geschaffen, welche von nachfolgenden Frösten immer verdichtet und durch neuerliche Schneestürme bis zu solcher Höhe angehäuft wurden, daß man fast durch drei Monate auf den ausgeschaufelten Gehwegen wie zwischen hohen Mauern dahinschritt. Thauwetter lernte man in diesen Monaten gar nicht kennen, und die Dächer der alten Vindobona drohten mehr als einmal unter ihrer weißen Bürde zu erliegen. Am Donaucanal hatte man aus Eisschollen einen Krystallpalast erbaut, der magisch beleuchtet wurde. Einige Unsinnige kamen auf den Einfall, dort zu tanzen, wobei sich Viele durch die Erkältung den Tod holten.

Die unheimlichsten Vorahnungen bemächtigten sich der Gemüther der Einwohner, wenn die Nachrichten einliefen, daß das Strombett der bis zum Grunde gefrorenen mächtigen Donau factisch verschwunden sei, weil eine weiße Decke die[364] Schifftragende mit dem Uferlande und dem großen Marchfelde zu einem Ganzen verband. Der Verkehr zwischen der Hauptstadt und den Landdistricten war zeitweise selbst nicht mit Schlitten zu ermöglichen und unwillkürlich erinnerten mich diese Erscheinungen an jenes furchtbare Jahr 1812, dessen eisiger Hauch auf den unermeßlichen Schneefeldern Rußlands die Legionen des modernen Cäsar vernichtet hatte.

Die bangen Besorgnisse sollten nur zu sehr zur Wahrheit werden. Mit den letzten Tagen des Februars 1830 stellte sich plötzlich Thauwetter ein. Die ungeheuren Schneemassen lösten sich mit schrecklicher Schnelligkeit auf und strömten ihrem natürlichen Abzugscanale, der Donau, zu. Wie aber sollte die selbst so schwer Belastete die Fluten aufnehmen und ableiten? Die Auen und Inseln der Donau, das umliegende Land standen unter Wasser, bevor an ein Brechen und Bewegen des Stromes zu denken war.

Da endlich, in der Nacht zum 1. März, verkündeten die gewohnten Kanonensignale der weiten Kaiserstadt, daß die Stunden der Gefahr herannahten. Oberhalb Wien brach die Eisdecke zuerst und wälzte ihre furchtbaren Eiskolosse nach dem Strombette im Weichbilde Wiens. Thurm-, jabergähnliche Krystallwände drängten gegen die Brücken, zersplitterten dieselben und spieen ihre abfließenden Wasser auf die ohnediesschon durchtränkte Landschaft. Die ganze Leopoldstadt, die Brigittenau, die Auen und Inseln der Donau, das weite Marchfeld verwandelten sich in ein wogendes Meer, die Dächer und Ortschaften verschwanden in den Fluten, Menschen und Vieh in bedauerlicher Anzahl fielen dem rasenden Elemente zum Opfer, die schrankenlosen[365] Wogen führten Hab und Gut der unglücklichen Landbewohner auf ihrem breiten Rücken dem nahen Ungarlande zu.

In den Straßen der Vorstädte Leopoldstadt, Roßau, Liechtenthal, Landstraße, in den tiefergelegenen Theilen der inneren Stadt war eine förmliche Schifffahrt organisirt; man hätte glauben können, in den Lagunen Venedigs umherzurudern.

Unermeßlich war der Verlust an Menschenleben und an Eigenthum; halbe Ortschaften waren vernichtet, vor den zermalmten Trümmern standen die händeringenden Bewohner, ihre fehlenden Familienglieder vergebens suchend, beraubt des Obdaches, dem entsetzlichsten Nothstande, dem Hungertode bloßgestellt.

Die umfangreichsten Rettungsanstalten waren in das Leben gerufen, leider zu spät! Man hatte diese Dimensionen des beklagenswerthen Ereignisses nicht vorausgesetzt.

Ein Comité von den angesehensten und einflußreichsten Persönlichkeiten hatte sich zu dem Zwecke gebildet, den unglücklichen Landleuten nach Kräften Hilfe und Trost zu bieten. Das reiche Wien, welches in den damaligen Zeiten materiellen Wohlstandes einen sehr gutgestellten Mittelstand besaß, erschöpfte sich in Beisteuerung mildthätiger Gaben. Hof, Adel, Bürger, Arbeiterclassen, Alle gaben nach ihrer Stellung mit offener Hand. Wohlthätigkeitsconcerte fanden in Masse statt. Alle Theater wetteiferten in Vorstellungen, deren Erträgniß den Leidenden zufließen sollte.

Die Regie des Hofburgtheaters hatte zur Beneficevorstellung dieses denkwürdigen Jahres Goethes »Götz von Berlichingen«[366] gewählt, nach der zweiten Bearbeitung des Verfassers, denn Goethe's letzte Theatereinrichtung gelangte erst vier Jahre später zur Darstellung.

Das Stück war bis zu den Proben studirt, als die Tage des Unglücks einbrachen. Der oberste Hoftheaterdirector forderte die Regie auf, die erste Vorstellung an die Nothleidenden abzutreten und dafür die erste Vorstellung des nächsten neuen Stückes zu nehmen, wobei der Regie der etwaige Ausfall gegen die Einnahme des Goethe'schen Schauspiels ersetzt werden sollte. Die Regie fand jedoch keine Veranlassung, von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen. »Götz von Berlichingen« fand eine rauschende Aufnahme bei dem Publicum und ich möchte sagen, daß die damalige Einrichtung den Eindruck der später einstudirten Goethe'schen Einrichtung übertraf. Ein paar Scenen der Adelheid, der Bauerntumult zu Anfang des fünften Actes, welche in der späteren Scenirung weg fielen, waren von der glücklichsten Wirkung.

Koberwein als Selbitz, Fichtner als Franz waren vortrefflich und eine unvergeßliche Gestalt lieferte Wilhelmi als Metzler. Welche bestialische Rohheit mit einem wahren Höllenhumor ausgestattet! Seine Erzählung von den Weinsberger-Gräueln, mit einer Stimme vorgetragen, die auf den häufigen Genuß von Spirituosen hindeutete, war ein Meisterstück, und Caroline Müller that ihr Bestes, als Adelheid die Sirene von Bamberg zu sein.

Ich selbst errang mit dem Götz einen bedeutenden Erfolg, der allerdings zum Theile von dieser herrlichen Bühnengestalt unzertrennlich ist.[367]

Für den Götz von Berlichingen bedarf es kaum einer kritischen Charakterprüfung. Die Gestalt liegt so offen und einfach da, daß nicht fehlzugreifen ist, sobald man die individuellen Eigenschaften dafür besitzt: Kraft, Derbheit, Einfachheit und Humor! Ohne diese Eigenschaften findet man die Farben zum Götz auch in fünfzig Jahren nicht und wenn man die Farbenkasten aller Maler ausleert.

Als Ersatz für die aufgegebene Benefice-Vorstellung des »Götz« wurde der Regie die erste Einnahme von Raupach's »Der Müller und sein Kind« überlassen.

Dieses Drama ist seit dem Jahre 1848 in Wien, wo es allein noch gegeben wird, der Gegenstand einer unermüdlichen Verfolgung von Seite der Tageskritik. Man wirft ihm die Lazareth-Atmosphäre vor – sic! Aber man verketzert es noch mehr, weil es den Aberglauben unterstützen soll. Das habe ich nie einsehen können. Alle, die am Aberglauben hängen, werden durch die Ereignisse dem Publicum gegenüber ad absurdum geführt und wie man Conrads Traum auf dem Friedhofe für ein wirkliches Ereigniß, für eine wahrhafte Gespenstererscheinung halten kann, ist geradezu unbegreiflich.

In Wien ist »Müller und sein Kind« im Laufe der Jahre zu einem Theile des Gräbercultus am Allerseelentage geworden und die jährliche Vorstellung des Stückes an dem bestimmten Tage wird vom Publicum als eine Art Buß- und Fastenpredigt gesucht und genossen. Die Leute wollen sich an dem Tage ausweinen und dazu scheint ihnen »Müller und sein Kind« vortrefflich geeignet. Die Cassenrapporte am Allerseelentage nehmen von Jahr zu Jahr riesenhaftere Ziffern an, ein ganz[368] ungewöhnliches Publicum ist an diesem Tage anzutreffen und Hunderte Thränenbedürftiger müssen abziehen, ohne Plätze zu erobern. »Der Müller und sein Kind« ist Wiens bedeutendstes Volksstück geworden und es liegt doch auch darin ein Beweis, daß wirklich ein Hauch echten Volkstones darin herrschen muß.

Schreyvogl, ein Mann, der nicht von Stroh war, schrieb einen Prolog zu dem Stücke, den ich zu sprechen hatte und der mit dem kategorischen Verse begann:


»Dem unbefang'nen Sinn muß es gefallen!«


Und der Mann hatte, wie so häufig, Recht gehabt.

Für mein Privatleben war das Jahr 1839 nicht ohne Bedeutung. Der März gab mir meine jüngste Tochter, deren Geburt beinahe das Leben der Mutter kostete, und im Herbst führte meinen ältesten Sohn aus erster Ehe die freie Neigung in die Reihen der kaiserlichen Armee.


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 364-369.
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