Unstimmigkeiten

[183] Es ist unvermeidlich, daß in einer Partei, sei sie auch noch so geschlossen und in ihrer persönlichen Auffassung einig, im Laufe des Kampfes Meinungsverschiedenheiten entstehen und sich Gegensätze herausbilden. Es gibt keine Partei, die dergleichen Erfahrungen nicht gemacht hätte oder macht. Die Sozialdemokratie macht darin keine Ausnahme.

Parteien, die in der Macht sind und ihre Machtstellung gegen Angriffe zu verteidigen haben, sind geschlossener als solche, die um die Eroberung der Macht kämpfen. Bei diesen letzteren entstehen leicht Meinungsverschiedenheiten[183] über die zu beobachtende Taktik, über Fragen wie die, in welcher Weise und mit welchen Mitteln man zu kämpfen habe, wie weit man dem Gegner entgegenkommen könne oder solle, welche Wirkung auf den Gegner die eine oder andere Kampfmethode ausüben werde und welchen Erfolg die eine oder andere zeitige.

Aber die Wahl der Kampfmethode ist keine freie; sie wird beeinflußt durch die Kampfweise und Machtmittel des Gegners, die den Angreifer zwingen, zu kämpfen nicht wie er will, sondern wie er muß. Darüber entstehen alsdann Meinungsverschiedenheiten, die durch Temperament und Charakter der einzelnen, die verschiedenartige Auffassung der allgemeinen Lage und der eigenen Partei zu Reibungen und Meinungskämpfen führen.

Solche Meinungskämpfe sind in der Sozialdemokratie vorgekommen, solange sie besteht, und sie werden bleiben, solange die Partei lebt, dabei allerdings nach den Umständen ihren Charakter ändern. Sollen aber solche Meinungskämpfe innerhalb einer Partei zu ihrem Nutzen verlaufen, so ist die erste Bedingung eine freie Aussprache der Meinungen, die einen Ausgleich der gegensätzlichen Auffassung herbeiführen kann.

An der Möglichkeit einer solchen offenen Aussprache, die Lebensluft für eine demokratische Partei ist, fehlte es aber unter dem Sozialistengesetz in hohem Grade. Die Kongresse, die immer erst in langen Zwischenräumen und unter Überwindung großer Schwierigkeiten stattfinden konnten, genügten allein nicht; auch die Konferenzen, die zeitweilig unter den führenden Genossen abgehalten wurden, waren nur ein Notbehelf. Ihre offene Ausfechtung im Parteiorgan war aber sehr schwierig und bedenklich, weil man dabei den Gegner in die Karten sehen lassen mußte. So erklärt es sich, daß Meinungsverschiedenheiten in der Partei zeitweilig einen unangenehmen Charakter annahmen und auf beiden Seiten zeitweilig der Glaube entstand, es werde zu einer Spaltung kommen.

In die Öffentlichkeit drang von diesen Meinungsverschiedenheiten nur wenig, aber unzweifelhaft war, daß, falls es zu erregten, öffentlichen Erörterungen gekommen wäre, die ungeheure Mehrheit der Parteigenossen jeden Versuch, eine Spaltung hervorzurufen, zurückgewiesen hätte.

Ich habe angeführt, wie schon die Gründung des »Sozialdemokrat« unter den führenden Genossen nicht mit allgemeiner Sympathie begrüßt wurde. Auch die Haltung des Blattes wurde von einem Teil derselben fortgesetzt unliebsamer Kritik unterzogen; einzelne traten dem Blatt sogar direkt feindlich gegenüber und rührten für seine Verbreitung keinen Finger. Das hielt aber die Masse der Genossen nicht ab, ihre volle Schuldigkeit für[184] das Blatt zu tun. Die Unzufriedenheit mit der Haltung des »Sozialdemokrat« wurde bei den charakterisierten Elementen größer, als Bernstein die Redaktion übernommen hatte und dem Blatt eine Richtung gab, die nicht nur bei Marx und Engels, sondern auch bei der Masse der Parteigenossen vollste Zustimmung fand, die sich in einer raschen Zunahme des Leserkreises äußerte. Im Juli konnte bereits die Verwaltung des »Sozialdemokrat« mitteilen, daß trotz der enormen Kosten, die namentlich die Beförderung des Blattes nach Deutschland verursachte, es seine Kosten decke. Diese Nachricht veranlaßte Engels, mir zu schreiben, daß dieses ein einzigartiger Erfolg sei, den bisher keine verfolgte Partei aufzuweisen gehabt habe.

Das Unbehagen mit der Haltung des »Sozialdemokrat« wuchs auch in den Regierungskreisen. In den sogenannten Begründungen für die weitere Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend, Hamburg-Altona und Umgebung und Stadt und Amtshauptmannschaft Leipzig spielten Zitate aus dem »Sozialdemokrat« eine wichtige Rolle, wobei es nicht ohne tendenziöse Entstellungen abging. Statt aber diese Methode mit aller Schärfe zurückzuweisen, gaben die beiden Redner der Fraktion nach Ansicht der Redaktion des »Sozialdemokrat« das Blatt preis und suchten es von der Partei abzuschütteln. Das führte zu einer scharfen Zurückweisung seitens der Redaktion, die wieder Gegenerklärungen der Redner hervorrief. Außerdem hatte der »Sozialdemokrat« in einem Artikel erklärt, die Debatte sei nicht so geführt worden, wie es die Situation erforderte. Der Vorgang rief unter uns eine große Erregung hervor; insbesondere war auch nach meiner Meinung die Desavouierung des »Sozialdemokrat« als Zentralorgan der Partei aufs schärfste zu mißbilligen, und so trat die Fraktion unter Hinzuziehung von Auer und mir, die wir ja beide infolge unseres Durchfalls bei der Wahl der Fraktion nicht angehörten, zusammen und vereinbarte eine einstimmig angenommene Erklärung. Diese besagte, daß über den offiziellen Charakter des »Sozialdemokrat« kein Zweifel bestehe, und sollte die erste Gelegenheit benutzt werden, zu erklären, daß die Fraktion mit der Gesamthaltung des Blattes vollkommen einverstanden sei.

Diese Erörterungen wurden dadurch weitergesponnen, daß der aus Hamburg ausgewiesene und in Kopenhagen lebende Parteigenosse Breuel in einem Artikel des »Sozialdemokrat« dessen Haltung tadelte und sich im wesentlichen auf den Standpunkt der angegriffenen Abgeordneten stellte. Das war dann das Signal, daß die Parteigenossen einer großen Anzahl Orte[185] und Bezirke im In- und Ausland durch Erklärungen sich auf Seite des »Sozialdemokrat« stellten.

Unter denen, die mit der Haltung des Blattes, aber auch der der Fraktion nicht einverstanden waren, befand sich Karl Hochberg. Sätze, die in der Begründung der ersten Unfallversicherungsvorlage enthalten waren, wie die: man müsse die Arbeiter überzeugen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei; daß der Staat nicht als eine lediglich zum Schutze der besitzenden Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch den Arbeiterinteressen und -bedürfnissen dienende Institution aufzufassen sei, und daß, wenn die Gesetzgebung ein Ziel wie im Unfallversicherungsgesetzentwurf verfolge, das Bedenken, daß damit ein sozialistisches Element eingeführt werde, von der Betretung dieses Weges nicht abhalten dürfe, hatten es ihm angetan. In Briefen an Auer und mich suchte Höchberg uns von unserer irrigen Auffassung abzubringen. Darauf schrieb ich an Auer unter dem 4. Januar 1882 aus Dresden:


»Lieber Auer!


Das Prosit Neujahr erwidere ich, wenn auch etwas spät. Meine Familie war bis Montagnachmittag hier (in Dresden), und da kommt man nur zum Notwendigsten, dann reiste ich ab und kam erst verflossene Nacht heim. Erfreulich wird 1882 für uns auch nicht, doch mag kommen was da will, wir halten aus, einmal kommt doch nach oben, was unten ist, und dann wollen wir Revanche holen. ...

Karl (Höchberg) hat auch an mich einen langen Brief im gleichen Tone geschrieben, ich habe ihm ausführlich geantwortet und den ›Sozialdemokrat‹ entschieden in Schutz genommen. Karl ist einfach Philanthrop, er hat die Bewegung nie begriffen und kann sich von dem Klassencharakter der modernen Gesellschaft keine Vorstellung machen. Er glaubt, die Welt könne durch Philanthropie umgewandelt werden und es bedürfe nur des guten Willens weniger Mächtiger, und alles sei gemacht. Von dieser Anschauung aus begreift es sich, daß er den sozialistischen Experimenten eine ungemeine Bedeutung beilegt und bereits Versprechungen und Gerüchte für Taten annimmt.

Ich habe ihm geantwortet, daß wir gar keine Ursache hätten, unsere Taktik zu ändern, solange nicht die andere Seite sie ändere. Bisher sei man dort über leere Redensarten und faule Versuche nicht hinausgekommen, erst wenn man dort mit den Phrasen aufhöre und die ernste Tat zeige, wäre für uns der Moment gekommen, auch ernsthaft zu prüfen. Man könne ja von[186] jener Seite gar nichts Besseres tun, als ernsthaft zu reformieren, dann zwinge man uns, Stellung zu nehmen, und man könne uns dann vielleicht spalten, zum mindesten schwer schädigen, wenn wir uns dem Guten wirklich verschließen usw. usw.

Daß meine Vorlesung etwas hilft, glaube ich nicht, seine ganze Natur widerstrebt der tieferen Auffassung, er wird, wie schon öfter, wenn er nicht mehr zu antworten weiß, die Polemik einstellen.

Mich ärgert einigermaßen der immerwährende Versuch des Zurückhaufens und Verwässerns, den er macht, so oft er sich wieder ein wenig körperlich wohl fühlt. St. in B. war sicher aufgefordert, ihm zu sekundieren, und der versteht das allerdings mit Geschick.

Ich bin allerdings auch der Meinung, daß wir, wenn irgend möglich, versuchen, dies Jahr in größerer Zahl zusammenzukommen. Nicht um eine Spaltung zu verhüten, denn diese kommt am Ende doch, wenn erst sich die Dinge weiterentwickeln. Für mich ist kein Zweifel, daß ein Teil unserer Führer schon seit längerer Zeit kampfesmüde ist, daß dieser Teil schon früher wider seinen Willen weitergetrieben wurde, als er seiner Natur und seiner Auffassung nach gehen wollte, und heute nur noch äußerlich zur Sache hält, entweder weil er sich selbst des Gegensatzes in der Auffassung nicht klar ist oder sich sagt, daß er auf die Zustimmung der Massen schwerlich zählen kann und dann seiner bisherigen Stellung verlustig geht.

Der Differenzpunkt liegt nicht darin, ob in fünf Jahren eine Revolution ausbricht. Darüber mag man sich streiten, ein Spaltungsgrund ist es nicht, es wäre wenigstens großer Unsinn, einen daraus zu machen. Der Differenzpunkt liegt vielmehr in der ganzen Auffassung der Bewegung als Klassenbewegung, die große, weltumgestaltende Ziele hat und haben muß und deshalb keinen Kompromiß mit der herrschenden Gesellschaft eingehen kann, und, wenn sie es täte, einfach zugrunde ginge respektive in neuer Gestalt und von der bisherigen Führerschaft befreit sich regenerierte.

Indes werden die Kompromißsüchtigen und Ruhebedüftigen unter uns schon deswillen keinen Anhang finden, weil weder Bismarck noch eine der Parteien Reformvorschläge bringen kann, die nur halbwegs akzeptabel erscheinen. Es wird in allen diesen Dingen bei dem bloßen Versuch bleiben, und kommt etwas zustande, so wird es eine solche Halbheit sein, daß diese erst recht das Bedürfnis nach ganzer Arbeit – die die heutigen Machthaber zu leisten unfähig sind – erweckt.

Weshalb ich eine größere Zusammenkunft wünschte, ist, daß man sich einmal recht gründlich und ungeniert über den bestehenden Zustand der[187] Dinge und die wahrscheinliche Zukunft aussprechen kann und mit denen zu verständigen vermag, mit denen man in der Grundanschauung sympathisiert. Ich fürchte nur, daß bei einer solchen Zusammenkunft diejenigen fehlen oder schweigen werden, die anderer Auffassung sind, ohne es eingestehen zu wollen. Aber das ist natürlich kein Grund, die Zusammenkunft zu unterlassen.

Die Verlängerung des fraglichen Gesetzes halte ich für unzweifelhaft, wenn nicht ein mit Illusionen sich wiegender Reichskanzler alsdann das Heft in der Hand hat – und ich wüßte nicht, wer jener Illusionär sein sollte – oder bei dem Thronwechsel in der ersten Hitze ein Versöhnlichkeitsgefühl die Oberhand bekommt, das mit der sonst maßgebenden Staatsräson arg kontrastiert. Das sind nahezu undenkbare Fälle. Die einzige Konzession, die vielleicht gemacht wird, ist die Aufhebung des Belagerungsszustandes, alles andere bleibt, es sei denn, daß ein Vereins- und Versammlungsrecht für das Deutsche Reich und eine Verschärfung der Strafgesetze in einer Weise möglich wird, die das Ausnahmegesetz überflüssig machen. Dazu dürfte sich aber schwerlich eine Majorität finden, denn sie verschlechterte den Zustand für alle anderen Parteien, nicht bloß für uns, und sich diese Rute selber aufzubinden, dazu liegt gar kein Grund vor. Alle Parteien ohne Ausnahme, von einzelnen Personen abgesehen, sind froh, daß das Gesetz gegen uns besteht, alle sähen mit wahrer Angst dem Zeitpunkt entgegen, wo wir wieder frei auf die Bühne träten; alle wissen, daß dann unser Anhang sich lawinenartig vergrößern würde, denn wir haben wohl Aussicht auf weitere Verschlechterung unserer ökonomischen Zustände, aber keine auf Verbesserung, höchstens nur auf sehr vorübergehende und kaum allgemein merkbare Verbesserung.

Das fühlen alle Parteien instinktiv, und daher sind alle von einer tödlichen Furcht über das, was wir dann würden, beseelt, und so wird sich 1884 die Majorität schon finden, die weiter verlängert und sich den stillen Dank der Opposition verdient.

Unser Verhalten wird an dem Verhalten unserer Gegner gar nichts ändern. Um einigermaßen zu wirken, müßten wir alles abschwören und verleugnen, unser Organ vernichten, unsere Reden im Reichstag und Landtag kastrieren, kurz, wir müßten alles unterlassen, was unseren Gegnern auch nur im geringsten mißfallen könnte. Und wenn wir das alles täten, würde man noch immer mehr verlangen und schließlich – uns doch nicht glauben, sondern erklären, das alles sei nur Heuchelei, auf Düpierung berechnet,[188] und jetzt müsse man erst recht vorsichtig sein. Wir wären dann die gründlich Blamierten.

Der Kulturkampf sollte uns als warnendes Beispiel dienen. Wenn jemand denen oben Konzessionen machen und eine sehr erwünschte Hilfe bringen kann, ist es die katholische Kirche, und wie vorsichtig geht man da zu Werke, wie mißtraut man sich gegenseitig, obgleich man in letzter Instanz sich gegenseitig sehr nötig braucht.

Das einzige, was wir tun können und müssen, ist, nicht unnötig provozieren und kaltes Blut behalten, obgleich das bei den gegen uns ständig verübten Schweinereien verflucht schwer ist und von keinem von uns unter allen Umständen eingehalten werden kann. Jeder hat das Bedürfnis, seinem Grimm und Groll gelegentlich einmal Luft zu machen, und da passiert dann manches, was die Fischblütigen in Aufregung versetzt. Wir befinden uns in einer Situation, wo Fehler oder ein Verhalten, das als Fehler angesehen wird, unvermeidlich sind, und da bleibt schließlich keine andere Wahl, als das Unvermeidliche mit in den Kauf zu nehmen oder auszutreten.

Wir könnten nichts weiter tun, als uns allesamt bemühen, Fehler möglichst zu vermeiden, ganz vermeiden können wir sie nicht, wenn wir uns nicht selbst geistig und moralisch kastrieren wollen, und dann wollen wir nicht vergessen, daß unsere Fehler die Fehler unserer Gegner sind; wir schieben nicht, wir werden geschoben. So ist also unsere Taktik – wenn wir nicht unsere Prinzipien verleugnen wollen – uns weit mehr durch unsere Feinde vorgeschrieben, als daß wir sie uns selbst vorschreiben könnten.

Eine Frühjahrssession wird schwerlich stattfinden, auf die werden wir also kaum rechnen können, eher auf den Herbst, wo man vermutlich früher zusammenkommt.

Wenn Ihr, Du und Gr., das Verabredete ausführt, so rate ich zur größten Vorsicht in den Briefen, es ist wirklich arg, wie wenig sich ein Teil unserer Leute in die Situation zu finden vermag. Von dem beiliegenden Zettel kann ich Euch eine größere Partie zur Verfügung stellen.

Mit den besten Grüßen an Dich und die Deinen

Dein August Bebel«


In der damals tagenden Reichstagssession fehlte es der Fraktion nicht an Arbeit. Die Regierungen hatten abermals den Entwurf zu einem Unfallversicherungsgesetz eingebracht, der auf einer prinzipiell anderen Grundlage wie der vorhergehende fußte und den Wünschen der bürgerlichen Parteien mehr entgegenkam. Zu diesem Entwurf sprachen Grillenberger[189] und Kayser. Ein Antrag der Fraktion auf Aufhebung aller Ausnahmegesetze kam nicht mehr zur Verhandlung.

Ein Hauptgegenstand der Beratung war die Tabakmonopolvorlage, die Professor Adolf Wagner und Genossen als das »Patrimonium der Enterbten« den ihr mißtrauisch gegenüberstehenden Massen zu empfehlen suchten. Angeblich sollten die Überschüsse des Monopols für Zwecke der Arbeiterversicherung Verwendung finden. Die Vorlage lautete wesentlich anders. Wohl sollte ein kleiner Teil des auf rund 161/2 Millionen berechneten Überschusses für die Unfallversicherung verwendet werden, aber den Hauptteil schluckte das Reich für Militär- und ähnliche Zwecke. Von den rund 100000 Arbeitern und Arbeiterinnen der Tabakindustrie glaubte man 80000 weiterbeschäftigen zu können, etwa 8000 wollte man entschädigen, der Rest von 12000 sollte leer ausgehen. Und nun der Lohn? 80000 sollten durchschnittlich im Jahr einen Hungerlohn von 577 Mark erhalten. Man rechnete in der Mehrzahl auf weibliche Arbeiter. Der Hauptredner der Fraktion war Vollmar, der in einer ausgezeichneten Rede die Vorlage zerpflückte, mit der man politischen Bauernfang treiben wolle. In der späteren Beratung sprach Hasenclever ebenfalls gut gegen die Vorlage. Die Liberalen wollten Vollmar einen Platz in der Kommission einräumen, ihnen war unsere Opposition hochwillkommen. Die Fraktion lehnte ab, sie wollte ohne Kommissionsberatung den Entwurf begraben. Er wanderte schließlich in den Papierkorb.

In der Nummer 34 und 35 des »Sozialdemokrat« erschienen ohne Nennung des Verfassers zwei Artikel mit der Überschrift: »Aufhebung des Ausnahmegesetzes«, in denen der Verfasser die Frage erörterte: ob es für die Partei nützlicher sei, daß das Gesetz aufgehoben oder durch Verschärfung des allgemeinen Gesetzes ersetzt werde. Der Verfasser sprach sich für die Beibehaltung des Gesetzes als den für die Partei wünschenswertesten Zustand aus, weil er die Partei zum Entscheidungskampf dränge. Er berief sich dabei auf eine Stelle in Liebknechts Broschüre: »Die politische Stellung der Sozialdemokratie«, wo es hieß: der Sozialismus ist keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld entschieden werden kann.

Der Verfasser führte weiter aus: Man müsse über den Kriegsplan schlüssig werden. ... Alle müßten von der Überzeugung erfüllt werden, daß kein Vergleich, kein Friedensschluß den Kampf wenden könne, sondern daß die Entscheidung allein beim Schwert stehe. ... Die offenen Spiele sind die starken Spiele. Lassen wir alles Verstecken, Vertuschen, Leugnen und Heucheln[190] als unser unwürdig. ... Sagen wir offen und steifnackig unseren Feinden: Jawohl, wir sind »staatsgefährlich«, denn wir wollen euch vernichten. Jawohl, wir sind die Feinde eures Eigentums, eurer Ehe, eurer Religion und eurer ganzen Ordnung. Jawohl! Wir sind Revolutionäre und Kommunisten. Jawohl! Wir werden der Gewalt mit Gewalt begegnen. Jawohl! Wir glauben fest an eine baldige Umwälzung und Befreiung, wir hoffen auf sie und bereiten uns durch geheime Organisation und Agitation und alles, was eure Gesetze verbieten und uns gut dünkt, auf dieselbe nach Kräften vor. ...

Die beiden Artikel, als deren Verfasser nachher Vollmar bekannt wurde, machten großes Aufsehen, die einen rühmten sie, die anderen mißbilligten sie, die dritten lasen sie mit Kopfschütteln. Zu diesen letzteren gehörte ich. Engels schrieb mir in dem schon oben zum Teil zitierten Brief, den er wegen der Nachricht von meinem Tode an mich richtete: »Nach einiges Artikeln, die er in den ›Sozialdemokrat‹ geschrieben (über eine etwaige Abschaffung des Sozialistengesetzes), scheint Vollmar sich sehr herausgemacht zu haben. Es sollte mich freuen, wenn sich dies auch sonst bestätigte, wir können tüchtige Leute verdammt gut gebrauchen.«

Das war auch meine Meinung, aber gleichwohl konnte ich mich mit den beiden Artikeln nicht einverstanden erklären, und so schrieb ich an Engels:


»Borsdorf bei Leipzig, den 1. Oktober 1882.


Lieber Engels!


Deinen vor zwei Monaten geschriebenen Brief – den ich augenblicklich in Leipzig liegen habe und mir also nicht zur Hand ist – wie Deinen Brief vom 23. vorigen Monats habe ich erhalten. Es ist für mich sehr schmeichelhaft, daß die Nachricht von meinem angeblichen Tode bei Euch und überhaupt im Kreise der Parteigenossen soviel Bestürzung und Teilnahme hervorgerufen. Da habe ich gesehen, wie wert ich den Freunden und Gesinungsgenossen bin, und das legt mir ja die Pflicht auf, nun erst recht zu leben und meine Schuldigkeit zu tun. Einstweilen habe ich einen Pakt auf weitere vierzig Jahre mit dem Sensenmann geschlossen; ich denke, diese Zeit reicht nicht nur, um den Zusammenbruch des Alten zu erleben, sondern auch noch ein redliches Stück vom Neuen zu genießen.

Wer eigentlich die Nachricht von meinem Abkratzen in die Welt gesetzt, habe ich bis jetzt nicht ausfindig machen können; ich weiß nicht einmal, wo die Nachricht zuerst aufgetaucht ist. Ich ersah nur aus verschiedenen Zuschriften, die meine Frau während meiner Krankheit in Leipzig[191] empfing, daß man allerlei Nachrichten von gefährlicher Erkrankung in die Presse gebracht. Daß ich auch gestorben sein sollte, erfuhr ich, nachdem ich bereits hierher übergesiedelt war, und zwar infolge eines Telegramms der Pariser Parteigenossen an meine Frau, worin diese ihr Beileid über meinen Tod aussprachen.

Meine arme Frau war über dieses Telegramm nicht wenig erschrocken, sie glaubte im ersten Augenblick, man wisse in Paris mehr über mich wie sie, der man aus Schonung vielleicht die Nachricht verheimlicht habe.

Kurz und gut, die Nachricht ist erfunden, und das ist uns ja allen recht. Ich habe mich jetzt wie Liebknecht einige Stunden von Leipzig hier in Borsdorf festgesetzt. Ein elendes Dorf, das einige hundert Einwohner zählt und in einer Ebene flach wie ein Teller liegt. Der Vorteil ist nur, daß es der Zentralpunkt der Linien Leipzig-Riesa-Dresden und Leipzig-Döbeln-Dresden ist und infolgedessen sehr gute Eisenbahnverbindung mit Leipzig hat, so daß unsere Familien bequeme Fahrt nach hier und wieder zurück haben. Liebknecht und ich wohnen in einem Hause und jeder hat genügend Raum, so daß auch die Familie mal übernachten kann.

Nunmehr hoffe ich auch pünktlicher in meiner Korrespondenz und fleißiger in literarischer Beziehung sein zu können. Ich habe nach beiden Richtungen seit Jahr und Tag fast nichts leisten können.

Wie ich höre, hattest Du anfangs die Vermutung, die beiden ›Artikel‹ im ›Sozialdemokrat‹ über das Sozialistengesetz seien von mir. Wie Du mittlerweile weißt, ist das nicht der Fall. Die Artikel sind gut geschrieben und prinzipiell korrekt, aber taktisch falsch. Wenn wir die Sprache führen, die Vollmar führt, dann sitzen wir binnen vier Wochen auf die §§ 80, 81, 128, 129 usw. unseres Strafgesetzbuches sämtlich im Loch und haben unsere fünf bis zehn Jahre am Halse; und wenn das Blatt in gleichem Stile schreiben wollte, würde dasselbe jedem passieren, der mit der Verbreitung des Blattes abgefaßt würde.

Diese Sprache ist einfach unmöglich, so prinzipiell richtig sie ist; wir richten uns aber mit dieser Sprache zugrunde, und daher dürfen wir sie nicht reden.

Mir ist diese Sprache Vollmars um so schwerer begreiflich, als Vollmar selbst, unter voller Würdigung unserer Zustände, regelmäßig, sobald eine Reichstagssession ihrem Ende naht, Deutschland verläßt und sich in der Zwischenzeit auf deutschem Boden nicht betreffen läßt. Grund hierfür ist seine frühere Tätigkeit am ›Sozialdemokrat‹, die der deutschen Polizei sehr genau bekannt ist. Vollmar fürchtet meines Erachtens mit Recht, daß man[192] ihn sofort fassen und prozessieren wird, sobald man seiner außerhalb der Reichstagssession habhaft werden kann. Und nun rät er uns, die wir mitten unter den Wölfen sitzen, eine Taktik an, die uns unrettbar ans Messer lieferte. Ihr im Ausland könnt Euch aber gar nicht in unsere Lage denken und wißt nicht, wie wir zu lavieren haben, um nicht mit etwelchen Strafgesetzbuchparagraphen, die man schon lange für uns bereithält, gefaßt zu werden. Daß man eines Tages die §§ 128 und 129, handelnd von der geheimen und ungesetzlichen Organisation, gegen uns wird anzuwenden versuchen, ist für mich zweifellos, und kann man uns packen, fliegen wir mit einigen Jahren hinein. Und da sollen wir uns noch auf den Markt stellen und uns selbst denunzieren?

Ich werde gegen die Artikel schreiben. Ich bin auch nicht der Meinung, daß die Beseitigung des Ausnahmegesetzes und die Verschärfung der allgemeinen Gesetze für uns ein Schaden sei und eine Verquickung unserer Partei mit der bürgerlichen Opposition herbeiführe.

Würde zu der vorhandenen, sehr starken Unzufriedenheit der bürgerlichen Schichten über unsere ökonomischen Verhältnisse auch noch die politische Opposition hinzukommen, so wäre das eine wahre Wohltat für uns; denn beides zusammen beschleunigt die Katastrophe, und tritt diese ein, dann sind die bürgerlichen Worthelden von der Bühne verschwunden, und unser Einfluß und unsere Führung werden maßgebend sein. ...

Liebknecht und mir ist es sehr angenehm, zu sehen, daß Du so fleißig am ›Sozialdemokrat‹ mitzuarbeiten gedenkst; namentlich erklären wir uns auch sehr für Deine Artikel betreffend den Bismarckschen Sozialismus und die Lassalleschen Schlagworte. Die eifrigsten Lassalleaner in der Partei stehen heute so, daß sie sich eine Kritik Lassalles gefallen lassen, nur darf diese nicht feindselig gehalten sein, und das wirst Du ja von selbst vermeiden. Also lege nur frisch los, je mehr je lieber. Da Liebknecht Mitte dieses Monats seine Haft antritt, so kommen Deine Artikel doppelt erwünscht, denn bei der gegenwärtigen Gefängnisordnung ist die geheime Mitarbeiterschaft – offen konnte sie ja nie sein – sehr erschwert. Da Liebknecht zwei verschiedene Strafen hat, die durch ein Nachtragserkenntnis [noch reduziert werden dürften. D.H.], das erst nach erfolgter Revision bei dem Reichsgericht, die er gleich mir eingelegt, gefällt werden kann, so ist er in der Lage, mit Eröffnung des Reichstags das Gefängnis zu verlassen.

Ich habe die Absicht, meine Haft am 1. November anzutreten. Bringe ich durch die Revision von meinen acht Verurteilungen mit in Summa fünf Monaten nichts herunter, und das ist schwer anzunehmen, da das Reichsgericht[193] furchtbar reaktionär und in gewisser Richtung in seiner Kompetenz sehr beschränkt ist, so wird das Nachtragserkenntnis mir die fünf Monate hoffentlich auf vier reduzieren, und würde ich dann Mitte März mein Pensum erledigt haben.

Für die Empfehlung der Bücher bin ich Dir dankbar1; ich werde sie mir in der einen oder anderen Weise zu verschaffen suchen.

Wenn Du an Marx schreibst, grüße ihn von mir; auch Tussy bitte ich zu grüßen.

Schreibst Du mir wieder, so benutze die bekannte Adresse weiter. Liebknecht läßt grüßen.

Die sozialen Gesetzentwürfe Bismarcks, die Du für Deine Arbeiten brauchst, werden wir Dir verschaffen. Der Mensch operiert mit riesigem Ungeschick; solche faux pas, wie die ›Provinzialkorrespondenz‹ sie gemacht, dürften nicht vorkommen. Auch daß er den alten Plan der Reichsunfallversicherungsbank – die einzige vernünftige Idee, die er bisher gehabt hat – aufgegeben, weil er sich durch Schäffle hat breitschlagen lassen, mußt Du ihm gehörig unter die Nase reiben.

Schäffles Broschüre ›Der kooperative Hilfskassenzwang‹ (Tübingen 1882, H. Lauppscher Verlag) habe ich kürzlich gelesen. Sie bezweckt, für den neuesten Gesetzentwurf und die Bismarcksche ›Sozialreform‹ Propaganda zu machen, und befürwortet eine Organisation, die das reine Tohuwabohu schafft. Es schadet nichts, wenn Du Herrn Schäffle ein wenig mitverarbeitest.

Gruß und Handschlag von Deinem

A. Bebel.«


Meine Entgegnung auf die Artikel Vollmars erfolgte in Nummer 42 des »Sozialdemokrat« vom 22. Oktober unter der Überschrift: »Aufhebung des Sozialistengesetzes?« In diesem Artikel trat ich den Trugschlüssen, die nach meiner Meinung den Vollmarschen Artikeln zugrunde lagen, entschieden entgegen und lehnte die empfohlene Taktik als unmöglich ab, weil sie die Partei zugrunde richte. In der gegnerischen Presse, die zu jener Zeit den Inhalt des »Sozialdemokrat« aufmerksam verfolgte, fand die Polemik große Beachtung. Sie sahen wieder einmal, wie vorher schon soundso oft, eine Spaltung in der Partei eintreten – denn was man wünscht, glaubt man gern – und unterrichteten in diesem Sinne ihre Leser. Es lag auch in der Natur der Sache, daß ich mit meinen Artikeln den rechtsstehenden Elementen in der[194] Partei eine Genugtuung bereitete, obgleich ernstlich kein Grund dazu vorlag. Engels wieder meinte, ich, hätte die Vollmarschen Artikel zu ernst genommen und machte gegen seine Gewohnheit allerlei mystische Andeutungen, wonach wir das Gesetz früher loswerden würden, als wir selbst glaubten.

Darauf antwortete ich ihm unter dem 14. November durch einen aus dem Gefängnis gepaschten Brief:


»Lieber Engels!


Deinen Brief erhielt ich noch unmittelbar vor Torschluß. ... Da ich Gelegenheit habe, einige Zeilen an Dich zu schmuggeln, so will ich so gut als möglich auf Deinen letzten Brief antworten, denn zu Händen habe ich ihn natürlich nicht.

Ob ich den Artikel von Vollmar zu ernst genommen habe, lasse ich dahingestellt sein. Der ›Sozialdemokrat‹ hat jetzt bei unseren Leuten den allerbedeutendsten Einfluß, weil sie absolut nichts anderes zu lesen bekommen und auch sonst nichts hören. Bleibt eine Meinung wie die Vollmarsche unwidersprochen, wird sie als allgemein gültige anerkannt, und die Folge ist, daß dann die Leute auch die Handlungen danach verlangen. Es muß also jetzt mehr denn je zuvor vermieden werden, Ansichten zu verbreiten, denen zu entsprechen nicht möglich ist. Das sind, kurz gesagt, die Gründe, weshalb ich das Ding ernst nahm. Daß ich bei dieser Gelegenheit ein Lob Vierecks einheimste, war mir weder angenehm, noch hatte Viereck Veranlassung dazu; er hat im Eifer, Kapital für sich daraus zu schlagen, entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, was letzteres ja auch bei den Offiziösen geschah, die lächerlicherweise eine Spaltung ankündigten und das so dumm als möglich anfingen. Vollmar vergißt zu leicht, wenn er in der Schweiz sitzt, wie es bei uns aussieht; ist er in Deutschland, dann ist er viel vernünftiger, das hat seine Monopolrede bewiesen.

Angenehm wäre mir gewesen, wenn Du Dich weniger mystisch ausgelassen hättest, wieso wir denn etwa und vielleicht ganz unerwartet das Gesetz loswerden könnten. Ich kann mir darunter nur zweierlei denken, und ich will versuchen, ob ich Deine Idee errate.

Entweder kommt uns in Bälde abermals eine Handels- und Industriekrise über den Hals, die von Nordamerika ausgeht, und der Rückschlag dieser auf Europa treibt dasselbe aus den Fugen, oder es bricht ein europäischer Krieg aus, dessen eine Wirkung alsdann unzweifelhaft die europäische Revolution ist. Ein Drittes vermag ich nicht zu entdecken.[195]

Der europäische Krieg scheint mir deshalb unwahrscheinlich, wenigstens auf absehbare Zeit, weil nach meiner festen Überzeugung alle europäischen Kabinette genau die Folgen eines großen Krieges kennen und fürchten. Vergeblich sucht man nicht die ägyptische Frage totzutreten auf die Gewißheit hin, daß Englands Macht sich gewaltig dadurch befestigt. Bismarck sucht offenbar auch alles zu vermeiden, was äußere Konflikte schaffen könnte, er weiß zu gut, daß Deutschland am allerwenigsten aus inneren und äußeren Gründen einen Krieg brauchen kann. Zu erobern gibt es nichts, es kann also nur verlieren, und die Situation in dem Innern ist so, daß, ganz abgesehen von der erbitterten Arbeiterklasse, unser Bürgertum infolge einer Kriegserklärung zu drei Viertel seinen Bankerott ansagen müßte, das heißt das System wäre fertig. Ich sehe, abgesehen von Rußland, dem der beste Wille nicht fehlt, keinen Staat, der jetzt eine europäische Verwicklung wünscht, Rußland kann sie aber wegen seiner inneren Schwäche nicht ausnutzen.

Ich halte also einen europäischen Krieg in Bälde nicht für wahrscheinlich, womit nicht gesagt sein soll, daß es an Ursachen mangelt. Zündstoff ist überall in Menge, und der Zufall kann eine Explosion herbeiführen. Aber der Zufall ist doch kein Faktor, mit dem man rechnet.

Die andere Alternative für einen großen Krach: die amerikanische Krise, auf die ich unsere Leute schon seit Jahr und Tag hingewiesen habe, scheint mir dagegen sehr nahe zu sein. Mein zigeunerndes Leben in den letzten Jahren hat mich verhindert, die Entwicklung mehr im einzelnen zu verfolgen, aber das Fazit, das die nordamerikanische Handelsbilanz in den letzten Monaten ergibt, scheint mir sehr für den baldigen Krach zu sprechen, und dann gute Nacht mit der europäischen Exportindustrie. Dann dürfte insbesondere auch für England die Stunde der Umwälzung schlagen.

Das ganze bißchen Aufschwung, wenn man es so nennen will, das wir in Deutschland in den letzten anderthalb Jahren bemerkt haben, schuldet seine Existenz ausschließlich dem steigenden Export. Bekommt der ein Loch, dann bekommen wir einen Krach, ärger als jener von 1874, denn wir haben uns von dem noch nicht erholt. Unsere Eisenindustrie kommt bereits wieder bedenklich ins Schwanken; tatsächlich sind die Notierungen, wir der Börsenzettel bringt, Schwindel, und wird zu viel niedrigeren Preisen verkauft. Der Kartellvertrag der Eisenproduzenten ist, wie vorauszusehen war, längst in die Brüche gegangen, und ist die Überproduktion wieder im besten Zuge. In der Textilindustrie sieht's nur wenig besser aus; auch hier ist der Export die Hauptsache, bekommt auch dieser einem Rückschlag,[196] so sind die beiden Hauptindustrien lahmgelegt, und die Lähmung greift weiter. Kurz, die amerikanische Krise hat weit mehr Wahrscheinlichkeit als ein europäischer Krieg, die Sturmglocke für die europäische Revolution zu werden.

Es wäre mir lieb, gelegentlich Deine und Marx' Meinung über meine Ansichten zu hören. Ich hoffe, auf Weihnachten meine Haft unterbrechen zu können.

Schreibst Du mir, so nimm auf das Datum dieses Briefes keinen Bezug, es möchte andere in Verlegenheit bringen können.

Es freut mich sehr, daß Marx wieder wohl ist. Ich erwidere seine und Tussys Grüße herzlich. R. Meyer schreibt im Nachwort zu seiner Veröffentlichung der Briefe und Aufsätze von Rodbertus: ›Es sei möglich, daß Marx noch die Zeit erlebe, daß mit seinem System ein Versuch gemacht werde.‹ Obgleich er dies offenbar nur schrieb, um Bismarck zu ärgern, so kann er doch recht haben, das wäre prächtig.

Habt Ihr die Meyerschen Bücher gelesen? Ich habe sie im Gefängnis durchgenommen. Meyer lobt Euch beide sehr und fühlt sich über die gute Aufnahme, die Ihr ihm bereitet, offenbar sehr geschmeichelt; freilich müßt Ihr diesen Ruhm mit fünf Kardinälen teilen, die ihm dieselbe Ehre widerfahren ließen. Da Marx von seinen guten Freunden den Feinden schon oft als sozialistischer Papst hingestellt worden ist, so kann er sich die Gesellschaft gefallen lassen.

Rodbertus habe ich so recht erst aus diesen Briefen und Aufsätzen kennengelernt. Er steht jedenfalls weit über dem Durchschnitt unserer sogenannten Nationalökonomen. Der Mann hat Kritik und Ideen, aber als konservativer Sozialist kommt er in den stärksten Widerspruch mit sich selbst.

Marx' ›Kapital‹ wollte er ja auch ›widerlegen‹; sein Nachlaß scheint aber nicht veröffentlicht zu werden, in bezug auf letzten Punkt für ihn selbst am nützlichsten.

Dein A. Bebel.«

Fußnoten

1 Engels hatte Bebels in seinem Brief das Studium der Arbeiten G.L.v. Maurers über die Markenverfassung empfohlen. D.H.


Quelle:
Bebel, August: Aus meinem Leben. Band 3. Berlin 1946, S. 197.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus meinem Leben
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Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

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