1.

[10] Ein Nachhall der Schlachtendonner des unseligen Bruderkrieges von 1866 zitterte durch die Stunde, der ich das Leben verdanke.

Die Provinz Preußen konnte in dem Jahre ihre Bewohner nicht ernähren. Der Kriegszwang lähmte Handwerk und Gewerbe und vernichtete den bedeutenden Zwischenhandel mit Rußland und England. Die der stärksten Arme beraubte Landwirtschaft ward durch Mißernten vollständig in die Erde gedrückt. Es kam eine große Hungersnot. Der folgte die Cholera. Öffentliche Geldsammlungen und Staatshilfe waren machtlos gegen das Elend.

In dieser Not verließ mein Vater Königsberg und verzog mit seiner Familie nach Gut Mosberg an der Alle. Er hatte dort eine Stelle als gräflicher Kutscher gefunden. Als Entgelt für seine entäußerte Arbeitskraft durfte er beanspruchen: Freiwohnung, etwas Land, Saatgut, zwei Schweine, Hühner, Wolle, Flachs, Ackergerätschaften und Freiholz. Seine Frau folgte ihm mit drei Kindern von 1 bis 6 Jahren; mich trug sie unter dem Herzen.

Der erste Winter ward der Familie recht hart; Geldlöhnung gab's überhaupt nicht, und das zum Verkauf bestimmte zweite Schwein fiel.

Im nächsten Frühjahr war's, am 3. Mai. Meine Mutter half beim Kartoffelhacken. Da überkamen sie die Wehen. Sie strebte besorgt nach Haus. Einige Stunden[10] später war ich geboren. Wie es scheint, hatte ich es ziemlich eilig, dies Jammertal zu begrüßen. Ich wußte eben noch nicht, was alles draußen auf mich wartete.

Der Gutsinspektor und Frau Mattes Bergg standen auf keinem guten Fuß miteinander. Aus welchem Grund, ist mir nie gesagt worden. Auch hatte der Mann meinen Eltern nicht eigentlich zu befehlen.

Eines Tages trat die Mutter in den Schuppen, um Holz klein zu machen. Der Inspektor kam darüber, bestritt ihr grob das vertragsmäßig zugestandene Recht auf freie Holzlieferung und befahl ihr, den Bedarf zukünftig im nahen Forst zu decken. Der nahe Forst war königlich preußischer Wald; die Gutswaldungen lagen mehrere Meilen vom Hof entfernt. Die Mutter wehrte sich entschieden gegen diese befremdliche Zumutung und ging in Tränen hinaus.

An dem Tage hatte der Vater seinen Herrn im Schlitten nach der nächsten Kreisstadt gefahren. Wie er, am Abend heimkehrend, die Stube betrat, fand er seine Frau nicht so wie sonst. Sie empfing ihn stumm und gedrückt. Mit verweinten Augen trug sie ihm das Abendessen auf.

Der müde Mann rührte die Kartoffeln nicht an. Er wollte erfahren, wer und was ihm sein Weib verstimmt habe. Endlich bekannte sie unter Schluchzen, aber in abschwächender Klugheit. Der Vater sprang in wildem Jähzorn auf und hinaus. Vor der Türe lehnte an der Scheunenmauer eine schwere Schaufel. Die riß der Tobende an sich, und fort, den Inspektor zu suchen. Er fand ihn nicht. Da stürmte er die herrschaftliche Wohnung empor, ins Zimmer des Grafen, erzählte grimmig und heischte Genugtuung. Der Herr, den der alle Schranken übersteigende Ungestüm seines Knechtes verletzte, nahm den Inspektor in Schutz und verwies den Zornmütigen ebenfalls auf das Holz im nahen Forst.

Nun ward aus dem Zornmütigen ein Hirnwütiger. »Zum Diebe soll ich werden!« schrie er. »Und mein Vertrag! Mein Vertrag!« Die grobe Knechtesfaust fiel auf[11] den Schreibtisch, daß die Bronzeringe in den eichengeschnitzten Löwenmäulern klirrend schwankten und das schwere Kupfertintenfaß erschreckt aufsprang.

Der Edelmann wandte sich vor solchem Ausbruch empört ab, schellte, zog sich in das Fenster zurück und befahl seinen eintretenden Dienern mit gelangweilter Miene, den Menschen hinauszuschaffen.

Das war leichter gesagt, als getan. Die Furcht vor dem einen gereizten Manne hielt ein halb Dutzend Sklaven im Schach.

Schließlich wagte es, auf einen zornigen Zuruf des Herrn, der starkknochige, blaurasierte Kammerdiener, die Hand nach ihm hinzuwerfen. Aber wie eine gesprungene Uhrfeder schnellte die Hand in die Höhe und der ganze Kammerdiener flog in einen gläsernen Eckschrank. Die Türe des Eckschrankes ging in Scherben, und meines Vaters Dienstverhältnis auch.

Wir zogen nach Königsberg zurück.

Der Vater fand Arbeit an der Eisenbahn. Die Mutter richtete einen kleinen Kramladen ein.

Das bisher Erzählte kenne ich natürlich nur vom Hörensagen. Meine eigene Erinnerung knüpft an beim Krieg von 1870–1871. Da sitzt eines schönen Septembertages mein Vater vor dem Bild seines Bruders Johann und weint. Mein Onkel war bei Sedan getötet worden. Er hinterließ eine Witwe und sechs unmündige Kinder. Seit dem Tage habe ich meinen Vater nie mehr weinen sehen.

Nach diesem Krieg entwickelte sich eine fieberhafte Tätigkeit auf allen Gebieten gewerblichen Fleißes. In Königsberg ward viel gebaut. Zahlreiche Schiffe liefen im Hafen ein. Mit unserer kleinen Krämerei ging es trotzdem nicht recht. Sie lag in einer zu armen Gegend. Es mußte viel geborgt werden und das ausstehende Geld kam nicht ein. Da gaben wir das Geschäft auf. Der Vater nahm Arbeit im Hafen als Sackträger. Das Schleppen der bis zu dritthalb Zentner schweren Säcke setzte dem starken[12] Mann arg zu; aber der Verdienst war groß. Mancher Tag brachte 12 bis 16 Mark. Leider mußten die Sackträger im Winter, wo der Pregel zufriert, fast beständig feiern. Und auch im Sommer fanden sie nur Gelegenheitsarbeit.

Wir waren jetzt fünf Kinder. Die Mutter hatte für 100 Taler eine Mangel gekauft, hinter der sie bei Tage hart schuftete. Zu arbeitsloser Zeit half der Vater; im gewöhnlichen hielt sich die Mutter eine Stundenfrau.

Unsere Wohnung lag anderthalb Meter tiefer als die Straße. Sie war feucht; sie umfaßte zwei Zimmer und einen Stall. Im Vorderzimmer standen Mangel und Wäschetisch; zugleich diente dieser Raum als Küche. Im Hinterzimmer schliefen wir alle, die Eltern in einem Himmelbett mit Vorhängen, wir Kinder zu zwei und drei in zwei Betten. Für diese ungesunde Wohnung zahlten wir jährlich siebzig Taler und hielten sie elf Jahre bei. Meine Mutter ward brustkrank; auch litt sie fast fortwährend an den Augen, bis sie schließlich auf einem Auge erblindete.

Das berüchtigte Gründerfieber hatte sich bald über- und ausgetobt. Ihm folgte im Erwerbsleben eine unerhörte Mattigkeit. Der Milliardenregen war versickert. Dem Volke war von dem Blutgeld so gut wie nichts zugeflossen. Die Staatsfinanzen kamen aus dem Gleichgewicht. Schutzzölle sollten Rettung bringen.

Vor den Getreidezöllen flüchtete der Handel aus den Häfen Ost- und Westpreußens nach den neu ausgebauten russischen Häfen Libau, Riga und Reval; Königsberg besonders ward hart betroffen. Die reichen Kaufherren und Fuhrenhalter übersiedelten nach Livland, wo sie auch billigere Arbeitskräfte fanden als in Preußen. Die einheimischen Arbeiter ließen sie zurück; nicht einmal die alten Kutscher wurden mitgenommen.

Da kamen schlimme Zeiten. Und es kam der böse Winter von 1879 mit seiner furchtbaren Kälte. Die Vögel fielen starr aus der Luft. Die Menschen liefen nur noch[13] durch die Straßen; viele, besonders die Armen, hatten Nase und Hände mit Talg eingefettet. Ich wollte einmal vom Haus zum Stall hinüberlaufen; ein Schutztuch hatte ich nicht vor den Mund gebunden; da warf es mich jählings zu Boden; fast wäre ich erstickt.

Der Vater brachte eines Tages ein Tuch voll erfrorener Spatzen nach Haus. Sie hatten in den Hafenschuppen Obdach gesucht und den Tod gefunden. Wir verspeisten sie mit Genuß. Diesen Winter aber ging es uns gewöhnlich recht schlimm.

Arme Mutter, heute verstehe ich deine stillen Tränen und deinen wunderlich starren Blick! Und du, Vater, warum so finster? Warum sprichst du nicht mehr zu uns, murmelst nur mit dir und für dich? War es sonst nicht dein Stolz, vier Raummeter schönes Kienholz einzukaufen und einige Scheffel dicke Kartoffeln, darunter einen Sack besonders weicher zu Kartoffelpuffern am Sonntag?

Und auch ein großes Faß Sauerkraut stand eingemacht in einer Ecke des Stalles. Aber in diesem Jahre des Unglücks! Wie der Nordwind heult! Wie der feine Schnee durch die Gasse fegt, sich vor den Schwellen häuft, durch die Ritzen der Fenster staubt! »Mutter, die Fenster wollen heute nicht lostauen! Warum macht Vater kein Feuer an? Ist das Sauerkrautfaß schon verbrannt? Der Schlitten auch? Wo ist unsere Uhr hingekommen? – Nein, Mutter, ich gehe nicht zum Bäcker. Er wollte mir schon gestern nichts mehr geben. Schick die Auguste.«

»Hier ist noch ein Stück Bett, Kinder. Weint nicht so.«

»Wird Vater was dafür kriegen?«

»Sei still, Kind.«

»Mutter, mir wird so weich.«

»Kinder, kommt. Wir singen das schöne Lied: Jesus, meine Zuversicht! Du, Gustchen, stimme an. Aber, was treibst du dort?«

»Sieh' doch, Mutter, wie das Stroh brennt! Das Stroh aus unserm Bettsack! Hei, wie es flackert! Ach Gott,[14] der Ofen bleibt kalt. Das ist ein schlechter Ofen. Mutter, mich friert.«

»Zieh' dem Vater seinen alten Pelz an.«

»Kommt der Vater bald, Mutter? Bringt er Brot mit? Du weinst, Mutter? Aber so weine doch nicht, Mutter, liebe Mutter!«

»Meine armen, armen Kinder!« ...

Ja, es waren schwere Tage. Ich fühlte ihre Not um so bitterer, als ich damals bereits zwölf Jahre zählte und die Schulzeit fast ganz hinter mir hatte.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 10-15.
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