3.

[19] Meine Eltern pflegten, trotz unserer Armut, Milde und Gastfreundschaft. Kein Bettler oder Handwerksbursche sprach vergebens vor. Wir Kinder drängten uns, sobald wir sahen, daß die Mutter sich zum Geben anschickte, um das Geldstück zu überreichen. Zwei alte Frauen wurden wöchentlich mit Kaffee und Brot erquickt. Ein italienischer Orgelmann hielt mit Vorliebe vor unserem Hause und spielte seine lustigen und ernsten Weisen. Er fand dankbare Zuhörer. Ich vor allem lauschte mit Wonne seiner Musik, der ersten, die auf mich einwirkte.

In unserer so beschränkten Wohnung lebten wir selten allein. Bald war es ein Bekannter oder Verwandter, bald ein junges Mädchen ohne Stellung, manchmal ganze Familien, mit denen wir unser einziges Schlafzimmer teilen mußten. Diese Wohnungsnot barg eine schwere sittliche Gefahr. Um so mehr, als unsere Familie an sich schon schwer genug belastet war.

Ein Bruder meiner Mutter war ein richtiger Säufer. Seine Frau und drei Töchter flüchteten in ihrer Bedrängnis oft zu uns. Von seiner Leidenschaft erzählte man die gelungensten Stückchen, die ganz heiter wirken würden, wenn sich dahinter nicht soviel Betrübnis versteckte.

Der Oheim Karl stand eine Zeitlang als Buchhalter in einträglicher Stellung bei einem Jugendfreund, der es zum[19] reichen Bierhändler gebracht hatte. Dieser sah ihm seine Schwäche lange nach, denn Karl war im übrigen ein tüchtiger Mensch. Eines Tages, nach einem besonders wüsten Rausch, nahm er ihn freundlich auf die Seite und sagte: »Hör' mal, Karl! Wir wollen eine Wette eingehen. Dabei gibt es für dich diesen Hundertmarkschein zu verdienen. Willst du?« Und er ließ den blauen Lappen vor den flackernden Augen des Verkaterten spielen.

»Ein Hundertmarkschein ... Natürlich! Natürlich! Nur heraus mit der Kiste!«

Der Freund führte ihn in ein Zimmer seiner Wohnung. Hier standen auf einem Tische zwölf volle Flaschen mit Aufschriften, wie: Kognak, Arrak, Hamburger Tropfen, Nordhäuser (echt), Wermut, Benediktiner, und wie die anderen noblen Schnäpse sonst noch heißen.

»Siehst du die Flaschen dort?«

»Natürlich sehe ich die Flaschen.« Des Säufers gedunsene Wangen schimmerten, seine Nüstern blähten sich und sogen.

»Gut also, ich sperre dich bei diesen Flaschen ein.«

»O Konrad, das wäre dein Ernst?«

»Sechzehn Stunden lang. Rührst du all die Zeit über keine der Flaschen an, so sind die hundert Mark dein.«

Er legte den Schein auf die andere Tischkante und fuhr fort: »Dein Essen lasse ich dir hierhertragen. Ein Glas Wein zugleich mit. Willst du rauchen? Für den Fall findest du das Nötige in dieser Kiste. Bist du einverstanden?«

»Einverstanden? Natürlich bin ich einverstanden.«

»Schön. So halt' dich brav. Sei ein Held, Karl.«

»Du tust mir leid, Konrad. Hundert Mark! Sieh dir den Lappen noch einmal an. Du schaust ihn nimmermehr. Fast mache ich mir Skrupeln daraus, ihn dir so schnöde abzunehmen.«

»Keine Ursach', Karl. Es bleibt dabei.«

Herr Konrad ging und schloß die Türe.[20]

Der Oheim blickt sich um, ob er nicht träume. Vor ihm auf dem Tisch liegt der Schein. Makellos, funkelnagelneu, als sei er eigens für ihn gedruckt worden. Daneben stehen die Flaschen. Ein volles Dutzend, in Reih' und Glied, stramm und voll, mit ausgezogenen, festgesteckten Korken. Eine nette Gesellschaft! Sechzehn ganze Stunden sollte er es mit der Bande aushalten!

Karl begann im Zimmer hin und her zu schreiten. Von Zeit zu Zeit besah er sich den Geldschein, betrachtete die Flaschen, studierte die Aufschriften. Kog – nak! Ar – rak! Wer – mut! Tadellos, alles prima Ware! So 'ne Gemeinheit!

Er nimmt seinen Spaziergang wieder auf. Er beginnt zu grübeln. Er zieht einen Vergleich zwischen dem augenblicklichen Genuß und dem zukünftigen Gewinn. Herrgottsakra, wie ihm der Gaumen brennt! Und da die Stirn und hier die Gurgel! Ist denn kein Wasser ...? Sieh' da, auf dem Ecktischchen ... Milch! Brr! Der Schlaufuchs Konrad hat an alles gedacht. Mit dem Nachfüllen ist es also nichts.

Neben dem Milchglas liegt ein Buch, »Fritz Reuters Werke«. Der! Na ja, das war auch so einer von denjenigen, welchen ... Herrgott, der kannte das Spinnen noch besser als der arme Karl. Und ist doch ein berühmter Dichter geworden. Aber Milch! Dann lieber noch Salzsäure!

Der verdammte Durst! Karl tritt an die Kognakflasche, zieht den Kork hoch und schnuppert. Himmel, der Duft! Seine Glieder zittern, daß der Tisch schüttert. Der Geldschein flattert an einem Ende leicht auf. Soll das eine Mahnung sein? Karl schließt vorsichtig die Flasche und tritt zurück.

Wieder wandelt er hin und her, so auf und ab, mit vorgeneigtem Kopf, mit auf dem Rücken verschränkten Händen, wieder so auf und ab.

Da springt ein heller Ton durchs Zimmer. Der Grübler sieht auf. Dort in der Ecke hängt ein großer[21] Käfig; in dem Käfig sitzt ein Pirol und flötet, als ob er den einsamen Märtyrer riefe. Karl tritt nahe. Das Federvieh ist mit allem wohl versorgt. Das Federvieh hat auch – Wasser. Einen breiten Napf voll mitten im Käfig, daß sich das Vöglein nach Lust baden und puddeln kann.

Wasser! Das ist das Zeichen vom Himmel! Kluger Konrad, du bist zweimal verloren.

Der Dürstende weiß sich Rat. So muß es gehen. So geht es. Vorsichtig nimmt er den Napf heraus, entkorkt die erste Flasche, nimmt ein Schlückchen und füllt mit dem noch klaren Wasser nach. Fein! Wer soll das merken? Die zweite Flasche wird herangezogen, zu einem herzhaften Schluck. Das Wasser füllt auch eine größere Lücke aus. Die dritte, die vierte, die fünfte Flasche ... Den Hundertmarkschein schenkt er dem Baron Bierbrauer trotzdem nicht ... Die achte ... Karl, mein Sohn, du bist ein Genie ... Die elfte, die zwölfte ... Ah! Oh! Fertig: Alle durchprobiert!

Und doch stehen sie immer noch in Reih und Glied, stramm und voll. Eine saubere Bande! Die Vetteln glauben sich schon aus aller Gefahr. Ihr kennt den Karl nicht. Karl ist ein Löwe. Der Löwe hat Blut geschmeckt. Der Löwe brüllt nach mehr. Heran mit euch, ihr Racker! Diesmal laß ich euch nicht so wohlfeil aus den Griffen. Noch reicht das Wasser ... Aber, zum Donner, das stete Nachfüllen schwemmt den Göttertrank ganz dünn und schal ... Wasser, was Wasser! Die Kühe saufen Wasser und die Frösche ... Karl ist weder Frosch noch Kuh. O nein, noch lange nicht ... Hundert Mark ... Wo, wo? Haha: Der Wisch da? Der armselige Fetzen ... Fort mit dir, fort! Da, flieg ... Aber hier, hier! Wie die Aufschriften leuchten! Wie die Buchstaben rufen ... Jetzt fangen sie an zu winken, zu hüpfen ... Nun tanzen, wirbeln die Flaschen mit. O ihr Hexen! Wartet, ihr Luderchen, ihr ... Ich lehre euch hopsen! Ihr sollt mir springen! Her mit euch! ...[22]

Eine Stunde später betrat der freundliche Wirt das Zimmer. Ihm folgte der Diener mit dem dampfenden Speisebrett.

Welches Schauspiel bot sich ihm? Auf dem Tische stand eine Reihe leerer Flaschen. Unter dem Tische lag der schnarchende Sünder, den Hals der zerschellten Benediktinerflasche mit den blutigen Fingern der Rechten krampfhaft umklammernd; an den Scherben hatte er sich die Nase jämmerlich zerschunden. Der Hundertmarkschein war unter den Käfig geflattert; in dem Käfig hüpfte der Pirol, hackte zornig mit dem Schnabel in die Luft und äugte boshaft in die Greuel der Verwüstung nieder.

Karl und Freund Konrad sind nie mehr eine Wette miteinander eingegangen.

Der Onkel aber ist einige Jahre später in unserem Zimmer am Säuferwahn gestorben. Ich mußte das Treiben des Tollwütigen stundenlang mit ansehen. Ich würde noch heute, ich weiß nicht was, drum geben, wenn ich die Erinnerung an dieses Sterben aus dem Gedächtnis löschen könnte.

Auch mein Vater trank gern ein Glas. Im Sommer weniger als im Winter. Im Winter kam er, wenn die Arbeit fehlte, nicht selten trunken heim. Dann tobte er, und es war schwer, Vertrag zu halten. Uns Kinder verschonte seine Wut. Um so mehr mußte die arme Mutter dulden: Schimpfworte, Vorwürfe, Drohungen prasselten nur so auf sie ein; manchmal vergaß sich sogar der Rasende und schlug sie. Dann weinten wir Kinder und jammerten und flehten für die Mutter. Es waren das schreckliche Auftritte.

Selbst unsere Mutter enthielt sich des Alkohols nicht ganz. Um halb zehn morgens trat beim Mangeln eine kurze Pause ein zum zweiten Frühstück. Der Frau, die die Mangel bediente, mußte ein Humpen gebracht werden. Die Mutter stärkte sich an einem Gläschen Schnaps. Wir Kinder durften unser Brot auch wohl mit Schnaps benetzen.

Im übrigen war unsere Nahrung kräftig und reichlich.[23] Wir aßen viel Milch- und Mehlspeisen mit Hülsenfrüchten. Für die Schulpausen gab es ein Stück trockenes Brot. Von tausend Schulkindern hatten kaum zehn ihr Brot »geschmiert« oder gar belegt. Wir teilten gerne mit armen Kindern, die zu schüchtern waren, um bei uns zu betteln.

Die Mehrzahl der Kinder ging den Winter über in Holzschuhen. Kam der Frühling, so warf ich die Latschen voll froher Ungeduld in die Ecke und lief barfuß. Nur am Sonntag wandelte ich in Schuhen zum Morgendienst und zur Nachmittagspredigt.

Der Nachmittagsprediger, Pfarrer Hamm, war der Liebling unserer Gemeinde, und ganz besonders meiner Mutter. Da starb der ältere Pfarrvorsteher. Seine Nachfolge gebührte eigentlich Herrn Hamm. Aber diesem ward ein jüngerer Amtsbruder, Pfarrer Griffer, vorgezogen.

Der neue Pfarrer verstand es vortrefflich, die Jugend vor allem zu gewinnen. Er gründete für den Nachmittagsdienst einen Kinderchor, zeigte den Kindern seine Briefmarkensammlungen und machte kleine Geschenke. Diese Liebenswürdigkeiten trugen Frucht. Im nächsten Jahre hatte Pfarrer Hamm nur wenig Konfirmanden und mußte in seiner schönen, mit Glasmalereien geschmückten Kirche vor leeren Stühlen reden. Vergebens suchte der verlassene Hirte seinerseits durch Stiftung eines Gesangvereins die flüchtigen Schäflein zurückzugewinnen. Die besten Sängerinnen und Sänger waren dem Gegner bereits verpflichtet. Griffer blieb der Abgott des Volkes.

Die Weiber schnalzten mit den Zungen, wenn nur sein Name genannt wurde. Noch heute sehe ich die verliebten Augen, womit einige Nachbarinnen den baumlangen Pfaffen angeilten, wenn er durch die Straße kam, den Hut im weiten Bogen fast bis zur Erde schwang und süßlich lächelnd den breiten Mund quer durch das breite Gesicht bis zu den mächtigen Ohren verzog. Der eitelkeitduftende Kunde! Unser Haus blieb dem von ihm Verdrängten treu. Der brave Hamm hatte meine drei älteren Geschwister konfirmiert;[24] er sollte auch mich dem Weiberliebling zum Trotz auf die heilige Einsegnung vorbereiten.

Die Gefühle, die mich beim Kirchgang und im Gottesdienst bewegten, waren sehr geteilter Art. Der dumpfe Glockenhall erschütterte mich; die tiefen Töne der Orgel durchströmten mich mit Furcht und Schrecken; die gar nicht unangenehme Stimme des Predigers aber ward mir in den höheren Lagen unerträglich; der Inhalt ihrer Worte ließ mich gleichgültig. Ganz Inbrunst war ich nur beim Chorgesang. Leider wurde mir diese Seligkeit nur an hohen Festtagen gegönnt.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 19-25.
Lizenz:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon