2.

[171] Ich blieb eine Zeitlang wie vor den Kopf geschlagen. Alles ward mir gleichgültig. Meine Arbeit machte ich lässig. Die Kunden klagten über die ihnen gelieferte Ware. »Aber, Bergg,« sagte mir ein bekannter Wirt, »was sind das für Zigarren, die Sie in letzter Zeit liefern! Sehen Sie sich doch bloß die Spitzen an. Aalköpfe und Karpfenschnauzen mögen es sein, aber keine Zigarrenspitzen. So kann das nicht weitergehen.«[171]

Der Mann hatte recht: So konnte es nicht weitergehen. Ich suchte mein zerfahrenes Sein allmählich wieder in die Hand zu bekommen. Hatte ich auch viel verloren, es blieb noch genug übrig, um ein Leben lebenswert zu machen. Trotz allem!

Die Familie war mir genommen worden. Draußen erwartete mich die größere Familie. Tausende und Abertausende, die ich als Brüder und Schwestern empfand und liebte, deren Not ich über meinem Herdglück fast vergessen hatte.

Der Erde habe ich mein Kind zurückgegeben, die Liebe hinter mir auf den Weg gestreut. Ich komme als Geschlagener, aber als ein Freier. Nun gehöre ich dir ganz, Partei!

Die Sozialdemokratie entfaltete damals eine ungemein fröhliche Tätigkeit. Die Teufelsfurcht vor dem Sozialistengesetz lastete nicht mehr auf ihr. Die lang zurückgehaltenen Kräfte brachen ans Licht, die unterbundenen Triebe fluteten frei und stark.

Ich übte mich im öffentlichen Vortrag und trat in kleinen Versammlungen als Redner auf. Ich brachte es zu einer großen Fertigkeit des freien Wortes. Gute Redner sind besonders in Deutschland selten, auch in den Reihen der Sozialdemokratie. Ich galt in Bekanntenkreisen bald als einer der besten Sprecher unsers Bezirks.

Im folgenden Jahre griff ich persönlich in die Wahlbewegung ein. Ich gehörte zu den Werbemännern, die die ländlichen Kreise warm zu machen hatten. Mit welcher Lust ich in dieses lebensstarke Treiben sprang! Bei jedem Wetter ging es hinaus auf die Dörfer, zu Fuß, auf Leiterwagen, in Schlitten. Ich redete mit stets gesteigertem Selbstgefühl. Endlich durfte ich mit meinem bescheidenen Können mithelfen am großen Werk der Aufklärung, ein bescheidener Sendbote des menschenerlösenden Evangeliums.

Es war zugleich das erstemal, daß ich selbst zur Wahlurne schritt und meinen Willen mit in die Wagschale häufte. Wäre doch das Schwert des Brennus mein gewesen, wie[172] hätte ich es mit einem: »Wehe den Götzen!« zu den sozialdemokratischen Stimmzetteln geworfen!

Aber es ging auch so. Hamburg mit Land ward vollständig erobert. Und im übrigen Deutschland reihte sich Sieg an Sieg.

Die Zahl der Abgeordneten stieg von 36 auf 48; die Zahl der abgegebenen Stimmen auf 1800000.

Vorwärts, Proletarier! Laßt die rote Fahne fliegen!

Mit ganzer Leidenschaftlichkeit zog ich gegen den Militarismus zu Felde. Sogar in Frauenversammlungen führte ich aus, was der Militarismus dem weiblichen Geschlechte Schlimmes und Schmachvolles bringe.

Damals lernte ich Klara Zetkin bewundern, wohl die bedeutendste Frau aller Zeiten.

Mit einer fast übermenschlichen Kraft überwindet sie spielend die größten Anstrengungen, tritt mit durchdringender Gedankenschärfe an die schwierigsten Fragen heran, löst diese von den höchsten Gesichtspunkten aus mit einer Würde und Einfachheit, die man auch bei Männern vergebens sucht.

Gerade an der Stellung der Frau im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben, so wies sie nach, lasse sich messen, wie wenig unsere Zeit über die erbarmungslose Barbarei der Urzeiten hinausgekommen sei, denn noch bleibe das Weib der Sklave, nicht nur der Natur, auch des Staates, der Kirche, des Mannes.

Unter den Vorkämpfern für die Rechte und die Würde des Weibes steht Klara Zetkin in erster Reihe. Das Weib als Geschlechtswesen und als Proletarierin findet keinen beredtern Verteidiger als sie.

Auch Bebel und Liebknecht durfte ich hören, die Dioskuren der Partei. Der Akademiker Liebknecht führte dabei die volkstümlichere Sprache. Bebel, der sich selbst der Lehrer war, redete wie ein Gebildeter. Aber ein Genuß war es, ihnen beiden zu lauschen, sich in der Wärme ihrer Begeisterung, unter der Brause ihrer Sprachgewalt zu baden.[173]

Mein Herz flog dabei besonders dem Volksmann Bebel entgegen. Einen Hohenzollernthron tauschte ich um den Ruhm dieses Mannes ein. Dieser Arbeiter wird noch der ungekrönte Kaiser Deutschlands.

Durch gewissenhaftes Lesen und eifriges Studium wollte ich mich auf die Rolle, die ich im stillen zu spielen hoffte, würdig vorbereiten.

Der Tag genügte meinem Wissensdrang nicht. Ich nahm wieder die Nacht zu Hilfe. So bildete sich in mir ein krankhafter Hang zum Spätlesen aus, der mir aber keine vollen Früchte bringen konnte. Das im Bette Lesen mag als Reiz oder als Einschläferungsmittel seinen Zweck haben; als Bildungsmittel bewährt es sich kaum, denn es fällt schwer, des andern Tages das Gelesene im Gedächtnis wieder emporzuheben.

Ein Geschichtskursus bei einem wegen seiner sozialistischen Gesinnung gemaßregelten Oberlehrer brachte mir großen Nutzen. Religionswissenschaft, Philosophie, Naturwissenschaft: in allem wollte ich Bescheid wissen. Das Schwierigste und Trockenste stieß mich nicht ab. Ich las mich durch die Werke Kants, Fichtes, Schopenhauers; Iherings »Kampf ums Recht«, Spenzers »Prinzipien der Psychologie« wurden mir vertraut. Die Christusbücher von Lommel, Dr. Albert Dulk, David Friedrich Strauß, Domela Nuivenhuis reizten mich. Die Chemie führte mich in die Welt der Moleküle ein und tat mir die Wandlungen alles organischen Lebens kund. Dabei bereicherte ich meine literarischen Kenntnisse und bildete meinen künstlerischen Geschmack über Lessings »Dramaturgie«, dem fleißigen Besuch des modernen Dramas, der regelmäßigen Lektüre literarischer und wissenschaftlicher Zeitschriften.

Kurzum, meine innere Welt weitete sich. Ich legte mir bei meinem glänzenden Gedächtnis eine Schatzkammer des Wissens an, aus der ich über meinen Reden und Vorträgen mit vollen Händen schöpfen konnte, auch unter dem[174] Einfluß des Augenblicks, beim Hineinlangen auf gutes Ungefähr.

Schon sah ich mich in nicht allzu ferner Zukunft als Bewerber um das höchste Ehren- und Vertrauensamt, das eine politische Partei zu vergeben hat, um den Abgeordneten sitz im Reichstag. Da ward meinen Plänen plötzlich Halt geboten, mein Ehrgeiz gewaltsam zurückgebannt.

Derselbe Prozeß, der mein häusliches Glück zerstörte, leitete zugleich die Vernichtung meiner politischen Hoffnungen ein. Die Tatsache meiner Vorbestrafung wegen Unterschlagung, und zwar von Vereinsgeldern, brach mir im öffentlichen Leben den Hals.

Mochten auch die eigenen Parteigenossen mich für unschuldig und meine Verurteilung für ungerecht halten, diese selbst ließ sich nicht aus der Welt reden. Die Verurteilung bildete nach den Anschauungen der bürgerlichen Sitte einen sittlichen Makel. Wohl stellt sich die Sozialdemokratie mir ihren Grundsätzen und Idealen in bewußten Gegensatz zu den bürgerlichen Anschauungen; aber so lange die bürgerliche Moral zu Macht besteht, muß auch die sie verneinende Moral der Zukunft mit ihren Forderungen rechnen.

Die Sozialdemokratie kann sich in ihren Angriffen gegen die bürgerlichen Zwingschlösser unmöglich durch die Rücksicht auf eines ihrer Mitglieder hemmen lassen. Sie darf sich, diesen zuliebe, nicht der noch heute zu Recht bestehenden und als Macht empfundenen Verachtung aussetzen. Der Proletarier, der einen Sitz im Reichstag erobern will, muß mit blankem Schild in die Wahlschlacht einrücken und darf seine Partei nicht in die furchtbare Verlegenheit bringen, daß sie in ihm eine moralische Schlappe erleidet.

Das erkannte ich selbst, wenn auch knirschenden Ingrimmes, und bettete meinen kecksten Traum neben mein Kind zu den Toten.

Niemand aber sollte mir verbieten können, im Innern der Partei für deren Wohl und Entfaltung zu wirken. Und[175] doch, auch hier gab es Schranken, über die ich mich nicht hinauswagen durfte.

Als ich für eine große Versammlung zum Hauptredner bezeichnet ward und die Parteiblätter davon Meldung gaben, druckte ein gegnerisches Blatt die Anzeige nach mit dem heimtückischen Kommentar: »Herr Franz Bergg hat sich schon vor Jahren durch seinen Unterschlagungsprozeß einen Namen gemacht. Der große Redner konnte sich damals am Gefängnis nicht vorbeireden. Wir gönnen der Partei diesen berufenen Wahrer ihrer – Interessen.«

Das war brutal, aber deutlich. Auch in der Front der Partei gab es für mich keinen Platz. Ich mußte ins Hintertreffen weichen.

So blieb mir nichts übrig, als im stillen Kreise zu wirken.

Ich liebte die heilige Sache, für die ich kämpfte, so aufrichtig, daß ich meinem Ehrgeiz anfangs zu gebieten vermochte. Nicht jeder kann an der Deichsel stehen; auch wer hinten am Wagen kräftig nachschiebt, füllt seinen Platz aus. Die untergeordnetste, dankbarste Parteitätigkeit muß auch geleistet werden.

Aber die Tätigkeit in den Ausschüssen, die unsichtbare Einwirkung von Mann zu Mann, das Hin- und Herlaufen eines Werbeboten befriedigte mich nicht auf die Dauer. Ich stand einmal nicht am richtigen Platz. Meine Eigenart drängte nach trotziger Männerfehde: die blieb mir durch die Nötigung zur steten Rücksichtnahme verwehrt.

Ich mußte meine Verurteilung auslöschen oder für immer untertauchen.

Zu einer bürgerlichen Ehrenrettung gehört Einfluß, wie ihn der Reichtum oder die Macht verleiht, denn einem armen Teufel zuliebe gibt sich die hohe Dame Gerechtigkeit nicht eigenhändig einen Nasenstüber.

Die einzige Tätigkeit, die mich zu dieser Machtstellung emporheben könnte, wäre schließlich die freie Schriftstellerei. Ein freier Schriftsteller steht allein und gefährdet[176] keinen Genossen. Er trägt nur die eigene Haut zu Markte und kann sich mit Hinz und Kunz herumhauen nach Herzenslust, ohne einem hohen Areopag von Parteirichtern Rechenschaft zu schulden.

Den Beruf für diese Mannestätigkeit trug ich vielleicht von Kindheit auf in der Seele. Gedanken fehlten mir nicht, und auch nicht die Kraft, sie auszudrücken. Aber die Form, die Form! Ich armer Halbgebildeter konnte damals noch keinen einzigen Satz richtig schreiben.

Meine Lebensgeschichte, wie ich sie in diesen Wochen zu Papier bringe, hätte mir in jenen Tagen vielleicht die unentbehrliche Rechtfertigung gebracht. Sie hätte mir den Zutritt zu einer Redaktion erschlossen. Ich hätte, gestützt auf diese beredten Zeugen meiner Unschuld, meinen Namen nicht ferner wie ein Abenteurer, wie ein Verbrecher, zu verbergen brauchen.

Was ich damals nicht gekonnt, vielleicht versuche ich's heute, sobald mir die freie Selbstbestimmung zurückgegeben ist. Daß ich es tun kann, verdanke ich dem Entschluß, den mir die Selbsterhaltung in meiner damaligen Notlage abpreßte.

Ich durfte mich nicht geistig verkommen lassen. Es wäre schlimmer als Selbstmord gewesen.

In Hamburg, das erkannte ich, war für mich keine Hoffnung mehr. Wohl aber würde sich die Doppeltüre zur Befreiung in aller Angelbreite vor mir öffnen in der einzigen Millionenstadt des Reiches, in der Stadt der breitesten Möglichkeiten auf deutscher Erde – in Berlin.

Einen lebenden Beleg für den weiten Umfang dieser Möglichkeiten schickte mir die Spreekönigin entgegen in der Gestalt einer Base, die mich unverhofft in Hamburg heimsuchte. Sie kam aus Berlin, wohin meine Mutter, nach des Vaters Tode, ebenfalls verzogen war, um meiner Schwester Sophie, der Sängerin, den Haushalt zu führen.

Cousine Fanny war auf der Durchreise nach Bad Norderney. Sie stellte sich mir vor als die Braut eines[177] reichen Kaufmanns, der für einige Tage im Alsterhotel abgestiegen war. Ich merkte aber bald an untrügerischen Zeichen, daß sie es nur zu der Würde einer »Geliebten« gebracht hatte und kaum jemals höher steigen dürfte. Ihr »Bräutigam«, mein verehrter Vetter zur linken Hand, war ein flotter Lebemann, dem es um einen braunen Lappen nicht leid zu tun brauchte. Er begegnete dem bescheidenen Zigarrenarbeiter mit leutseliger Sicherheit und lud mich ins Alsterhotel zum Nachtmahl. Natürlich wichste ich mich heraus, soweit es mir meine Mittel erlaubten. Ich stand in keinem zu krassen Widerspruch mit all dem Prunk des Speisesaales und der blumengeschmückten Tische.

Die schwarzgeschwänzten Kellner ahnten gewiß nicht, daß der dünne, blasse Gentleman, dem sie die Silberschüsseln mit demütig gekrümmtem Rücken hinhielten, in den Tiefen ihrer Sklavenseelen wohl Bescheid wußte.

Es schmeckte »himmelschön«! Ich speiste französische Küche mit deutschem Appetit.

Mein gewöhnliches Leibgericht war in den letzten Wochen Schwarzbrot mit geräuchertem Hering gewesen. Für das Mittagsmahl in der Volksküche zahlte ich dreißig Pfennig.

Mein reicher »Vetter« zahlte für jeden von uns zwanzig Mark.

Diese Ausgabe wurde ihm natürlich wieder eingebracht von seinen Blumen- und Federkünstlerinnen in Berlin. Deren schlecht bezahlte Erzeugnisse gestatteten es dem jungen Übermenschen, dann und wann einer Favoritin aus ihrer Mitte das Schnupftuch zuzuwerfen, sie nach Norderney zu entführen und unterwegs mit ihrem hungrigen Vetter im Alsterhotel huldvoll zur Tafel zu ziehen.

Aber auch ein Proletarier weiß, was sich schickt. In Erwiderung seiner Liebenswürdigkeit lud ich den Kaufmann und meine Base für den nächsten Abend ins Theater.

Wenn ich allein hinging, erstieg ich die Höhe des[178] Olymps. Für diese feierliche Gelegenheit belegte ich, als nobler Gastgeber, bessere Plätze.

Mein Herr Vetter entschuldigte sich. Doch vertraute er mir seine Fanny an.

Sudermanns »Ehre« ward an dem Abend gegeben. Welch tückischer Zufall! Fanny sah ihr eigenes Schicksal auf den Brettern verkörpert vor sich. Auch sie mußte sich als ein Opfer des Vorderhauses fühlen.

Sie folgte der Aufführung mit stets stärkerer Aufregung. Ihre Brust flog; sie brachte ihr Tüchlein nicht vom Auge. Gegen den Schluß des Stücks ergriff sie meine Hand und streifte von ihrer Linken einen goldenen Ring an den kleinen Finger meiner Rechten.

Als wir das Theater verließen, wollte ich ihr den Ring wiedergeben. Sie wehrte lebhaft: »Nein, Franz, nein! Behalte den Ring zum Andenken an die heutige Vorstellung.«

Am andern Tage reiste sie mit ihrem Pascha nach Norderney. Zwei Tage später fuhr ich nach Berlin.

Über uns beide hatte wieder einmal gesiegt das alte Weib – die Sitte.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 171-179.
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