4.

[132] Diesem Unteroffizier Ockert ward ich zur Ausbildung überwiesen. Er hatte mich in einem Monat so weit gedrillt, daß ich den Kompaniedienst mitmachen konnte.

War Ockert verhindert, so vertrat ihn bei meiner Einzelausbildung der Gefreite Bähr.

Bähr gehörte wieder zu den Gesellen, denen ein Befehlen ohne Stoß und Schlag undenkbar ist. Er mißhandelte mich fortgesetzt. Zwei Wochen nach meinem Eintritt rückte ich mit dem Regiment nach dem Bockstedter Lager, um hier auf der Heide ausgebimst zu werden.[132]

Eines Tages, wo mich Bähr besonders roh vornahm, vergaß ich mich und versetzte ihm einen Fußtritt. Wir waren allein auf dem weiten Feld und er wagte nicht, mich weiter zu schlagen. »Wissen Sie, was Sie getan haben?« zischte er mich mit teuflischem Lächeln an. »Jetzt fliegen Sie auf Festung. Kommen Sie mit.«

Der Hauptmann war zum Glück eine halbe Stunde weit entfernt. Als wir einige Minuten marschiert waren, hielt Bähr auf einmal inne, machte kehrt und drillte an mir weiter. Er meldete nichts und schlug mich längere Zeit nicht mehr.

Am schlimmsten behandelte mich Unteroffizier Krumm, dieser Greuel von Mensch, dem jedes Mittel gut war, einen armen Soldaten ins Unglück zu stürzen!

Eines Tages trat er an mein Spind und kramte zwischen den Sachen. Dann ging er hinaus, um nach zwanzig Minuten wiederzukehren. Wieder durchsuchte er das Spind, sah sich einiges flüchtig an, griff nach dem obersten Fach und zog eine Visierkappe und einige Riemen, die von der Kammer verschwunden waren, heraus. »Ha, da haben wir endlich den Spitzbuben!« triumphierte er.

Ich stand erstaunt und zerschmettert. Um mich zu vernichten, hatte der Unhold die Sachen selbst in mein Spind gelegt. Das stand für mich zweifellos fest.

»Kommen Sie mit!«

Er führte mich zu Sergeant Groth und meldete mich des Diebstahls.

Ich wehrte mich und erklärte: »Herr Sergeant, ein Lump will mich durch Niedertracht zugrunde richten. Ich habe eine Ahnung, wer dieser Lump ist, aber noch kann ich ihn nicht nennen.«

»Ich werde Sie nicht weitermelden, aber ein paar Ohrfeigen haben Sie verdient.«

Mit diesen Worten schlug mich Groth mehrmals ins Gesicht.[133]

Obwohl ich mit der beste Turner war, ließ mich Krumm an Leiter, Querbalken oder Klettertau bis zum Umfallen arbeiten. Konnte ich nicht mehr, so hieß es: »Er ist faul, er will nicht!« Dann mußte ich Laufschritt machen, während die andern ruhen konnten.

Oder er ließ mich im Anschlag stehen, bis das Gewehr sich in meinen Händen senkte.

Einmal befahl er mir, den Mund zu öffnen. Ich hatte gesehen, wie er dem Polen in den Mund gespuckt hatte und rührte mich nicht. Da spie er mir ins Gesicht.

Empörung zuckte mir in allen Fingerspitzen. Aber ich bezwang mich glücklicherweise und schwieg.

Die beständigen Verfolgungen machten mich gemütskrank und rieben mich auch körperlich auf.

Als wir zu einer Felddienstübung ausrückten, stieß mich der Hintermann dermaßen mit dem Fuß in den Rücken, daß es mir blau und rot vor den Augen wurde. Ich wende um, wütend vor Schmerz und Empörung, und pflanze dem Kerl den Gewehrkolben in die Magengegend, daß er zusammenbricht und in den Straßengraben gelegt werden muß, wo er die Dienste eines Lazarettgehilfen entgegennimmt.

Ein Unteroffizier holt mich vor und droht.

Ich erkläre, ohne mich einschüchtern zu lassen, ich wolle dem Hauptmann unverzüglich selbst von dem Geschehenen Meldung machen. Er verbietet es mir und heißt mich wieder ins Glied treten.

Der von mir in den Graben Beförderte war der abgesetzte Gefreite Hercke. Er erholte sich rasch und hatte uns eine Stunde später wieder eingeholt. Seither waren aber die ihm befreundeten Unteroffiziere nur noch toller hinter mir her.

Es bemächtigte sich meiner allmählich eine Art Verfolgungswahn.

Ich sehnte mich nach dem Gefängnis zurück. Eine fünfjährige Haft bedeutete Erlösung gegen die dreijährige[134] Dienstzeit, die sich durch Festungsstrafe vielleicht verewigen konnte. Ich fühlte mich vollständig rechtlos und brach eines Abends unter der Last der seelischen Qualen auf meiner Stube zusammen.

Die Kühle des Fußbodens belebte mich bald. Da griff ich zu einem äußersten Mittel.

Ich setzte mich am Sonntagnachmittag hin und schrieb einen Aufsatz über das Kasernenleben und meine eigenen Leiden. Ob ich die Schrift einer Zeitung oder dem kommandierenden General unterbreiten sollte, stand noch nicht fest. Ich barg die Handschrift in meinem Brotbeutel. Des andern Tages ward bei der Spinderevision gerade der Brotbeutel zuerst untersucht. Natürlich fand sich die Schrift.

Ich wurde verhaftet und auf der Stube von zwei Kameraden mit aufgepflanztem Seitengewehr bewacht. Das Arresthaus, das für mehr als 40 Mann nicht Raum hatte, war überfüllt.

So verging die Nacht. Die beiden Posten mußten an meinem Bett wachen. Ich schlief ruhig und fühlte mich morgens erquickt, wie schon seit langem nicht mehr.

Die Kompanie rückte zum Dienst aus; ich ward auf die Handwerkerstube gebracht, wo ich mittags dem Obersten vorgeführt werden sollte.

Der Hauptmann stellte mich vor. Der Oberst hörte meine Erklärungen ruhig an. Ich erzählte meinen Lebenslauf und mein Schicksal in der Kaserne. Auch meinen Hauptmann schonte ich nicht.

Er habe mir, so sagte ich, vor der Front das Recht bestritten, mich zu beklagen, wenn ich geschimpft und geschlagen werde. Der Hauptmann wurde bei diesen Worten feuerrot.

Als ich geendet hatte, fragte der Oberst: »Sie sind Sozialdemokrat?«

»Jawohl, Herr Oberst.«

»Wie verträgt sich das mit Ihren Pflichten als Soldat?«[135]

»Wenn das Vaterland bedroht ist, muß jeder die Grenze verteidigen.«

»Was wollten Sie mit diesem Schreiben?«

»So recht weiß ich es selbst nicht. Es war mir wie ein Bedürfnis, meinem gequälten Herzen einmal Luft zu machen, wenn auch nur schriftlich.«

Der Oberst fand in der Schrift nichts Verbrecherisches. Ich ward entlassen, mit der Ermächtigung, in Zukunft ihm persönlich zu melden, wenn ich geschlagen oder mißhandelt würde.

Mit meinem Hauptmann unterhielt sich der Oberst recht lebhaft unter vier Augen.

Wie rasend, mit flammendem Gesicht, kam Syher ins Quartier gestürzt. Es erging der Befehl, niemand dürfe mit mir sprechen, außer wenn es der Dienst erfordere. In meinen freien Stunden mußte ich immer am Spinde stehen. Die Unteroffiziere hatten strenge Weisung, mich zu überwachen. Die widersprechendsten Befehle wurden mir rasch aufeinander erteilt. Man achtete auf ihre pünktlichste Durchführung.

»Sehen Sie, Bergg,« sagte der Hauptmann, »das geschieht nicht, um Sie zu strafen, sondern zu Ihrem Wohl und Ihrer perfekten Ausbildung.«

Geschimpft und geschlagen wurde ich nicht mehr, aber vom Morgen bis Abend in atemloser Bewegung gehalten.

Morgens mußte ich zwei Stunden vor den andern aus dem Bett; während der Nacht rief mich mehr als einmal der Unteroffizier vom Dienst auf die Beine und hieß mich Gewehrgriffe kloppen. Dadurch wurden meine Stubengenossen ebenfalls in ihrer Nachtruhe gestört. Statt mich zu bemitleiden, mißhandelten sie mich und hetzten mich im Teufelstanz.

Das dauerte so drei Wochen. Ich konnte nicht mehr. Ich verlor den Kopf, lief aus der Kaserne und flüchtete zu einem Bekannten in Ottensee. Von hier wollte ich nach England.[136]

Meine Freunde dachten vernünftiger; sie redeten mir zu und ich ließ mich wie ein willenloses Tier zur Kaserne zurückführen.

Eben ging man zu Bett. Niemand redete ein Wörtchen mit mir. Ich legte mich mit meinem Seitengewehr nieder. Ich fürchtete das »Femgericht«.

Nach einer halben Stunde kam der Hauptmann. Im Hemd mußte ich antreten.

»Warum sind Sie fortgegangen?«

»Der unerträglichen Qualen wegen.«

»Ich werde Ihnen helfen.«

Des andern Tages erhielt ich sieben Tage strengen Arrest. Der Oberst befahl mich vor sich und fragte, ob ich geschlagen worden sei.

Ich mußte das verneinen.

Da war es mit seiner Freundlichkeit aus. Was konnte der Mann auch von den weit schlimmeren Spießruten wissen, die man mich laufen ließ? Über den Dienst hätte ich mich zudem nicht beschweren dürfen.

So mußte ich meine Strafe antreten.

Der Arrestaufseher, Feldwebel Bleibeck, war meistens halbbetrunken. Er pflegte jedem Neuling ein paar Maulschellen oder einige Knüffe mit dem Schlüsselbund als Willkommgruß zu entbieten.

Der Arrestant mußte in Einzelhaft Tag und Nacht meldefähig sein, das heißt nach Vorschrift: »Stiefel an, Halsbinde um, jeden Knopf zu!«

Jeden vierten Tag durfte er entkleidet schlafen; dann erhielt er auch warme Kost.

Decken gab's selbst im Winter nicht.

Diese Strafe konnte bis auf vier Wochen verhängt werden. Wie aus dem Grab entstanden, bleich, vom Licht geblendet, taumelten dann die Arrestanten zur Kompanie zurück.

Als ich aus dem Arrest kam, stand mein erstes Manöver vor der Tür. Graf Ostorf führte die Kompagnie.[137] Welch eine Freude! Ich ertrug alle Strapazen mit Leichtigkeit und wähnte mich im Schutze dieses Edelmannes geborgen. Aber der Niedertracht gelang es doch, mich zu verderben. Ihr Werkzeug war diesmal der Sergeant Kohl, den ich in meiner kleinen Bildergalerie noch nicht ausgehängt habe.

Kohl darf mit Recht einen Sonderplatz beanspruchen. Würde man sein Konterfei in einem Verbrecheralbum erblicken, man hielte es für unbegreiflich, daß sich so ein schöner Mann in diese Gesellschaft verirren könnte. Was, dieser Jüngling mit dem sanften, fast edeln Gesichtsausdruck, dem treuen Auge, der wohlgefügten Stirne, den feingeschnittenen Lippen, dem ganzen liebenswürdigen Anstand, sollte ein Verbrecher sein? Und doch war er ein Halunke, und von einer ganz besonders giftigen Art.

Seht ihn dastehen, wie er in hoheitsvoller Ruhe mit dem Schnurrbart spielt, die Handschuhe anzieht, sich im obersten Knopf des Waffenrocks bespiegelt, wenn er sich mit seinesgleichen zu unterhalten geruht. Kein Offizier tut es ihm dann an Anmut und Vornehmheit gleich.

Seine Stimme ist voller Wohlklang. Sie gewinnt das Vertrauen. Sie bleibt immer gleich einladend und getragen. Eben ruft er einen Soldaten und befiehlt ihm, voll Feierlichkeit, ohne einen Anflug von Ironie, mit unnachahmlicher Handbewegung: »Sie, mein Freund, holen Sie mir, bitte, einen Irr ...wisch.«

Dieser Mann befahl mir an einem Sonntagmorgen, wo wir auf einem Bauerngut in Quartier lagen, mein Gewehr in alle Teile zu zerlegen. Das Gewehr war rein. Ich hatte einem alten Soldaten fünfzig Pfennig gegeben, und der hatte mir den Schießprügel in zwei Stunden appellfähig gemacht.

Ich fragte, was an meinem Gewehr zu tadeln sei. Mit beleidigter Miene bemerkte Kohl: »Das fragen Sie noch?«[138]

Er zeigte mein Gewehr einigen Unteroffizieren; sie guckten durch den Lauf, schüttelten den Kopf und sahen einander mit grinsender Verwunderung an.

»Es ist Rost,« sagte der eine.

»Pulverschleim,« meinte der zweite.

»Der Lauf ist ein Schornstein,« rief der dritte; »da müssen die Schornsteinfeger mit ihren Kratzen rein.«

Der Soldat, der das Gewehr geputzt hat, tritt vor.

»Ich lasse mir den Kopf abschneiden, das Gewehr ist sauber. Ich habe es gereinigt und will beweisen, daß der Lauf frei ist von Rost und Pulverschleim.«

Kohl steht verdutzt, läßt aber sein Opfer nicht so leicht aus den Krallen.

Der alte Soldat will sich auch nicht nachsagen lassen, als hätte er fünfzig Pfennig in Empfang genommen und nichts dafür geleistet. Er nimmt das Gewehr aus der Hand des Sergeanten und holt ein ganz reines Flanellläppchen.

Ich halte mein Gewehr beim Kolben fest. Freund und Feind umstehen mich. Ohlers, so hieß der alte Soldat, zieht den gepreßten Flanell langsam durch den Lauf. Der Stoff bleibt rein. Ohlers hält ihn triumphierend hoch und zeigt ihn herum.

»Ich will nichts sehen,« knirscht Kohl in heimlicher Wut und wendet sich ab.

In dem Augenblick erhalte ich einen wuchtigen Streich an die rechte Stirnseite. Ich blicke erschreckt auf. Der degradierte Hercke hat mich, Gott weiß, aus welcher Ursache, mit der geballten Faust angefallen. Ich reiße das Gewehr hoch, wirble es in der Hand herum und auf den Tückebold nieder.

Der Elende wirft den Kopf nach hinten zurück. So trifft der Kolben seine vorgedrängte Brust mit doppelter Wucht. Hercke taumelt mit aufgerissenem Waffenrock zurück und knickt zusammen.

Atemlose Stille.[139]

Eine Stimme ruft: »Schleppt ihn nach der Scheune!«

Wem gilt der Befehl? dem Gestürzten? mir?

Die Mannschaften stehen unentschlossen. Ich werfe das Gewehr fort, laufe in die Scheune, auf der andern Seite heraus, über Felder und Wiesen dem Walde zu. Im schützenden Dickicht falle ich vor Erschöpfung ins Moos.

Nach einer Stunde schleiche ich zum Waldrand und überblicke die Gegend. Kein Verfolger ist sichtbar. Sonntagsfriede segnet die ganze Natur. Ein alter Schäfer sitzt neben seiner ruhig weidenden Herde. Aus weiter Ferne tönen mich Glocken an.

Ich aber bin zum Flüchtling geworden.

Der Hirte wies mir die Richtung nach Schwerin. Am Schwerinersee kroch ich abends in das Grummet und schlief. Am andern Tage wollte ich weiter nach Rostock. Da griff mich ein Gendarm auf und brachte mich nach Schwerin zurück.

Das Vorverhör fand ohne Aufschub statt. Ich erzählte ausführlich, was mich zur Verzweiflung und zur Fahnenflucht getrieben hatte. Der Auditor war mir freundlich gesinnt. Als er meine Aussagen im Protokoll vorlas, fiel mir die ganze Wucht des erlittenen Unrechts schwer aufs Herz, und ich mußte weinen.

Der Auditor tröstete: »Wenn es sich wirklich so verhält, werden Sie kaum eine Strafe zu fürchten haben.«

Ich stellte Strafantrag gegen Kohl und Hercke und bat um Versetzung, denn es sei gewiß mein Tod, wenn ich länger in der 12. Kompanie dienen müsse.

Meine Strafe lautete auf vierzehn Tage strengen Arrest. An sich war die Buße nicht zu hart.

Aber ich wechselte nicht die Kompanie, sondern nur die Korporalschaft. Wen traf ich dort als meinen Vorgesetzten? Gerade den Hercke, der inzwischen die Gefreitenknöpfe wieder erhalten hatte.

Der Feldwebel hatte mich in bewußter Grausamkeit diesem Raubtier wieder ausgeliefert.[140]

Nach dem Austritt aus dem Arrest mußte ich mich bei Hercke melden: »Zur Korporalschaft zugeteilt.«

Zehnmal ließ er mich diese Worte wiederholen und schuhriegelte mich gleich in der ersten Minute.

»Stehen Sie stramm und Knochen zusammen!« Nun trat er mir brutal auf die Füße.

Die Seelenschinderei nahm ihren Fortgang.

Den neuen Rekruten stellte mich Syher vor als einen Mann, den jeder kennen müsse und mit dem niemand sprechen dürfe.

Mein einziger Halt blieb Oberstleutnant Graf Ostorf. Als ich in Untersuchungshaft saß, war der edle Mann die erst Nacht zu mir auf meine Zelle gekommen, hatte sich berichten lassen, mir die Hand gereicht und mich getröstet.

Als »alter Mann« stand ich mehr als früher unter seiner Leitung. Rückten wir mit ihm zur Übung aus, so atmete alles auf. Lieder klangen und Lachen scholl. Mit dem Anblick der Kaserne bei der Heimkehr fiel die kurze Lust in sich zusammen.

Sogar die heiligen Weihnachtsgedanken konnten den Hauptmann Syher nicht einer besseren Menschlichkeit zurückgeben. Am heiligen Abend versammelte sich die Kompanie um die Lichtertanne. Kleine Geschenke wie Kämme, Bürsten, Zigarrenspitzen, Hosenträger lagen, mit Nummern versehen, auf den in Hufeisenform aneinandergerückten Tischen. Drei Geschenke im Werte von ein bis drei Mark waren für noch unbekannte Glückspilze bestimmt. Jeder zog eine Nummer aus der Zigarrenkiste und suchte sich dann sein Geschenk. Musketier Schink war auf Posten. So loste ein anderer Soldat für ihn. Er gewann die große Pfeife im Werte von drei Mark.

»Wer steht auf Posten?« fragte der Hauptmann.

»Musketier Schink.«

»Der! Es geht nicht, daß dieser unsaubere Mensch das Glückslos erhält.«[141]

Er erklärte die Ziehung für ungültig. Es wird ein zweites Mal gezogen, und Schink bekommt eine Zigarrenspitze.

Nach diesem edlen Betrug stimmt der Hauptmann mit der ganzen Kompanie ein in das herrliche Lied: »O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit!«

Ist das nicht erhebend und christlich im höchsten Sinn? Erhebend und christlich wie die Literatur, die den Soldaten auf den Stuben zur Verfügung steht.

Der »Soldatenfreund« ist Gift für junge Seelen. Solche Bücher und Schriften sind Ablagerungsgruben unbewußter Schamlosigkeit. In ihnen begeistern sogenannte Schriftsteller durch Erzählung ihrer Kriegserlebnisse zu Handlungen, die am Galgen gesühnt werden müßten.

Einer dieser Vaterlandshelden berichtet z.B. mit allem Behagen, wie sie auf französischer Erde einst bei einem Bauern einquartiert waren, dessen Frau in dem einzigen Bett ihrer schweren Stunde entgegensah. Die deutschen Eroberer wußten sich Rat. Sie packten das Weib bei Kopf und Füßen, legten sie auf den Boden und sich selbst ins warme Bett.

In jenen Tagen brachte mir ein Trauerbrief die Nachricht vom Tode meines Vaters. Ich hatte den armen lieben Mann seit meinem Weggang aus Königsberg nicht wiedergesehen.

In meinem Leid bat ich, einen Tag vom Dienst entbunden zu werden. Da fragte mich der Feldwebel Reiber hönisch: »Haben Sie denn einen Vater?« und zwang mich, meinen Dienst zu versehen wie jeder andere.

Meine Stimme war den Tag über so matt, daß meine Antworten nicht laut genug klangen. Ich wurde also zehnmal über den Kasernenhof gejagt und mußte jedesmal von der 300 bis 400 Meter entfernten Mauer aus laut brüllen.

Es kam so weit mit mir, daß mir die Arrestzelle zum Himmelreich ward. Dort hatte ich wenigstens Ruhe.[142] Vom Hofe her drang das Kommandieren, Fluchen und Schimpfen gedämpft in meine Einsamkeit, kam aber an mich nicht heran. Auch fehlte es mir nicht an Gesellschaft. Ich hatte bemerkt, daß der Arrestaufseher bei der Einlieferung niemals meine Mütze nachsah. Da schmuggelte ich eines Tages Goethes »Faust« samt dem Kommentar von Boyesen in meine Zelle. Auf der Pritsche stehend, reichte ich bis zur verriegelten Fensterklappe. In dieser waren durch Austrocknen des Holzes zwei schmale Ritzen entstanden, durch die eine dünne Lichtlinie wagrecht ins Zimmer drang. Hob ich das Buch in ihren Strahl hinauf, so konnte ich lesen. Allerdings wurden immer nur drei Druckzeilen zugleich erhellt, aber je weiter ich kam, um so höher hielt ich das Buch und fühlte mich beseligt.

Ich durchlebte so sämtliche Entwicklungen des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, wie es die Verse dieser ewigen Dichtung durchwogt. Ich genoß alle Schauer menschlicher Wonne und Qual, die aus Gretchens Liebesglück und -schuld hervorstürmen. Die Lemuren, die dem Faust das Grab schaufeln, sah ich, mit Pickelhauben behelmt, als Totengräber der edeln Kräfte in Geist, Seele, Körper, Gemüt, allem Guten die Grube bereiten. – Schließlich aber fühlte ich mich von fröhlicher Zuversicht erfüllt bei dem endlichen Siege des Lichtes und der Liebe, denn:


»Wer immer strebend sich bemüht,

den können wir erlösen.«


Über dieser Faustlektüre vergingen mir die zehn schweren Tage wie im Traume. Allerdings verspürte ich am Schluß ein Nervenspielen von den Fußspitzen bis zum Kopf.

Gedrängt durch die tagtägliche Not, schlug ich endlich eine Taktik der Verzweiflung ein. Unter Wölfen gebärdete ich mich schließlich auch als Wolf. Ich ging auf einmal selbst zum Angriff über, statt immer nur das Dulderlamm zu mimen, und teilte Hiebe aus, die recht empfindlich[143] waren, deren Urheber aber nur dunkel geahnt ward. Im »Hamburger Echo« veröffentlichte ich einige Artikel über Soldatenschindereien in drei Kompanien und erörterte ausführlich zwei Selbstmorde, die im Regimente vorgekommen waren. Ich gab alle Einzelheiten und nannte Namen.

Die Artikel machten Aufsehen und rüttelten manchen Zaghaften empor. Von allen Seiten regnete es jetzt Beschwerden über Beschimpfungen und Mißhandlungen von Soldaten.

Noch mehr, ich rechnete mit meinen Peinigern persönlich ab. Sergeant Krumm wollte seine neuen Stiefel zum zweitenmal anziehen. Er fand sie nicht. Er suchte wie verrückt. Vergebens. Ich hatte sie in die Müllgrube befördert.

Als Posten meldete ich unnachsichtlich jeden Vorgesetzten, der nach dem Zapfenstreich über die Mauer kletterte.

Die Sozialdemokraten in der Kompanie schlossen sich zu einer Art Bund zusammen und hielten jetzt ihrerseits Femgericht über die Halunken.

Dem Bähr spie ich unter vier Augen auf die Füße und nannte ihn einen »erbärmlichen Schuft«. Der Feigling steckte die Beleidigung ein. Ohne Zeugen konnte er mich nicht auf Festung bringen, und den Arrest, das wußte er, fürchtete ich nicht mehr.

Wo mir etwas von den Sachen der Korporäle und Unteroffiziere in die Hände kam, ward es vernichtet, verdorben oder versteckt.

Jetzt mußten auch die Krumm, Kohl und Hercke wie wahnsinnig nach ihren Handschuhen oder wie besessen nach ihren Paradehosen laufen. Ich war manchmal so niederträchtig frech, in solchen Augenblicken den Gehetzten zu fragen: »Was suchen der Herr Unteroffizier? Kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie kannten den Täter, merkten den Hohn, warfen mir unzweideutige Blicke zu, aber sie durften mir nicht zu Leibe. So lernte ich meinerseits Schrecken erwecken; ich ward gefürchtet, und das half immerhin etwas.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 132-144.
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