5.

[144] Von jeher ward Geist und Bildung von der herrschenden Welt verfolgt, Einfältigkeit und Dummheit bevorzugt.

Bildung macht ihren Träger verdächtig, schon im gewöhnlichen Arbeitsverhältnis.

»Ihr neuer Arbeiter ist ein gebildeter Kerl,« bemerkt ein Gast, und Arbeitgeber und Frau lassen erschreckt den Löffel fallen, wenn sie gerade an der Suppe sitzen. Wenn der Spaßvogel aber auflacht und sagt: »Ne, ich habe ja nur einen Witz machen wollen, er ist nämlich ein kreuzdummer Hans,« so blicken sie ihn dankbar an und nehmen den Löffel wieder zur Hand; heimlich aber zittert der Schrecken nach.

Nirgends wird die Bildung mehr für die gefährlichste Schmuggelware angesehen als beim Militär. Wer seine Bildung nicht vollständig verleugnen kann, geht als gemeiner Soldat einem Martyrium entgegen.

Unter den Umständen mußte auch mich das Schicksal erreichen.

Ich war, durch die Verzweiflung stark gemacht, meinen Vorgesetzten über den Kopf gewachsen. Sie hatten Wind gesät, nun ernteten sie Sturm. Allerdings suchten sie jetzt durch Milde wieder gutzumachen; aber ich konnte nicht vergessen.

Mir war ein Buch über das Verhalten der Vorgesetzten gegen die Soldaten in und außer dem Dienst in die Hände gekommen. Mit Empörung konnte ich da feststellen, was alles an mir verbrochen ward und welche Überschreitungen an andern verübt wurden.

Von dem Tage an erhob ich Einspruch, wenn mir der Korporal die Feldmütze oder den Helm mit grobem Griffe gerade setzen wollte. Ich verlangte, befohlen zu werden, es selbst zu tun.[145]

Gab mir ein Unteroffizier einen Befehl, ohne dabei selbst die vorschriftsmäßige Haltung einzunehmen, so brachte ich es vor dem Major zur Anzeige.

Diese Freiheiten mußten allerdings die militärische Zucht untergraben. Das Kräutlein Rühr-mich-nicht-an Militarismus wird ja schon im Innersten erschüttert, wenn ein Soldat sein Recht verlangt und die Vorgesetzten dann und wann an ihre Pflichten erinnert.

Meine Führung wurde jetzt auf einmal in den Führungsbüchern als gut vermerkt. Ich bekam Sonntags Urlaub. Ich durfte auf eine billige Zeitung, den parteilosen »Generalanzeiger«, abonnieren.

Eine Zeitlang ging es leidlich. Da wurde ich eines Abends vom Hauptmann beim Lesen überrascht.

»Achtung!«

Alles stürzt in strammer Haltung an die Spinde; ich auch. Mein Buch bleibt auf dem Tische liegen.

Er beugt sich darüber, liest den Titel und befiehlt, mich in Untersuchung abzuführen.

Ich hatte in dem Protokoll des ersten sozialistischen Parteitags nach Aufhebung des Sozialistengesetzes gelesen. Da es nicht laut geschehen war, wurde ich schließlich mit 14 Tagen streng bestraft und auf Antrag des Hauptmanns der Arbeiterabteilung Ehrenbreitstein bei Koblenz zugewiesen.

Eine solche Versetzung ist keine Strafe, nur eine Maßregel. Wie Rußland die politisch Unzuverlässigen nach Sibirien verschickt, so werden, gemäß Kabinettsbefehl vom Jahre 1887, in der Gesinnung unzuverlässige Soldaten den Arbeiterabteilungen zugewiesen.

Die sogenannten zweitklassigen Soldaten, die bis 1887 nach Verbüßung ihrer Festungshaft diesen Arbeiterabteilungen allein zugewiesen werden durften, tragen keine Kokarde und einen Waffenrock mit abgeschnittenen Rockschößen.

Den »Unzuverlässigen« durften Kokarde und Schöße[146] nicht genommen werden; sie bildeten in diesen Arbeitsanstalten die Erstklassigen.

Am Tage vor meiner Überführung nach Ehrenbreitstein trat unerwartet der Hauptmann mit dem Feldwebel in meine Arrestzelle, gab mir die Hand und sagte mir Adieu. Geschah es aus Freude, den verdammten Kerl loszuwerden? oder tat er so aus rein menschlichem Mitgefühl heraus, unter dem Eindruck der Erinnerung an all das viele Unrecht, das ich durch ihn und unter ihm hatte leiden müssen? Ich ward durch seine Weichheit aufs höchste überrascht und besaß nicht Geistesgegenwart genug, meine Hand zu verweigern, worüber ich mich heute noch ohrfeigen könnte. Vor der Türe meiner Zelle hörte ich ihn sagen: »Schade! Schade! aber sorgen Sie, Feldwebel, daß Bergg auf dem Transport nicht notleidet.«

Der Militärarzt, der mich vorschriftsmäßig vor der Abreise zu untersuchen hatte, wollte mir mitleidsvoll die Lazarettüre öffnen und fragte mich immer wieder, ob mir gar nichts fehle. Seine Frage klang fast wie eine Aufforderung, mich doch krank zu fühlen. Ich blieb aber bei meiner Antwort: »Nein, mir fehlt nichts.«

Unter Bewachung dampfte ich eines frühen Februartages nach Ehrenbreitstein ab. Um Mitternacht hatten wir den 200 Meter hohen Felsen erklommen.

Ruhig und dunkel lag tief unter uns in den Schleiern der Nacht das Rheintal.

Ich war glücklich, wenigstens der Kompanie entronnen zu sein, wenn auch der Wechsel dunkle Schicksale genug in sich tragen durfte.

Ich traf unter meinen Leidensgefährten viel Sozialdemokraten. Einige mußten ihre ganzen drei Jahre hier abdienen, ohne eine Kaserne gesehen zu haben. Andere kamen hierher, weil sie wegen Majestätsbeleidigung vor bestraft waren; unter ihnen ein Redakteur der Breslauer »Morgenstimme«, ein Dr. phil., der sein Recht als Einjähriger[147] eingebüßt hatte. Überhaupt ward damals jeder Mann, der wegen »sozialer Umtriebe« vorbestraft war, in diese Anstalt gebracht, um ihn so für andere ruhige Bürger unschädlich zu machen.

Weiter fanden sich dort einige Mennoniten, denen ihr Glaube verbietet, ein Gewehr auch nur anzufassen; Selbstverstümmler, die sich während ihrer Dienstzeit hatten dienstuntauglich machen wollen; Lothringer, Elsässer und Polen, die ihrer »Preußenfreundlichkeit« zu laut und überzeugend Ausdruck verliehen hatten: der eine hatte die Marseillaise gesungen; ein zweiter trug auf der Brust eine Tätowierung, wo man sehen konnte, wie ein Preuße von einem Franzosen mit dem Bajonett durchbohrt wird; ein dritter hatte sich auf der Brust den Wahlspruch eingestichelt: Vive la revanche!

Alles in allem zählten wir im Durchschnitt an die 160 Mann »Pensionäre«.

Jeder Soldat wird, bei einem längeren Aufenthalt in diesen dumpfdröhnenden, niedrigen, durch vergitterte Schießscharten kläglich erhellten Kasematten von dem sogenannten Kasemattenfieber befallen. Bei den meisten tritt diese Erscheinung nur vorrübergehend auf; manchen jedoch trübt sie allmählich das Gemüt und steigert sich zum Tiefsinn, ja zur völligen Geistesumnachtung.

Zwei Mann stürzten sich von der Moselbrücke ins Wasser und ertranken. Zwei andere gossen Petroleum in die Strohsäcke und zündeten sie an, daß sie doch mit Zuchthaus bestraft würden und der Ehre, noch länger Soldat zu sein, verlustig gingen.

Die Kasematten, die in Kriegszeiten zur Auffahrt der Kanonen dienen, sind alle durch ein Durchkreuzungsgewölbe verbunden. Jedes Loch ist für sechs Mann bestimmt. Nur ein Ausgang leitet in das längliche Viereck des Lichthofs, von wo man einen Ausschnitt des Himmelsgewölbes erblickt.

Beim Durchschreiten der Räume bemerkte ich häufig, wie sich Soldaten ohne Scheu schmeichelten, auf einem[148] und demselben Schemel saßen, sich wie verliebte Mädchen küßten. Niemand nahm Anstoß an dem faden Treiben.

Warum auch den sittlich Entrüsteten spielen, wenn die militaristische Gesellschaft selbst an den widernatürlichen, zur Unsittlichkeit drängenden Zuständen schuld ist!

Über den Übungen, während der Arbeit fiel kein Schimpfwort, kein Schlag. Aber das geringste Versehen ward schwer bestraft.

Einer erhielt zehn Tage strengen Arrest wegen zu »dicken« Kartoffelschälens. Ein anderer sieben Tage, weil er unter seinem Bett, in einer abgebrochenen Flaschenhöhlung, einen Grashalm zur Zerstreuung pflegte.

Ein Lothringer ward wahnsinnig. Er bildete sich ein, die Katze wäre seine Mutter.

Ein Pole ward tobsüchtig und schlug mit einem Schemelbein auf die Unteroffiziere los. Als er sich ausgetobt hatte und verhaftet wurde, sagte er ganz kalt: »Es ist mein Tod, aber einen nehme ich noch mit.« Man brachte ihn bis zu seiner Entlassung ins Lazarett.

Das Briefgeheimnis war aufgehoben.

In der Instruktionsstunde hieß es immer: »Ihr seid freie Soldaten.« Ausgehen aber durften wir nicht.

Die vierte Kompanie der Festungsartillerie und eine Infanteriekompanie waren abwechselnd in Alarmzustand, mit scharfen Patronen und der strengsten Weisung, auf das erste Signal in die Abteilung zu dringen und jeden Ausbruch von Empörung im Keim zu ersticken.

Diese Empörung ward gewünscht. Sie blieb aus und sollte hervorgehetzt werden.

Acht Tage hindurch bekamen wir fast nichts zu essen. Das Wenige war kaum genießbar. Der Reis z.B. war schwarz von Ratten- und Mäusekot. Einige schütteten den Fraß durch die Schießscharten in den Lichthof.

Die Leute erhoben entrüstet Beschwerde. Sie erreichten das Gegenteil. Die Unzufriedenheit wuchs und das Schlimmste stand zu befürchten. »Wenn es am Sonntag[149] nicht besser wird, so hieß es, wird man was erleben.« Da kam am Sonntagmorgen Sergeant Schwarz, ein recht braver Mann, in unsere Stube und warnte voll Aufregung: »Lasse sich niemand zu Ausschreitungen hinreißen! Heute bekommt ihr nämlich gar nichts zu essen. Sollte die vierte Kompanie in eure Abteilung dringen, so legt euch in die Betten, verkriecht euch! Nur um Gottes willen keine Dummheiten! Mehr kann ich euch nicht sagen!«

Die Hungerkur am Sonntag sollte nämlich die Empörung auf den Gipfel und zum Ausbruch treiben.

Sergeant Schwarz hatte diese Hoffnung heimlich vereitelt. Wir verhielten uns still, und der Hungersonntag ging vorbei wie die früheren Fastentage.

Warum eine Meuterei gewünscht ward, sollte sich bald zeigen.

Am folgenden Montag klagten wir bei den Offizieren des Artilleriedepots. Ein Leutnant meldete alsbald entrüstet auf der Stadtkommandantur, die Leute könnten nicht arbeiten, weil sie nichts zu essen bekämen und vollständig erschlafft seien. Jetzt ward schnell Wandel geschaffen. Der Leutnant selber brachte uns Brot herauf.

Der Hauptmann und die Offiziere, die in der unteren Stadt wohnten, hatten sich wenig um den inneren Dienst gekümmert. Der lag fast ganz in den Händen des Feldwebels Balg, der als unumschränkter Meister schaltete. Aber die Vergeltung nahte auch für ihn.

Von allen Seiten regnete es Beschwerden; sogar die Ärzte klagten. Eine Untersuchung ward eingeleitet. Sie deckte einen fortgesetzten schimpflichen Betrug auf.

Balg steckte mit gewissenlosen Krämern im Einverständnis. Sie lieferten schlecht und teuer. Statt Fleisch schickte der Schlachter Kuheuter. Makkaroni, Reis, Bohnen, Kartoffeln und dergleichen wurden halb verdorben eingebracht. Kohlen und Holz bekam kein Mensch im Winter zu spüren; ein Soldat hatte sogar seinen Schemel verbrannt und dafür sechs Monate Zusatzstrafe eingeheimst. Auf[150] der Rechnung an die Intendantur aber standen Kohlen und Holz vermerkt, und zwar zu den teuersten Preisen.

Nun wußten wir auch, wozu das Scheusal eine Revolte nötig hatte. Es wäre das die beste Ableitung von seinen eigenen Schurkereien gewesen.

Ihm wurde der Prozeß gemacht. Und Herr Balg schwamm den Rhein hinunter, auf Festung Köln, sechs Monate lang.

Um dem Elend dieser Zeit zu entgehen, vertiefte ich mich, während der freien Stunden, in die Arbeit. Landkarten, die mir von Freunden geschickt worden, wandelten sich zu Büchern, die ich nicht auslesen konnte. Daneben trieb ich fleißig Stenographie.

Fünfzehn lange Monate hielt ich es in dieser Kasemattenhölle aus. Dann versagten meine Kräfte. Ich meldete mich krank. Der Arzt wies mich dreimal ab. Wegen unbegründeten Krankmeldens wurden mir sogar fünf Tage streng diktiert. Ich verlangte vorher von einem Stabsarzt untersucht zu werden. Da ward ich nach dem Lazarett in die Unterstadt geleitet. Das Kommisbrot für die Tage des Arrestes mußte ich unter dem Arm mittragen, so sicher war man eines ablehnenden Bescheids.

Als ich vor dem Stabsarzt stand, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und bemerkte ruhig: »Herr Stabsarzt, hier weigert man mir ärztliche Hilfe. Geschieht mir mein Recht nicht, so werde ich bei der ersten Gelegenheit Fahnenflucht begehen, nicht um mich dem Regiment zu entziehen, sondern um anderseitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

Der Stabsarzt stand starr vor Staunen. Aber meine Worte wirkten. Er untersuchte mich genau und schickte mich ins Lazarett. Da blieb ich vier Monate. Ich ward gut gepflegt und fühlte mich wohl.

Der Assistent des Oberstabsarztes meinte es besonders gut mit mir. Durch Zufall war ihm mein Tagebuch zur Hand gekommen, in dem einige Gedichte verzeichnet[151] standen. Er knüpfte eine Unterhaltung mit mir an und fand, daß ich mich wissenschaftlich und schöngeistig beschäftigt hatte. Ich gewann seine Achtung und das Wohlwollen der übrigen Ärzte. Sie öffneten mir den Garten, und so wurden mir die letzten Monate, die ich dem Vaterland als treuer Sohn schuldete, zu einer wirklichen Erholung.

Am 30. Oktober meldete mir der Feldwebel, meine Dienstzeit sei um, ich dürfe gehen. Zugleich sollte ich in der Stammrolle meine volle Zufriedenheit mit der erfahrenen Behandlung anerkennend bescheinigen.

Ich weigerte meine Unterschrift.

Am 15. November ward ich aus dem Lazarett entlassen. Noch aber war ich nicht frei. Man führte mich wieder auf den Kasemattenfelsen hinauf, daß ich meinen Paß abhole.

In Wirklichkeit wollte man mir meine Unterschrift erpressen, denn die Verweigerung konnte besonders dem kommandierenden Major unbequem werden.

Ich beharrte anfangs in meiner Ablehnung. Der Major geriet in eine blaue Raserei. »Unterschreiben Sie,« brüllte er, »oder ich steche Sie nieder wie einen Hund.«

Da unterschrieb ich. Und war frei.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 144-152.
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