Anno 1728
§ 141

[349] Wenn ich nun hier dasjenige dir nennen soll, um welches willen ich Gott zu danken eine der größten Pflicht zu sein erachte, und worüber ich mich bis diese Stunde nicht genug verwundern kann, so will ich hier mehr nicht erwähnen, als daß mein schwacher Leib, und mein schwacher Kopf, den der Leser aus allem, was ich bisher von mir erzählet, leicht abnehmen kann, alle Bewegungen, und den Aufstand wider mich, so nach Publicirung dieses Tractats, und da man mich darüber zur Rede gesetzet, erfolget, auszustehen fähig gewesen. Ich habe vielmal bei mir selbst gedacht: und wenn ich alle wunderbare Erhaltungen zusammen nehme, so ehemals in der Welt geschehen, so kann ich solche kaum mit dem vergleichen, daß ich bei solchen Troublen, so ich mir zugezogen, und worinnen vielleicht ein starkes Gemüte nur seine Lust suchen würde, bei aller meiner vielen Furcht, Sorge, Angst, schlaflosen Nächten, Raten und Widerraten, Drohungen, und Aufrichtungen der Leute, und unsäglichem Streit und Kampf im Gemüte, der vom 13. Julii an bis bei nahe zu Ende des Jahres gewähret, nicht meines Verstandes beraubet worden, und daß nicht alle diejenigen Leibes- und Gemüts-Krankheiten, zu welchen ich bei so vielen Jahren her den Ansatz, und die stärkeste Disposition und Potentiam proximam [nächste Möglichkeit] gehabt hatte, bei dieser Gelegenheit endlich in die Tat und in Actum ausgebrochen, so nahe ich auch dem Ausbruche derselben vielfältig mal bei diesen stürmichten Zeiten gewesen.

Zwar hat es mir in meinem Leben bei aller der Furcht, die ich mir hier und dar beigeleget, und zugeschrieben, nicht an Herz und Mut gefehlet, so oft und so lange ich nur mit der Krankheit des Milzes, und der Melancholie verschonet geblieben. So lange mich nur diese Übel nicht plagten, so erschrak ich vor keinen Menschen, und vor keinem Feinde; ja ich kunte so gar wider denselben allen meinen nötigen Zorn und Eifer auslassen, in so ferne er erlaubet war, ohne mein Gemüte sonderlich in Unruhe[349] zu setzen. Ich will nicht sagen, daß ich auch viele und große Sorge über mich nehmen, und weit aussehende Projecte machen konnte, ohne daß mir solches eine Pein, oder Mühe verursachet hätte. Ich würde auch dazumal bei meiner ganzen Process-Sache, wenn ich sie so nennen mag, ganz anders, und beherzter, und mutiger mich bezeuget haben, wenn nicht kurz zuvor ein gewisses Versehen, und Versäumnis, mich aller der Leibes- und Gemüts-Stärke, aller Courage und Herzhaftigkeit beraubet hätte, deren ich mir einige Zeit, und schier ein ganz Jahr vorher bewußt war. Wer da weiß, was die Versäumnis des Aderlassens insonderheit bei Hypochondriacis, und dick- und hitz-blütigen Leuten, insonderheit wenn die Natur schon einmal daran gewöhnet worden, vor böse Folgen nach sich ziehe: wie das Geblüte, wenn desselben zu viel ist, und nicht fort kann, allerhand Verstopfungen im Milze, oder auch im Haupte, und dadurch Furcht, Angst, Bangigkeit, Sorgfältigkeit, flüchtige Gedanken, und alle die Übel wieder zu verursachen pflege, welchen man durch das Aderlassen vorhin abgeholfen hat, der wird sich nicht wundern, wenn er meine schlechte Gemüts-Beschaffenheit hier lesen wird, mit welcher ich den Motibus und Bewegungen, und Sturm-Winden der Trübsal, wenn ich sie so nennen darf, entgegen gegangen. Ich weiß nicht mehr, was mich im Frühjahre 1728 am Laxiren, und Aderlassen gehindert, oder was gemacht, daß ich es immer von einer Zeit zur andern aufgeschoben; absonderlich, da ich schon die hohe Notwendigkeit solches zu tun aus vielen wichtigen Umständen spüren konnte. Ich war den Winter durch frisch, gesund, stark, mutig, und beherzt gewesen: mein Buch, das schier [bald] aus der Presse kommen sollte, machte mir wenig Sorge, und erschrak keinesweges vor allen denen Verdrüßlichkeiten, die ich mir vorher prophezeiete, ob ich sie mir zwar nicht in so großem Maße, und mit allen Umständen so einbildete, mit welchen sie hernach verknüpfet waren. Allein, da es nach Ostern kam, und die Frühlings-Hitze angieng, so merkte ich, daß ich schon wiederum weder des Morgens, noch gegen Abend in Büchern lesen konnte, welche eine große Attention und Aufmerksamkeit auf die Sache erforderten. Die Lebens-Geister liefen so schnelle, daß ich das Buch in kurzem mußte wieder hinlegen. Ich las des Abends Burnetti Geschichte, die er selbst erlebet, von 7 bis 8 Uhr: um ein leichtes flohe ich in Gedanken zum Fenster hinunter bei aller Ruhe, bei aller Gemüts-Stille, so daß ich mich vom Fenster wegsetzen, und weiter davon im Lesen entfernen mußte.[350]

Hier kann der Leser abermals beiläufig lernen, daß dergleichen Gedanken, die denjenigen, der sie nicht kennet, und der ihrer nicht gewohnet ist, in großes Schrecken setzen, bei den Menschen entstehen können, ohne zuvorgeschehene Überlegung, ohne Neigung darzu, ohne Entschließung darzu; so wenig als einer, der des Abends einschlafen soll, halb wachend, und halb träumend den schnellen Gedanken bekommt, als ob er in eine tiefe Grube fiele: ohne Überlegung, und ohne Entschluß, vielweniger daß er mit Willen darzu schreite, mit welchem dorten Curtius sich sciens und volens, mit Wissen, und Willen entschlossen, in die offene Grube sich zu stürzen.

Ich suchte diesem Übel durch eine Spazierfahrt abzuhelfen, und fuhr mit etlichen guten Freunden Montags nach dem VII. post Trinitatis nach Etsch, welches Dorf im Walde, und in einer angenehmen Gegend liegt. Ich wüßte aber keine einzige Spazierfahrt, die ich jemals getan, so mir übeler bekommen wäre, als eben diese. Der Wirt schenkte Breyhahn [Weißbier], und er mußte unfehlbar, um denselben desto schmackhafter zu machen, Bodasche [Pottasche] hineingetan haben; denn es gieng uns beinahe eben so, wie den Studiosis in Halle vor einigen Jahren, allwo der Wirt auch mit allzuvieler Bodasche den Breyhahn angemachet hatte. Der Breyhahn dörrete im Halse, und wir kunten nicht satt trinken: wir wurden halb drehend im Kopfe, und waren von diesem Biere schon halb krank im Heimwege. Sie waren schier alle den andern Tag krank worden, die davon getrunken, und einer bekam sogar davon ein Fieber. Ich kunte die ganze Nacht vor trockenem Munde, und vor Hitze im Haupte nicht schlafen; insonderheit da die ängstliche Sorge dazu kam, was ich den andern Tag dem antworten sollte, der mich privatim meines Tractats wegen zur Rede setzen wollte, und der in meiner Abwesenheit in mein Haus geschickt, und mich zu sich entbitten lassen. Ohngeachtet ich meinem Gesinde jederzeit anbefohlen, daß sie mir des Abends nichts Wichtiges erzählen, oder hinterbringen sollten, um nicht meinen Schlaf wegen schwachen Hauptes zu hindern; so war doch das, da ich nach Hause kam, das erste, daß mir meine Magd sagte, der, und der hätte zu mir geschickt, und begehrte, daß ich zu ihm kommen sollte. Ob ich wohl nicht wußte, was bishero meines Tractats wegen unter den Membris Ministerii [Mitgliedern der kirchlichen Behörde] ergangen und beschlossen worden wäre, so konnte ich mir leicht die Rechnung machen, daß nun jetzo die Verdrüßlichkeiten ihren Anfang nehmen würden, die mich hernach[351] das ganze Jahr bis in Tod gequälet. Hatte ich die erste Nacht nicht schlafen können, so konnte ich die andere, und folgende Nächte, ja die ganze Woche durch noch weniger schlafen; indem ich vorher sahe, was ich vor einen schweren Stand meines Buches wegen haben würde, da die erste Privat-Verhörung schon so scharf gegen mich ausgefallen. Ich sahe erbärmlich des Morgens im Gesichte aus, wenn ich die ganze Nacht hindurch in Sorge und Hitze dagelegen: ich verlor allen Appetit zum Essen, und wurde recht miserable. Wegen Mangel des Schlafes bekam ich die Folgen und Zufälle des schwachen Hauptes wieder, die ich An. 1704 und An. 1717 ausgestanden hatte, so daß ich kaum das Herze hatte, da ich im andern [zweiten] Stock wohnte, zum Fenster hinaus zu sehen. Ich ließ sogar den Herrn Vorsteher durch meinen Küster ersuchen, er möchte mich doch ins Waisenhaus, oder sonst in Sicherheit und Verwahrung bringen; denn es vergiengen mir alle Gedanken, und müßte befürchten, wenn ich meines Verstandes sollte beraubet werden, das zu tun, wovor ich in meinem Leben jederzeit den größten Abscheu gehabt. Montags, oder 8 Tage drauf fuhr ich mit einem guten Freunde, und seinen Angehörigen auf sein Gut, das er im Kohlgarten hatte. Sie sahen die erbärmliche Gestalt meines Angesichtes, und vermuteten nichts Gutes. Wo ich mich recht besinne, so band [schärfte] ich ihnen mit Nachdruck ein, daferne ich meines Verstandes sollte beraubet werden, so sollten sie mir ja nicht zur Ader lassen; denn wo ein gewisser Kummer das Herze eines Menschen beängstige, so würde durch das Aderlassen das Gemüte und der Leib nur noch schwächer, daß er Kummer und Sorge nicht ertragen könne. Ob ich gleich ehemals dem noch bekannten Bortenwürker, wie ich oben erzählet [S. 328f.], vor übel gehabt, daß er Schlösser vor seine Fenster geleget, so war doch die Zaghaftigkeit, Furcht, und Einbildung bei mir so groß, daß ich eben dergleichen tat, so bald ich des Abends nach Hause kam; aber ich ward vor meine Zaghaftigkeit und Mißtrauen dieselbe Nacht was rechts gezüchtiget. So elend die vorigen Nächte gewesen, so waren sie vor nichts zu rechnen gegen dieser Angstvollen Nacht. Es quälte mein Gemüte, daß ich durch Mißtrauen von Gott wäre abgefallen, ob ich wohl sonsten nicht vor unrecht hielt, bei verletzten Phantasien und Einbildungen dasjenige zu tun, was den Ausbruch der verletzten Phantasie hemmen kann. Es schmieß, warf, und polterte in meiner Kammer, oder zum wenigsten in meiner Imagination, daß mir angst und bange wurde. Denn da ich meinen Famulum, der in der Stube neben[352] meiner Kammer schlief, fragte, ob er denn nicht das Poltern gehöret, so wollt er nichts gehöret haben.

Den andern Tag faßte ich einen andern Schluß, und dachte, ehe ich soll in solcher unbeschreiblichen Seelen-Angst auf meinem Lager liegen, so will ich lieber alles aufmachen, Schlösser, und alles wegtun, es gehe, wie Gott wolle. Denn das war mein Trost vor Gott, daß ich mich lieber mit glühenden Zangen wollte zerreißen lassen, als mit Wissen und Willen, und gesundem Verstande das tun, was ich fürchtete. Freilich dachte ich, dieselbe Nacht wäre die letzte in meinem Leben, da auch allerhand Omina dazu kamen; wiewohl die Menschen in solchem Zustande überall Omina finden, und machen, wo keine sind. Es war doch was Seltsames, ein guter Freund, und noch jemand anders kamen zu mir des Abends nach dem Abend-Essen; und um die Gedanken zu vertreiben, ergriffen wir die Lombre-Karte. Der große berühmte Carpzov, ehemaliger Pastor in der Thomas-Kirche, hat sich kein Gewissen gemacht, zuweilen mit einer Spiel-Karte sein Gemüte zu belustigen; und ich habe es auch jederzeit unter die indifferenten und Mittel-Dinge gezählet, wenn der Mißbrauch davon abgesondert wird. Nun sollte man nicht denken, daß der Casus und blinder Zufall sich so weit erstrecke, und daß es möglich sei, daß einer in zwei Stunden nicht ein einziges Spiel bekomme. Und siehe, dies geschach doch gleichwohl, so daß die, welche mit mir spieleten, des Verwunderns kein Ende machen kunten. Dieses mehrte nun freilich meine Furcht, gleich als ob nunmehro Stern, und Glücke, und alles mich verlassen hätte; jedoch stritte ich, so gut ich kunte, wider alle Furcht, und warf mich mit Gebet in die Hände des lebendigen Gottes. Denn ist es manchmal erschrecklich, so ist es zuweilen auch tröstlich mit David in die Hände des Herrn zu fallen [2. Sam. 24,14]. Nun was geschahe? Ich hatte mich kaum auf mein Bette hingeworfen, so schlief ich ein, und mein Schlaf währete bis in hellen Morgen; so daß ich über Gottes seiner wunderbaren Hülfe erstaunen mußte, weil dieses in 3 Tagen die erste Nacht war, da ich wieder den Schlaf bekommen. Ja es war auch eine Gnade von Gott, daß, da ich mich nun einmal selbst verleugnet, und Gottes Willen mich ganz ergeben, diese Plage bei allen folgenden Troublen nicht wieder gekommen, auch zum wenigsten allemal, zum wenigsten in den ersten Stunden der Nacht durch den Schlaf ein wenig mich stärken können.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 349-353.
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