Anno 1692
§ 20

[60] Dies halbe Jahr, da ich noch in Secundo Ordine saß, kam mir wohl zu statten; denn ich hatte gute Gelegenheit, mich so zu præpariren, damit ich künftige Ostern 1693 mit desto größerm Vorteil in Primum Ordinem könnte transferiret werden. Mein Bruder diente dazumal auf der Niclas-Gasse bei einer alten gottseligen Witfrau, die alte Seligerin genannt, vor Schenke, und war wie Herr im Hause. Es war ihm leicht, seine Frau Wirtin zu bewegen, daß sie mich zu sich in ihr Haus nahm, und, weil sie des Abends, wenn nicht Schenk-Tag war, sich meistens ganz alleine befand, mit sich essen ließ, und mit mir, die Zeit zu vertreiben, allerhand discourirte [redete]. Im Schenk-Tage aber satzte ich mich des Abends an einen Tisch, wo keine Gäste waren, las in Büchern, besorgte meine Schul-Sachen nach aller Bequemlichkeit, ohne daß mich jemand hindern konnte. Einst kam ich bei meinem ordentlichen [der Reihe der Bibelbücher folgenden] Bibel-Lesen auf das 17. Kapitel des Evangelisten Johannis. Ich kann nicht sagen, was dieses Kapitel vor gute Bewegungen in mir verursachet. Ich konnte des Weinens kein Ende machen, weiß aber nicht mehr so genau, was ich vor Reflexions darüber[60] müsse angestellet, und gehabt haben, die mir so viel Tränen heraus preßten. Dieses weiß ich, daß ich Kraft dessen, was mir begegnet war, mir vornahm, mit allem Ernst hinfüro alle Sünden zu meiden, und der Gottseligkeit mit allem Ernst mich zu befleißigen. Ich hatte auch dadurch so viel Kraft bekommen, daß ich drei Wochen völlig so lebte, wie ich immer gewünscht hatte, daß ich leben möchte. Man könnte schier eine ganze Disputation schreiben von dem, was sich mit dem 17. Kapitel des Evangelisten Johannis zugetragen. Denn diejenigen, welche Historien über die Bibel, und über allerhand wichtige Örter [Stellen] derselben aufgezeichnet, unter welche des Herrn Schmidts Schriften, und Joachims Biblia in Historiis zu rechnen, oder welche das Leben gottseliger und wiedergeborner Christen beschrieben, wissen allerhand merkwürdige Geschichte zu erzählen von denen, die sich solches Kapitel entweder auf dem Sterbe-Bette vorlesen lassen, oder wegen dessen Vortrefflichkeit mit Dannhauern gewünscht, daß es auf einen gewissen Sonntag unter andere Evangelia wäre verleget worden; oder die sonst große Erquickungen darinnen gefunden.


Anno 1692

Den dritten Weihnachts-Feiertag hatte ich keinen Tisch [Freitisch]. Ob ich nun wohl zu meinen Eltern in die Vorstadt hätte gehen können, oder auch leicht im Hause etwas würde zu essen bekommen haben; so gieng ich doch lieber, weil es schön leidlich Wetter, zur Eß-Zeit um die Mühlen spazieren, fastete denselben Tag bis auf den Abend, betete und sang, und suchte mich in meinem guten Vorsatze zu befestigen. Allein dieser glückselige und ruhige Zustand, was meine leibliche Glückseligkeit anbetraf, währte nicht lange, sondern ward gegen Ostern, oder kurz nach Ostern durch den Tod dieser meiner großen Wohltäterin gar bald unterbrochen. Du magst mich nun vor einen Träumer halten, oder vor was du willst, so kann ich nicht umhin, dir abermal zwei merkwürdige Träume zu erzählen, die mir solche Veränderung meines Zustandes vorher angedeutet. Die eine Nacht träumte mir, als ob meine Bücher mir aus denen Fächern, und Regalen des Repositorii [Bücherschranks] fielen: so oft ich sie wieder hinein setzte, so ofte fielen sie immer wieder heraus; dies trieb ich im Schlaf so lange, bis mir das ganze Repositorium umfiel. Die dritte, oder vierte Nacht darauf träumete mir, als ob der Bier-Kegel, den die Kretschmer [Wirte] in Breslau, wenn[61] Schenk-Tag ist, herausstecken, wie hier [in Leipzig] in der Säge, und im Einhorn vor dem Grimmischen Tore solche Kegel auch zu sehen sind, herunter und in Stücken fiele. Ich gieng im Traume in das Gymnasium darüber; und, weil es Schenk-Tag war, dachte ich immer, was sie doch in solchem Falle machen würden. Wie ich aber aus dem Gymnasio kam, (so deuchte es mich im Traume,) so sahe ich, daß ein neuer und ganz anderer Kegel an des vorigen Stelle war aufgestecket worden. Die Träume bekümmerten mich nicht wenig; es währte aber nicht lange, so wurde die Deutung handgreiflich. Denn so gesund meine Wirtin dazumal noch war, so wurde sie doch unvermutet krank, und in kurzem starb sie gar. Es kaufte das Haus ein ander Kretschmar vom Sande, ich und mein Bruder mußten ausziehen; da fielen also meine Bücher in der Tat aus dem Repositorio, und es kam auch ein anderer Kegel an des vorigen Stelle.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 60-62.
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