§ 25

[67] Sei hier, geliebter Leser, nicht curieus [neugierig] zu wissen, was denn das wohl vor Sünden müssen gewesen sein, die mir zu einer solchen Last worden; du kannst ja leicht von dir selbst schließen, was vor Sünden und lasterhaften Gewohnheiten die Jugend unterworfen ist. Ich wollte dir es auch gerne sagen, und frage wenig darnach, wer und welcherlei ich in der Jugend gewesen bin; und was die Leute davon urteilen möchten; aber wenn die Welt-Menschen hören, daß auch ein Prediger in der Jugend eben nicht allemal der Frömmste gewesen, sondern diese und jene Sünde begangen, welche sie auch an sich, oder zu der sie doch große Neigung haben; o denken sie, bist du dem allen ungeachtet, gleichwohl dadurch nicht um alle deine irdische Glückseligkeit kommen, und ist noch ein Mann aus dir worden, der der Welt, und seinem Nächsten noch dienen kann; so werd auch ich mir kein Gewissen machen dürfen, solche zu begehen, oder in denselben zu verharren. Gereicht also eine solche Specificirung den Welt-Kindern insgemein zu großem Ärgernis, und ist besser, daß solche verschwiegen, als weitläuftig beschrieben werden. Vielleicht machst du daraus gar keine, oder nur kleine Sünden, welche ich in der Jugend bei mir vor sehr groß angesehen. Hiob war ein gottsfürchtiger Mann; und ich weiß, du wirst ihm doch nicht Himmel-schreiende Sünden, oder Sodoms-Missetaten [1. Mos. 18–19], so er als ein Jüngling begangen, zuschreiben wollen; und dennoch klagte er einst, und sprach zu Gott: Du schreibest mir an Betrübnisse, und willst mich umbringen um der Sünde willen meiner Jugend [Hiob 13,26].

Nebst andern Sünden, denen ich ergeben, waren, wahrlich, das keine geringe, daß ich immer fleißiger studiren wollte, und doch immer die Spiel-Compagnien mich davon abhalten ließ: daß ich mir immer vornahm, den Tag des Herrn mehr zu heiligen, und doch den Tauben-Markt und die Schacherei mit den Tauben unter währendem Gottesdienste nicht lassen konnte: daß ich mit meinen Eltern und Geschwister es beinahe machte, wie oben der Fleischer mit seinem Weibe, und mir stets vorsetzte, gütig und sanftmütig gegen sie zu sein, und doch immer den Vorsatz brach, und durch Wiederbellen, und Wiederkeufen [Widerkeifen] sie zum Zorn und Zank bewegte. Ob ich gleich studirt hatte, und gelehrter, als sie, war, so sagte mir doch mein Gewissen, daß ich die Einfalt und Schwachheit der armen alten Eltern mit Gedult ertragen sollte. Ich gieng vielmal mit Furcht, und Zittern zu meinen Eltern und Geschwister hinaus; Herr[68] Jesu Christ, betete ich auf dem Wege, hilf mir doch, daß ich mit aller Freundlichkeit ihnen begegne, und mit ihnen nicht, wie die Brüder Josephs mit ihrem Bruder, umgehe, und zanke [1. Mos. 37,4.8]. Aber je mehr ich mir vornahm gütig zu sein, je ärger fieng ich von Zorn an zu toben, sobald sie mir etwas vorhielten, und etwan jemand mich bei ihnen fälschlich verleumdet und angegeben hatte. Und was soll ich sagen von der allzugroßen Schärfe gegen die armen Kinder, die man mir in Conditionen [in den Hauslehrerstellen] auf meine Seele gebunden hatte, zu welcher mich oft der Jach-Zorn gereizet, und wodurch ich denselben mehr geschadet, als genutzet? Ach was hat mir dieser Affect in meinem Leben vor Mühe gemacht, und mich vor Tränen gekostet! Ich hatte erbarmende Liebe zu meinen Discipeln [Schülern], und es jammerte mich, daß ich nicht gelinder sein konnte. Arm war ich, und wußte nicht wohin, und vom Informiren mußte ich leben, und hatte doch nicht die nötige Sanftmut, die zu einem Informatore [Hauslehrer] erfordert wird. Diese Bestie, der Jach-Zorn, hat in mir zu wüten auch nicht eher aufgehöret, bis Gott endlich einen Affect mit dem andern vertrieben, und durch schreckliche Furcht und Melancholei dem Zorn ein Ende gemacht, oder denselben doch sehr geschwächet; und bis ich die Wurzel der unmäßigen Affecten im Leibe gefunden, und durch Medicamente dem feurigen und hitzigen Geblüte des Leibes widerstanden habe.

Der Hochmut, welcher der Grund des meisten Zorns und Zanks unter den Menschen ist, war um diese Zeit auch Ursache, daß ich mit meinem Bruder, dem Kretschmar-Schenken [Dienstbote bei einem Schenkwirt], zerfiel, und schier dies ganze 1694. Jahr mit ihm in Unversöhnlichkeit lebte. Er konnte ohne mich nicht wohl sein; denn er hatte sein großes Wohlgefallen an mir, und meinen Gaben; und ich kunte noch viel weniger seiner entbehren, weil ich viel Wohltaten, und Geld zu Büchern und Kleidern von ihm empfieng, und an ihm einen rechten Vater hatte. Wir waren aber erst mit Worten, und hernach auch durch Briefe hart an einander geraten, weil ich seine große Schärfe und Strenge aus großer Einbildung nicht vertragen kunte. Ich hielt Unversöhnlichkeit vor eine große Sünde, und es lag mir immer auf dem Herzen, daß ich in solcher Sünde lebte. Ich bat Gott, er möchte doch Mittel und Wege zeigen, daß wir wieder mit einander könnten versöhnet werden. Es lag nur daran, daß ich zu ihm käme, und ihm ein gut Wort gäbe; ich war aber als ein Starr-Kopf lange nicht dazu zu bringen, bis mein Wirt, der[69] Fleischer, mich einst beredete, mit ihm in dasjenige Haus zu Biere zu gehen, wo mein Bruder Schenke, oder der oberste Dienst-Bote war, da er mich denn gar freundlich empfieng, und wir also mit einander gute Freunde worden.

So lange wir zuvor als Brüder lebten, hatte ich immer einen Groschen Geld bei mir. Das tat mir wohl, denn ich durfte in eine Compagnie zu gehen mich nicht schämen. Da es nun Zeit währender [während der bestehenden] Unversöhnlichkeit mir es gar sehr am Gelde gebrach, und ich wegen solches Mangels manche Gesellschaft ausschlagen mußte, auch nach Salomonis Ausspruche, den er von den Säufern und Spielern getan, zerrissene Kleider mit mähligen zu tragen anfieng, ließ ich mich so gar mein Fleisch und Blut verleiten, daß ich einem von meinen Comilitonibus, den ich im Ebräischen etliche Stunden die Woche informirte, ein Buch entwendete, und zu Gelde machte. Ich gieng zwar an diese Tat eher nicht, als bis ich erst per modum voti, und als ein Gelübde Gotte mit vielen Worten versprach und zusagte, daß, so bald ich wieder zu Gelde kommen würde, ich dergleichen Buch, oder doch eben so viel Geld, ihm restituiren [zurückerstatten] wollte; aber es gab solches doch meinem zarten Gewissen keine Satisfaction, welches wegen guter Auferziehung in der Jugend so wenig, als mein Auge vertragen kunte. Ich hielt auch hernach, was ich Gotte versprochen und zugesaget. Denn nachdem ich das folgende Jahr, als mein Vater starb, 100 Rtl. geerbet, schickte ich ihm so viel Geld in Briefen zu, von denen er nicht wußte, wo sie herkämen, als das Buch wert war. Er erzählte mir mit Freuden, so bald ich zu ihm kam, sein Glücke, daß ihm ein unbekannter Patron, ohne seinen Namen zu nennen, einen Brief mit Gelde zugesendet; ich ließ mir es aber nicht merken, daß ich derjenige Patron, oder vielmehr der Dieb wäre, der nur das Ablatum restituiret [das Gestohlene zurückerstattet] hätte. Weiter besinne ich mich nicht, daß ich nach dieser Zeit jemanden etwas entwendet, oder veruntrauet, sondern vielmehr, daß ich mein Lebtage, vielleicht wegen meines praædominirenden Temperamenti sanguinei, von meinem Wenigen den Armen Gutes zu tun, und ihnen zu helfen geneigt gewesen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 67-70.
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