Anno 1676
§ 5

[22] Die folgenden Tage in dem ersten Jahre meines Lebens waren wohl ein recht Vorbild aller andern Tage und Jahre meines Lebens, die darauf folgen sollten. Wie mir meine Mutter und Geschwister vielmals erzählet, so habe ich das erste halbe Jahr auf der Welt nichts anders getan, als Tag und Nacht geweinet und geschrien; und dies auf eine so anhaltende und erbärmliche Weise, daß meine Eltern nicht davor schlafen können, und insonderheit die Mutter, so die meiste Mühe mit mir gehabt, oft bei Tische stehende über dem Gebet einschlafen wollen. Quando infans plorat nascens, propheta futurae suae calamitatis est,[22] spricht ein alter Kirchen-Lehrer, wenn ein Kind auf die Welt kommt und weinet, so ist es mit seinem Weinen ein Prophet seines zukünftigen Elendes, so es in der Welt wird ausstehen müssen. Das ist recht bei mir eingetroffen. Denn wenn ich bedenke die vielfältigen Plagen, so ich Zeit meines Lebens im Leibe und am Gemüte gehabt: die seltsamen Anfechtungen, so über mich kommen: die Seelen-Angst, in der ich oft gestecket: die Tränen, in welchen mein ganzes Leben, und insonderheit meine Jugend gleichsam geschwommen: Tränen über Armut, Tränen wegen Unglück, Tränen wegen begangener Sünden, Tränen wegen der Strafe der Sünden, Tränen, daß ich der Sünden nicht los werden können, Tränen vor Freude, und Liebe zu Gott, wenn ich derselben los geworden, und Gott mich wiederum getröstet: Tränen wegen Sehnens und Verlangens, daß mein Jammer, Trübsal und Elend doch endlich zu einem seligen Ende kommen möchte; ich sage, wenn ich dies bedenke, so kann ich nicht anders glauben, als daß ich dazumal auch ein Prophet gewesen, und mein Heulen und Weinen in der Welt durch ungewöhnliches Schreien in der ersten Kindheit vorher verkündiget habe.

Es hat nicht wohl anders sein können, als daß ich ein dickes und schwarzes Blut, verstopfte Viscera, Spasmos und Contractiones Nervorum [Eingeweide, Krämpfe u. Nervenlähmungen], ein zusammen gepreßtes Herze, oder überhaupt eine kränkliche verderbte übele Leibes-Disposition aus Mutter-Leibe habe bringen müssen. Denn in dem Jahre, da meine Mutter mich unter ihrem Herzen trug, setzte der Einfall der Schweden in Pommern ganz Schlesien, und die meisten Inwohner in Furcht und Schrecken, als die noch gar wohl wußten, was vor Not und Jammer sie im 30jährigen Kriege ausgestanden, und daß die Schweden nicht sowohl die Schlüssel zu den verschlossenen Kirchen, als vielmehr die Schlüssel zu den Kühe- und Pferde-Ställen gebracht hätten. In den Vorstädten, und auf den Dörfern bei Breslau herum hatten dazumal die armen Leute vielmal das Essen zu Mittage auf dem Tische müssen stehen lassen, und davon laufen, und auf den Böden unter die Heu-Schober und Stroh-Schütten sich verstecken, und dabei zugleich in Todes-Angst stecken müssen, wenn die streifenden Parteien gekommen, alles geplündert, ja wohl gar in das Heu und Stroh mit den Degen gestochen, und die Leute aufgesuchet, und wenn sie dieselben gefunden, sie gemartert, und ihnen den damals sogenannten Schwedischen Trank eingegeben, oder sie solchen einzunehmen genötiget, wenn sie nicht gesaget, wo sie ihr Geld hätten. Solches, und noch mehr[23] hatte meine Mutter in ihrer Jugend erlebet und erfahren; und, da sie von Natur ein furchtsam Weib war, so kam jetzt, nämlich im Jahr 1675 noch dazu, daß sich alle Inwohner auf dem Lande, und alle Kohl-Gärtner in der Vorstadt mit Gewehr versehen, und auf ein Jahr verproviantiren mußten; welches alles sie in große Angst gesetzet, so daß es nicht Wunder, daß der ein melancholisches Geblüte, und ein zusammen gepreßtes Herze auf die Welt gebracht, den die Mutter unter einem 9 Monat lang zerknirschten, und mit Furcht und Angst beklemmten Herzen getragen; partus enim sequitur conditionem ventris. Weil ich auch nicht habe an der Mutter trinken wollen, so hat man mich mit Küh-Milch kümmerlich ernähren müssen; welches ich jederzeit mit als eine Ursache meiner schwachen Leibes-Constitution angesehen, indem mich die Erfahrung nur allzu oft an andern gelehret, daß die Kinder, so nicht mit Menschen-Milch getränket werden, schwache und elende Kreaturen am Leibe und am Gemüte werden, und vielen unordentlichen Affecten und Neigungen unterworfen sind. Zu solcher schwachen Leibes-Constitution mag auch ein großes beigetragen haben das starke Nasen-Bluten, so ich, so viel ich mich erinnere, im 5. Jahre gehabt, welches einst vom Morgen bis auf den Abend gewähret, so daß schier kein Leben mehr in mir gewesen. Ich besinne mich noch ganz eigen [genau], wie man mir dazumal allerhand Dinge, und insonderheit Küh- oder Pferde-Mist vor die Nase gehalten, um das Blut zu stillen, und das Leben zu retten.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 22-24.
Lizenz: