Anno 1704
§ 56

[136] Nach der Zahl-Woche ließ ich mich [von] einige Studiosos bereden, sowohl ein Collegium Homileticum Dispositorio-Elaboratorium [Kurs für den Aufbau und die Ausarbeitung einer Predigt], als auch einen Cursum hebraicum anzufangen. Und ich glaube, daß dies nicht ohne Direction [Leitung] Gottes geschehen, damit ich auf solche Weise nicht ganz müßig wäre, und meinen eigenen Gedanken nicht so viel Platz gelassen würde. So geschickt ich nun auch sonst war, ziemlich fertig zu reden, so oft ich docirte und andere lehrte; so turbirten [verwirrten] mich doch ungemein sehr die gewöhnlichen schrecklichen Gedanken, die mir mitten im Dociren einfielen, und die schier der Verzweifelung immer mehr den Weg bahnten. Sagte ich etwan im Collegio hebraico, und unter dem Dociren: Dieser Litera [Buchstabe] wird im Lesen absorbiret, gleich fiel mir auf die lebendigste Weise ein: wie du von der Höllen wirst absorbiret werden. Sprach ich: v finale abjicitur [hebräisches Schluß-›n‹ wird abgeworfen], den Augenblick hörte, als ob es jemand anders, als ich selbst, in mir spräche: so wie du von Gott weggeworfen bist. Und dergleichen unzählige Einfälle mehr, die mich in der Rede auffahrend und stockend machten, weil das Herz vor solchen Pfeilen erschrak, so oft sie geflogen kamen. Sprach ich, künftigen Montag wollen wir v.g. zum 6. Kapitel schreiten; den Augenblick fiel mir ein: Ja den Montag wirst du schon in der Hölle sein. Sagte ein anderer: Übermorgen wollen wir da und dorthin spazieren gehen, und den Herr Magister abholen; gleich dachte ich: Ja da werdet ihr mich in meinem Blute liegend antreffen. Und wenn gleich nun schon diese Dinge niemals eintrafen, und wahr wurden, so daß ich mir deshalben zuredete, ich sollte doch nicht vor solchen Einfällen erschrecken, weil mir doch die Erfahrung lehrte, daß alles erlogen wäre, und niemals geschähe, was ich gedächte; so konnte ich doch dieser entsetzlichen Plagen eine geraume Zeit nicht los werden.[136]

Mein höchst schwaches Haupt, und Imagination war auch Ursache, daß mir Bilder von andern Taten und Werken einfielen, die ich mit gutem Gewissen nicht hätte tun können, auch zu tun keinen Vorsatz noch Lust, sondern den größten Abscheu davor hatte, so daß ich mich recht zwingen mußte, nicht nach dem deutlichen Bilde zu tun, was mir vorkam. Wenn auch mein Zustand sonst leidlich war, so durfte ich keinem Ofen zu nahe kommen; denn ich hatte eine solche lebendige Idée, und Bild bei aller sonst geruhigen Gemüts-Disposition, als ob ich mit dem Kopfe wider denselben liefe, daß ich mir auch den Kopf mit der Hand, oder etwas vor dem Kopf im Hin- und Hergehen vorhalten mußte, damit ich nur den Ofen nicht sehen dürfte. Vor zwei Jahren erzählte mir ein hiesiger Bürger, daß ihm dergleichen auch begegnet, ehe ich ihm meinen Zufall erzählet hatte. Wäre damals der Verstand durch schlaflose Nächte, oder durch andere Ursachen draufgegangen und verloren worden, so bin ich gewiß, daß ich mechanice, und brutaliter [mechanisch und stumpfsinnig] nach diesem Bilde der Imagination würde agiret und gewürket haben, v.g. wider den Ofen gelaufen sein, so man mich demselben nahe kommen lassen, und der Natur der Lauf wäre gelassen worden. Denn wo keine Vernunft ist, da agiret ein Tier mechanice, und physica necessitate [aus Naturnotwendigkeit], nach den Bildern, die ihm eingedruckt worden. So lange aber noch der Verstand und Vernunft vorhanden, so hat ein Mensch noch Macht, durch dieselbe die Phantasie zu überwinden, und doch nicht nach dem Bilde zu tun, das er im Gehirne hat; es müßte denn die allzu lebhafte Vorstellung eine Übereilung verursachen, die ihm neue Angst und Furcht genug machen dürfte, daferne sie geschehen sollte, wie sie wohl meines Erachtens in der Welt bei dergleichen Subjectis [Leuten] geschehen mag, und also dadurch diese neue Angst und Furcht den Weg zur Schlaflosigkeit und höchsten Schwächung, ja Beraubung des Verstandes bahnen mag. Saß ich damals, oder stund nahe bei einem, so mußte ich mir oft den Mund zuhalten, daß ich ihn nicht anspie, wenn er gleich mein Freund war, und ich alle Liebe zu ihm hatte, so daß ich gar nicht wußte, warum ich ihn anspeien sollte. Denn das Anspeien kam mir so deutlich vor, als ob es geschähe. Oder ich schlug ihn in Gedanken mit der Hand ins Angesichte, so daß ich die eine Hand mit der andern Hand halten mußte, damit es nur nicht würklich geschehen möchte. Vor allem Ungewöhnlichen erschrickt man zu solchen Zeiten; allem Ansehen nach, weil die betrübten Affecten,[137] Furcht, Angst und Sorgen lauter Contractiones nervorum [Lähmungen der Nerven], kleine Convulsiones [Zuckungen], Spasmos [Krämpfe] im Milz, und andern Gefäßen des Leibes verursachen. Ich konnte nicht ohne innerlich Auffahren eine große Ziffer sehen, v.g. eine 6 oder 9; ein Spatium [Lücke], wo drei oder vier Bücher gestanden, machte mir schon Ängstlichkeit, und konnte nicht ruhen, bis der Raum wieder mit Büchern ausgefüllet wurde. Ich bebete vor einem Zeddel [Zettel], wenn derselbe auf einem Fenster lag, wo er sonst nicht zu liegen pflegte, und konnte nicht ruhen, bis ich ihn in seinen ordentlichen Ort wieder geleget. Ich betete, doch meistens ohne sonderbare [sonderliche] Bewegung, und zuweilen, wenn ich dazu schritte, und niederkniete, wurde mir das Angesicht wider meinen Willen in eine solche Gestalt gebracht, wie diejenigen haben, denen ein Ding lächerlich vorkommt; alles wegen des lebendigen Bildes, das ich im Bilde von einem, der da lacht, hatte, welches den Mund in solche Figur setzte; doch ließ ich mich nichts im Gebete hindern, es mochte solches so elend aussehen, als es wollte.

Wo du mich hier nach Art derer, so stark sind, und nicht wissen, wie einem Schwachen, der am Haupte und Leibe schwach, zu Mute ist, willst verhöhnen und verlachen, und wunder meinen, wie du dich bei solchen Fällen ganz anders verhalten wolltest, und daß es an einem Menschen selbst liege, daß er sich jedes geringes Ding in Furcht setzen, und zu törichten Einbildungen bewegen lasse, der sich vielmehr einen Mut machen, und sich nicht willig sogleich an alles ergeben müsse; so bist du selbst Auslachens würdig. Denn welcher Mensch wird doch so töricht sein, und willig in solchen miserablen Zustand sich setzen, oder darinnen verharren, gegen dessen Veränderung man wohl die ganze Welt hingäbe, wenn sie unser eigen wäre. So viel die Philosophi auch von natürlichen Dingen aufzulösen und zu reden wissen, so bleiben ihnen die seltsamesten Phænomena, die an den Menschen manchmal wahrzunehmen, doch verborgene Dinge, so lange sie solche nicht selbsten erfahren; wiewohl sie auch alsdenn nicht deutlich, und a priori dieselben zu erkennen und zu erklären fähig sind. Jetzt, da ich solches schreibe, wohnt nicht weit von mir ein gewisser Literatus, der, wie man sagt, durch die Lanceam carneam [Penis], und noch dazu extraconjugalem [außerehelich] auf eine Zeit lang sein Glücke gemacht. Er gehet als ein esprit fort [starker Geist] in keine Kirche: Religions-Sachen sind ihm ein Gelächter, er ist, wie die Welt-Kinder eine Zeit lang zu sein pflegen, stets lustig, und niemals traurig.[138] Er ist, wie jener spanische Student, der in einem Examine gefraget wurde, quid sit timor, und was die Furcht sei, und zur Antwort gab: In meinem Lande, wo ich her bin, oder in Spanien, wissen wir nicht, was die Furcht ist. Ich denke aber manchmal bei mir selbst, wenn ich ihn täglich sehe am Fenster liegen: Du armer Mensch, solltest du nur auf einen, oder zwei Tage mit der Krankheit des schwachen Hauptes von Gott heimgesuchet werden, so daß du ein lebendig Bild bekämest, als ob du dich herabstürztest, und dein Kopf auf den Steinen ganz zerschmettert würde, so daß du dich in deinem Blute schon auf den Steinen deutlich liegen sähest; Wie würdest du den Kopf zu dem Fenster hinein ziehen, vom Fenster weg, und in die Gottes-Häuser vor Furcht und Schrecken laufen. So lange der Mensch noch gut transpiriret, mehr Äther als Erde in seinem Leibe und Geblüte, keine Verstopfungen, noch Spasmos, und Convulsionen in Nerven und Gefäßen des Leibes hat, und seine Säfte nicht stocken, sondern gut circuliren, so lange weiß er nicht, was Furcht, Angst, Traurigkeit, Schrecken und Bangigkeit ist: ist mutig, wilde, frech, aufgeblasen, und in allem seinem Tun, wenn er atheistischen und verführischen Lehrern Gehör giebt, hält er Gott und Religion vor nichts; oder, so er zuweilen etwas weniges von diesen Affecten empfindet, soferne sie den Grund in übler Disposition des Leibes haben, so ist sein Leib noch so beschaffen, daß durch medicinische Mittel die Säfte leicht können verbessert und verdünnet werden, welches aber bei höchst verderbten, und lange eingewurzelten Leibes-Beschaffenheiten, dergleichen Hypochondriaci und Melancholici haben, sich schwer effectuiren und tun läßt, daferne nicht Gott bei dergleichen Fällen der beste Arzt und Helfer ist, und, wie Christus, bei manchem Patienten Leib, und Seele zugleich durch unvermutete Wege in bessern Zustand setzet.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 136-139.
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