§ 65

[156] Daferne wir etwas, als unser gegenwärtiges oder zukünftiges Gut, und als unser gegenwärtiges oder zukünftiges Übel erkennen und urteilen; so entstehet in unserm Willen entweder eine Liebe und Begierde nach dem Guten, oder eine Verabscheuung des Bösen; mit einem Worte, die beiden bekannten Bewegungen im Willen, welche wir appetitionem [Zuneigung, Lust] und aversationem [Abneigung, Unlust] nennen. Diese Bewegungen sind in unserem Willen mäßig, wenn ein Gut und Übel nur als unser geringes und kleines Gut und Übel erkannt, und geurteilet wird. Dannenhero auch einige Lehrer diese ersten und mäßigen Bewegungen im Willen affectus mentales, oder solche Affecten genennt, die in der Seele und in dem Gemüte bleiben, und sich noch nicht sonderlich im Leibe spüren und wahrnehmen lassen. Woferne wir aber urteilen, daß etwas unser großes Gut, oder unser großes Übel sei, oder sein werde; so entstehet daraus ein heftiger, und starker Wille, oder eine heftige Bewegung des Willens, heftiger Haß und Liebe, starke Freude, Traurigkeit, Furcht, Angst, Sorge, Schrecken, Hoffnung, Verzweifelung, nachdem etwan die Urteile beschaffen sind, die wir von unserm großen Gute, oder Übel fällen; welche Bewegungen mit dem eigentlichen und gemeinen Namen der Affecten beleget werden.

Die heftigen Bewegungen und Affecten erregen einmal stark unsere Lebens-Geister, nach der bekannten Meinung aller Welt-Weisen und Medicorum, welche, wie leicht zu erachten, auch einen[156] großen Eindruck im Gehirne machen, und auch notwendig durch ihre Menge, indem sie ins Gehirne einlaufen, einen größern Weg im Gehirne bis zu demjenigen Orte machen, wo sie das Bild von dem großen Gute und Übel eindrucken, und davon ein Merkmal hinterlassen. Ja man weiß, und merkts auch an sich selbst, und aus der Erfahrung, daß die Affecten auch im Leibe eine große Veränderung nach sich ziehen, und die Organa corporis, oder die Gefäße des Leibes, dilatiren und ausbreiten, wenn das Gut groß ist, welches wir als unser Gut beurteilet, und hingegen die sinnlichen Werkzeuge, ja auf gewisse Weise das Herze, und den ganzen Leib, und allerhand Gefäße desselben, Milz, Leber, Senn-Adern [Nerven], und Fibren constringiren und zusammen ziehen, wenn das Übel groß ist, das wir vor das unsrige entweder gegenwärtige, oder zukünftige angesehen und beurteilet haben. Daß die Lebens-Geister das Bild von einem großen Gute, und einem großen Übel durch ein starkes Merkmal tiefer im Gehirne einprägen, und einen weitern und größern Weg zu diesem Merkmale machen, geschiehet darum, daß der Mensch sich desto eher dieses großen Gutes, und dieses großen Übels erinnern, und desto eher Anstalt machen könne, dem Übel zu entgehen, und des Guten teilhaftig zu werden, als worauf zur Beförderung und Erhaltung unserer Glückseligkeit viel ankommt. Daß sie aber auch den Leib, und die sinnlichen, und andern Werkzeuge des Leibes, ja das Herze selbst zusammen ziehen, oder erweitern, constringiren oder dilatiren, geschiehet zu dem Ende, und hat nach Gottes wunderbaren Weisheit dieses Absehen, damit die Glieder des Leibes, als solche Werkzeuge und Mittel in den Stand mögen gesetzet werden, das Übel zu ertragen, oder abzuwenden, und zurücke zu treiben, oder das Gute zu genießen, anzunehmen, und desselben teilhaftig zu werden. Denn wenn wir Menschen an ein groß Gut, oder Übel gedenken, und ein Bild davon bekommen, so gedenken wir auch zugleich, und erinnern uns, oder können uns doch leicht erinnern solcher Mittel, und solcher Dispositionen und Beschaffenheiten des Leibes, der Arme, der Füße, Ohren, Augen, und anderer Glieder, die zu Abwendung des Übels, und zur Erhaltung des Guten nötig sein werden. Und nach diesem Erinnerungs-Bilde im Gehirne bildet und figuriret auch die Seele den Leib und die Glieder. Wenn mich einer angreift, auf mich zu kommt, und mich töten will; bei dem Bilde des Todes und des Übels kriege ich auch ein Bild von meinen Armen, wie die werden sein müssen, und was ich mit ihnen werde tun müssen, den Mörder abzuhalten,[157] und mich zu wehren; folgentlich wird mein Arm gebildet und figuriret nach dem Bilde im Gehirne: und Zorn, und Furcht treiben alsdenn die Lebens-Geister in großer Menge in die Armen, dieselben stark, und stärker, als sonst zu machen, das Übel abzuwenden.

Dieses kann uns auflösen, und die Ursachen zeigen, warum manchmal bei Feuers-Brünsten die Menschen aus Furcht ihre Güter zu verlieren, und aus Begierde sie zu erhalten und zu retten, im Leibe und auf ihre Armen so stark werden, daß sie große Lasten in Eil wegtragen können, die sie mit kaltem Geblüte, und außer der Gefahr wohl würden haben müssen ungetragen lassen. Am besten kann diese Sache mit dem Exempel von den Gliedern erläutert werden, so zur Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts bestimmet. Jede Liebe strebt nach der Vereinigung mit der geliebten Sache, dieselbe zu ihrem Wohlsein und Erquickung zu gebrauchen, und anzuwenden. Nachdem nun das Gut ist, nach dessen Vereinigung ich strebe: und nachdem die Art und Weise ist, nach welcher ich mit der geliebten Sache kann vereiniget werden, nach dem dehnen sich auch die Glieder des Leibes und sinnlichen Werkzeuge aus, und setzen den Menschen in den Stand, des erkannten Guten durch die Vereinigung teilhaftig zu werden. Obgleich in unsern Ohren und Augen nicht so eine große Erweiterung und Ausdehnung, wie bei andern Gliedern und Gefäßen des Leibes, vorgehen kann; so sperren wir doch Augen und Ohren auf, wenn was Angenehmes zu hören und zu sehen ist, damit wir solches desto besser wollen sehen, hören, und genießen. Ja unser Herz tut sich, wie Paulus von seinem Herzen saget, zuweilen vor Freuden auf, und breitet sich aus, cor nostrum dilatatum est [2. Kor. 6,11]: gleichwie es sich hingegen vor Furcht, Angst und Traurigkeit zusammen ziehet und preßt, welche Zusammenziehung und Zusammenpressung wenn sie nur nicht allzu stark und groß ist, auch das ihrige zur Erhaltung der Gesundheit, und das bevorstehende Übel abzuwenden, oder es ohne Gefahr zu leiden, beiträgt.

Gleichwie dieses ein Stücke der Weisheit Gottes ist, und jeder gerne zugestehet, daß uns die Affecten von Gott gegeben zu unserer Glückseligkeit, und zu Erhaltung unsers Leibes und Lebens: so mag freilich wohl durch den Fall unserer ersten Eltern, gleichwie unsere Seele, also auch unser Leib höchst sein verderbet worden, so daß diese Affecten, die uns zum Leben gegeben waren, jetzund zufälliger Weise [sekundär] allerhand Krankheiten, und wohl öfters den Tod selbst befördern. Kraft dieser Verderbnis[158] urteilen wir nicht allemal recht, was ein Gut, und was ein Übel sei: item [ebenso], was ein großes Gut, und was ein großes Übel sei. Wir sehen es vor größer an, als es ist; folgentlich sind auch die Affecten unmäßig, die Bewegung der Lebens-Geister zu stark und zu heftig; welche allzu heftige Bewegung dann, an statt daß sie den Leib in Stand setzen sollte, dem Übel zu entgehen, und des Guten teilhaftig zu werden, denselben vielmehr bildet und figuriret nach dem Bilde der Krankheit, und des Übels, um welches willen die Seele vor den Leib besorget gewesen, und was sie vor den Leib befürchtet (corpori metuit); oder bringet den Leib auch gar in solche Unordnung durch allzu große Ausbreitung, daß der Mensch das Gute nicht genießen, noch erlangen kann, das er allzu groß geschätzet, und geurteilet. Die Exempel derer sind bekannt, die vor Freuden gestorben; da uns doch der Affect der Freude zum Leben gegeben ist; und man kann da leicht gedenken, wie es in solchem Falle in der Seele und im Leibe zugehen müsse. Und ein ehemals allhier berühmter Medicus hat Ursache gehabt, der excessiven Furcht zuzuschreiben, daß zur Zeit der Pest so viel Menschen hingerissen werden. Hat unsere Furcht ein allgemeines Objectum, so daß ich den Verlust meines Lebens, und den Untergang meines Leibes überhaupt fürchte, so ziehen sich die Lebens-Geister in Menge nach dem Herzen zu, das Herze, als den Brunn des Lebens, zu conserviren. Wie das Geblüte ist, sind auch die Lebens-Geister. Sind nun zur Zeit der Pest in den menschlichen Körpern die Säfte höchst verdorben, so daß sie schier eine giftige Schärfe haben; so zerteilt und ausgebreitet sie anfangs im ganzen Leibe sind, so ziehen sie sich doch durch die Furcht zusammen, und vermehren und füllen damit auch notwendig die Lebens-Geister an, die nach dem Herzen zueilen; was ist es demnach wunder, wenn die Pestilentialische Materie also gehäuft, die Krankheit der Pest alsdann zuwege bringet? Ist aber meine Furcht nur auf ein gewisses Glied im Leibe gerichtet, ita ut isti tantum membro aliquod malum metuam, so daß ich in Furchten stehe, [nur] diesem Gliede werde ein gewiß Übel begegnen; so krieg ich im Gehirne allemal zwei Bilder auf einmal, so der Seelen vorkommen: das Bild des Übels, und das Bild des Gliedes, vor welches ich das Übel befürchte. Kraft der Furcht ziehen sich die Lebens-Geister in Menge zu dem Gliede hin, solches zu erhalten; wo aber die Lebens-Geister verderbt, und mit schädlichen giftigen Säften angesteckt sind, so werden sie, weil sie die böse Beschaffenheit mit in das böse Glied einführen, an statt, daß sie das[159] Glied stärken, und erhalten sollten, solches vielmehr nach dem Übel bilden, was man gefürchtet, und die Krankheit in dasselbe einführen, welche man besorgte [befürchtete].

Anno 1680, wie hier die Pest war, gehet ein Mann spät auf der Gasse, unachtsam, und ohne sich umzusehen; Ehe er sichs versiehet, so ist eine Pest-Leiche hinter ihm, die sie zum Tore hinaus tragen. Er kann ihr nicht so geschwinde ausweichen, sondern stößet mit dem Fuße an eine Stange, oder an das Rad, ich weiß es selbst nicht eigen [genau] mehr, an. Vorm Pest-Wagen erschrecken die Leute, wo nicht mehr, doch wie vor der Pest selber. Da dieser erschrickt, timuit pedi suo, so fürchtet er seinem Fuße ein Übel, ja das Übel, davon er occasione [anläßlich] des Pest-Wagens ein Bild im Gehirne bekommen. Wie er kaum nach Hause gekommen, so fängt es ihm schon an am Fuße wehe zu tun; nicht als wenn er sich dran gestoßen, oder dran verletzt, sondern weil sich aus Furcht die böse Materie und schädlichen Lebens-Geister da hingezogen; und den andern Tag bekommt er an eben dem Orte die Pest-Beule in optima forma [vollausgeprägt], an welcher er doch hernach noch curiret wurde. Als Anno 1709 die rote Ruhr in Leipzig stark grassirte, und die Jenischen Pursche, auf deren Universität die rote Ruhr schier zur Pest worden war, hier in Leipzig in großer Menge ankamen, wenn ich einen von meinen Bekannten damals nur ansahe, oder wenn ich die Leute nur hörte von der roten Ruhr reden, und noch dazu nach ihrer Blindheit mit allen saftigen und kräftigen Umständen, so fühlte ich schon etwas im Leibe, welches machte, daß ich mich nach einem Secret [Abort] umsehen mußte; so daß, wenn mein Leib ein klein wenig mehr schwächer, und mit schärfern Teilen angestecket gewesen wäre, ich unfehlbar diese Krankheit auch würde bekommen haben. Ein jeder kann das, was ich hier von mir gesagt, aus dem Obangeführten auflösen. Hierher gehöret auch die Magd, welche Malebranche in seinem Tractate: de inquirenda veritate [Erforschung der Wahrheit], in dem Kapitel von der Imagination anführet. Diese hatte bei einem Balbier etwas auszurichten; und, da sie vielleicht selbst noch nicht zur Ader gelassen hatte, siehet sie einem Manne am Fuße zur Ader lassen. Beim Anblicke des Fußes des Mannes kriegt sie auch das Bild von ihrem Fuße, und von dem Orte, an welchem dem Manne zur Ader gelassen worden. Sie imaginiret das Übel so stark, daß, da sie nach Hause kommt, ihr es an ihrem Fuße anfängt wehe zu tun, an welchem sie dem Manne hatte sehen zur Ader lassen. Denn auch dieses ist der Weisheit Gottes[160] zuzuschreiben, daß wir das Übel, was einem andern begegnet, oder was wir vor ein Übel bei einem andern halten, uns imaginiren und vorstellen können, als ob es unser eigen wäre, und als ob uns selbst am Leibe wiederführe, was wir dem Nächsten wiederfahren sehen; damit wir zum Mitleiden, und dem Nächsten zu helfen sollen bewogen werden. Ein schwanger Weib siehet einen aufs längste rädern. Wie sie den einen Arm des armen Sünders mit dem Rade siehet zerschmettern, so kann sie nicht mehr hinsehen. Wie sie das Kind zur Welt bringet, so ist der eine Arm des Kindes zerbrochen. Nach dem, was ich bisher gesaget, ist alles leicht aufzulösen. Ein schwanger Weib mit ihrem Kinde macht in Wahrheit nur eine Substanz aus, was die beiden Leiber anbetrifft, die aufs genaueste vereiniget, und zusammen hängen. Da sie den Arm sahe zerschmettern, timuit suo brachio [fürchtete sie für ihren Arm], so kriegte sie das Bild, als wenn das ihrem Arme geschähe: Die Furcht jagte die Lebens-Geister in Menge nach ihrem Arme zu, denselben stark zu machen, und das Übel, wenns möglich wäre, auszustehen; wiewohl bei einem Menschen der Endzweck nicht allemal kann erreicht, und die Seele in unserm Leibe so viel Gewalt nicht hat, durch ihre Lebens-Geister ein Glied dermaßen zu befestigen, daß das Schwert und Rad nicht sollte können durchdringen. (Denn die Seele tut so viel, als möglich ist, und so viel als sie kann, den Leib zu erhalten.) Wie die Lebens-Geister in den Arm der Mutter in großer Menge laufen: so müssen sie allem Ansehen nach zu gleicher Zeit in den Arm des Kindes gelaufen sein. Der Arm der Mutter hat starke Knochen; weil aber des Kindes Arm noch weich war, so war es nicht Wunder, daß die Lebens-Geister durch ihren starken Eindruck den weichen Arm des Kindes brechen mußten. Es ist hier keine Zeit auszuschweifen, sonst sollte mir es leicht sein zu widerlegen, was Jac. Blondellus, ein Doctor Medicinæ in London, und neulich die Lettres juives Lett. 151 wider diese Kräfte der Imagination geschrieben.

Mit diesem Kinde können nun einiger maßen verglichen werden die großen Kinder, oder alle diejenigen Menschen, welche entweder von schwacher Natur, so sie aus Mutter-Leibe gebracht, oder wegen schwächlicher und kränklicher Leibes-Constitution, die sie sich zugezogen, schwache Leibes-Gefäße, schwache Nerven und Fibren haben; wohin gar sonderlich auch diejenigen zu ziehen, so Temperamenti melancholici sind, als welchen alle Medici schwache Nerven zuschreiben. Bei solchen schwachen Naturen drucken sich einmal alle Bilder im Gehirne,[161] insonderheit diejenigen, die durch ein erkanntes großes Übel erreget werden, tiefer ein; so daß sie hernach durch eine lebhafte und starke Imagination sich die Sache schier als gegenwärtig vorstellen können. Ja wenn die Bewegung der Lebens-Geister im Gehirne zu stark ist, und die Staffel erreicht, welche sie hat, wenn die Übel und die schrecklichen Dinge gegenwärtig sind, so müssen diese auch in Wahrheit Dinge gegenwärtig sehen, die doch noch nicht, oder nicht mehr gegenwärtig sind, wie in hitzigen Fiebern und andern hitzigen Krankheiten zu geschehen pfleget; so daß sie in ein Delirium und Wahnwitz verfallen, und ihres Verstandes beraubet werden können. In gesunden Tagen sehe ich, z.E. einen großen garstigen Hund; wenn darnach in einem hitzigen Fieber die feurigen und matten Lebens-Geister confuse im Kopfe hin und her laufen, und dieses Bild so stark berühren, als da sie es das erstemal im Gehirne eindrückten; so sehe ich diesen Hund wieder als gegenwärtig. Irret aber der Mensch in der ersten Operation des Verstandes, und [d.h.] in der perceptione simplicium [Wahrnehmung einfacher Gegenstände], so daß er entweder Dinge nicht siehet, so gegenwärtig sind, oder Dinge vor gegenwärtig hält, die noch nicht da sind; so ist es auch um die andere und dritte Operation des Verstandes geschehen, und so muß der Mensch alsdenn auch notwendig irrige Urteile fällen, und sowohl theoretische, als practische falsche Schlüsse machen, die zum Gelächter ausschlagen. Jagt mir doch den Hund naus, spricht der am hitzigen Fieber krank liegt, wenn gleich keiner vorhanden. Und weil wie wir oben gehöret, die Seele den Leib figuriret nach dem Bilde, was sie im Gehirne vom Leibe, oder einigen Gliedern des Leibes, oder von gewissen Werken hat, so sie mit den Gliedern tut; so tut alsdenn ein Mensch würklich, und würkt mit dem Leibe nach dem Bilde, welches er im Gehirne hat, woferne der Verstand, und die Vernunft nicht die Würkungen der Imagination hemmet. Ja wenn auch eben die Imagination noch nicht so stark worden ist, als die Sensation [Sinneswahrnehmung], so hat der Mensch doch alle Mühe und Not, daß er nicht mit den Händen, oder mit dem Leibe das tut, was er sich so lebhaft vorstellt. Hat ein solcher Mensch z.E. einen Stein in Händen, und bekommt ein lebendiges Bild, als ob er mit dem Steine nach jemanden würfe, so wird er sich recht zwingen müssen, und wohl gar den Stein wegwerfen, damit er nur nicht nach dem Bilde seines Gehirnes agire, und den damit schmeiße, den er im Bilde sich vorgestellt. Der Leser besinne sich hier auf das, was ich oben von dem angeführet,[162] der dem Ofen nicht nahen durfte, aus Furcht, daß er nicht mit dem Kopfe darwider liefe; oder der sich von seinem Nächsten, der neben ihm stund, entfernen mußte, um ihm nicht in das Angesichte zu speien, wozu er doch keine Neigung, und zu dem er doch keinen Haß hatte; dergleichen mir selbst, und andern Menschen mehr begegnet. Ich werde auch bald unten dergleichen Exempel mehr anführen.1

1

Ich könnte noch viel andere seltsame Würkungen einer starken, oder auch wohl verletzten Imagination oder Einbildung anführen, muß es aber vor diesmal bei diesem wenigen bewenden lassen. Ich wundere mich, daß die neuen Philosophi, die doch so viel von der menschlichen Seele in ihren Schriften zu reden wissen, diesen Punct von der Phantasie und ihren Würkungen, welchen Malebranche und Lock weitläuftig abgehandelt, entweder gar nicht berühren, oder doch viel zu wenig davon schreiben, als es die Wichtigkeit der Sachen erfordert. Ich bin sehr geneigt, wenn ich Leben, und zulängliche Kräfte haben sollte, einen Tractat von Gott, und der menschlichen Seele, und ihrer natürlichen und sittlichen Verbindung mit dem Leibe, zu verfertigen, und diese Materie weiter auszuführen, welche ich hier nur in so weit abgehandelt, als es zu meinem Vorhaben nötig geschienen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 163.
Lizenz:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon