Anno 1708
§ 98

[244] In der Michaelis-Messe, oder vielmehr die Woche zuvor, besahe ich Wittenberg. Ich nahm den Weg um der Motion willen über Halle, wo ich ehedessen schon gewesen war. Des einen Tages gieng ich in Glauche ohngefähr bei des Herr Prof. Frankkens Wohnung vorbei. Ich sahe durch das Haus, und merkte ihn in seinem Gärtgen alleine und müßig stehen. Weil es die eilfte Stunde war, und ich wußte, daß er sich diese Stunde sprechen ließe, so ließ ich mich bei ihm melden. Ich kam ihm zu gelegener[244] Zeit, und discurirte beinahe eine ganze Stunde mit ihm. Erzählte ihm die Avanturen in Breslau mit Inspector Neumannen, und wie er nun durch Keppels [Köppels] Mangel der Klugheit ein scharfer Anti-Spenerianer geworden. Er hörte mir mit großem Vergnügen zu; und, da ihm eben einfiel, daß nahe bei Sorau eine Dorf-Pfarr vacant wäre, wozu er ein Subjectum vorschlagen sollte, so offerirte er mir solche, mit dem Bedeuten, daferne ich dieselbe anzunehmen gesonnen, so sollte ich nur zu Herr Justino Tölnern gehen, und sagen, daß ich mit ihm gesprochen, und auf sein Geheiß käme. Ich gieng zu ihm, habe aber mein Tage keinen wunderlichern Mann gesehen. Ich war ihm viel zu munter, und sahe ihm viel zu fröhlich aus, als daß er mich hätte zum Predigt-Amt vor tüchtig halten sollen. Die Peruque, die ich trug, war nicht nur zu groß, sondern hatte auch noch zu viel Poudre, und es fehlte nicht viel, so wären wir bald über dem Disput von Mittel-Dingen miteinander in Zank geraten. Ich war nicht klug, und listig genug gewesen, und hätte ganz einen andern Air annehmen, und ohnegefähr wie der Tartuffe bei dem Moliere ganz langsam reden sollen. So aber schien ich ihm viel zu weltlich noch zu sein. Und, da er vollends hörte, daß ich von Halle nach Wittenberg gehen wollte, fieng er tief an zu seufzen, und fürchtete, daß nicht der kleine Anfang des Guten dadurch bei mir im Fortgange möchte gehindert werden. Ich sagte ihm, ich wäre ja kein Kind mehr, sondern ein Mann von 32 Jahren, der endlich wohl alles prüfen, und das Gute behalten gelernet hätte. In Wittenberg hätte ich gerne den berühmten Wernsdorf gehöret, oder nur gesehen, aber er war schon nach Leipzig. Den einen Tag gieng ich in die goldene Gans vor dem Schloß-Tore, die Zeit zu passiren, allwo ich eine sehr große Menge Studenten antraf, so im Luder lagen, und dem Saufen, ja auch zum Teil, wie ich schließen kunte, der Unzucht ergeben waren. Ich machte mit ihnen Bekanntschaft um allerhand Neues von ihnen zu hören. Ihre Lästerungen waren ohne Maß, welche sie wider die Hallenser ausschütteten; sie schonten auch des jüngern Herrn Olearii in Leipzig nicht, wider den dazumal eben Herr Wernsdorf seine Vindicias Orationis Dominicæ heraus gegeben hatte. Ich mußte wahrlich unter den Wölfen mit heulen, sonst wäre ich nicht mit ganzer Haut nach Hause gekommen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 244-245.
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