Vorrede

Geliebter Leser!


Ich habe im Tractate, Leben des Glaubens genannt, in der Vorrede mit wohlbedachtem Rate versprochen, meine seltsamen Leibes- und Gemüts-Plagen, mit denen ich in meinem Leben bin behaftet gewesen, in einem besondern Buche zu beschreiben, um den leiblichen, und geistlichen Ärzten Materie an die Hand zu geben, bei erbärmlichen Leibes- und Seelen-Zufällen [-Krankheiten], so ihnen vorkommen, weiter nachzudenken, und desto geschickter zu sein, ihre Patienten zu curiren, und sie von ihrem Jammer-vollen Zustande zu befreien: Und ich trage kein Bedenken, meinem Versprechen anjetzo nachzukommen. Soll ein jeder Christ seinem Nächsten dienen mit der Gabe, die er empfangen [1. Petr. 4,10], so halte ich, daß er auch verbunden sei, von solchen Leibes- und Seelen-Anliegen, und solchen wunderbaren Plagen, zu deren Erkenntnis er durch eigene Erfahrung gelanget, dem Nächsten Nachricht zu geben; insonderheit wenn dieselben noch nicht völlig bekannt, sondern noch mit Finsternis, und tiefer Nacht umhüllet sind. Gemeine Leute, so nicht studiret, wenn sie in solche betrübte Umstände geraten, kennen sich selbst nicht, und sind selten fähig, ihre Krankheiten, und Zustand denen mit Worten recht zu entdecken, von welchen sie Hülfe erwarten: Und die Gelehrten hingegen, oder die sonst hohe Ehren-Stellen bekleiden, wagen eher alles, und lassen es wohl gar auf die erschrecklichste Todes-Art ankommen, als daß sie ihre Ehre vor der Welt in die Schanze schlagen, und ein einziges Wort davon jemanden entdecken sollten. Auf meiner Seiten scheinet die Sache von solcher Wichtigkeit, und, wo nicht von absoluter Notwendigkeit, doch von solchem ersprießlichen Nutzen zu sein, daß ich nach aller Schmach, und Schande nichts frage, so ich dadurch meinem Namen in größerm Maße, als jemals geschehen, ohnfehlbar zuziehen werde. Niemand ist geschickter, Ehre, und alles zu verleugnen, und in Wind zu schlagen, als der nichts mehr in der Welt suchet, und der wenig zu verlieren hat. Nun bin ich, nach vieler Urteil, einmal schon vor der Welt zu Schanden worden, und also werde ich nicht viel darnach fragen, ob jetzt meine Schmach noch eine höhere Staffel erreichen sollte.[5]

Denn ich wäre töricht, wo ich denken wollte, die geringste Ehre, und Hochachtung bei irgend einem durch meine eigene Lebens-Beschreibung, und durch die Erzählung, und Bekanntmachung dessen, welches der Haupt-Antrieb dazu gewesen, zu erjagen. Denn die Leiden, so ich von mir erzähle, sind solche Leiden, welche insgemein ein jedermann, wie Rahel ihre Götzen, verbirget [1. Mos. 31,19–35] und welche die meisten Menschen dermaßen verabscheuen, ja dafür erschrecken, daß ich dieselben auch in meinem Lebens-Laufe nur habe mit einfließen lassen, und mit andern erfreulichen, und geringen Dingen meines Lebens, die nicht so fürchterlich sind, verknüpfen müssen, um nicht die Käufer, und Leser abzuschrecken, daferne ich sie ganz alleine in einem eigenen Tractate beschrieben, und auf der Ausschrift [Titelblatt?] mit ihrem rechten Namen genennet hätte, welche ich nicht einmal hier in der Vorrede um gleicher Ursachen willen bei ihrem Namen zu nennen das Herze habe. Ja ich halte, daß meine besten Freunde, so wenig ich auch derselben habe, hinfüro, wie die Freunde Hiobs, vor mir verächtlich vorüber gehen [Vgl. Hiob 2,11–13; 19,14; Tob. 2,14; Matth. 27,39] werden, so bald sie meine Striemen, und Beulen, meine Fehler, Gebrechen, Mängel, und Schwachheiten, welche sie bisher nicht einmal geglaubet, mit Augen sehen, und ganz einen andern Menschen an mir finden werden, als ich jederzeit von außen gegen sie geschienen.

Zwar gereichte es einem vor Zeiten zu besonderm Ruhme, wenn man von ihm wußte, daß er viel hohe geistliche Anfechtungen in seinem Leben ausgestanden; und man maß die Größe der Lehrer nach der Größe der Versuchungen, welche über sie gekommen waren, weil man mit Luthero glaubte, daß die Tentationes und Versuchungen einen Gottes-Gelehrten machten. Die des alten Welleri Leben uns beschreiben, setzen seine hohe Seelen-Leiden, die er erfahren, oben an: und die größten Lehrer unserer Kirchen, Gerhard, Glassius, Lassenius, Brunchorst, Schererzius, Spener, und andere mehr, haben sich nicht geschämet ganze Bücher von geistlichen Anfechtungen zu schreiben. Aber die heutige philosophische, naturalistische, und irreligionistische Welt kann vor dem verstopften Milze, und der hitzigen schwarzen Galle [Melan-cholie] schier keine göttlichen, noch teufelischen Anfechtungen mehr finden; und, wenn sie nur von einem sagen höret, daß er in schweren Anfechtungen stecke, so krieget sie schon einen verächtlichen Begriff von ihm, als von einem milzsüchtigen [-kranken], oder gallsüchtigen Menschen, der an[6] Einbildung krank liegt, der nicht mehr gut transspiriret, und Gespenster siehet, wo keine zu finden, und macht sich wohl gar in Gesellschaften auf seine Unkosten noch darüber lustig. Glauben aber andere ja noch dergleichen hohe Seelen-Plagen, die man geistliche Anfechtungen nennet: und sehen sie ja dieselben in abstracto, und an und vor sich selbst, als eine große, wichtige, und rühmens-würdige Sache an; so muß doch der wohl ihr sehr guter Freund, oder ihrer Partei zugetan sein, wo sie ihn nicht als einen ruhmrätigen [ruhmredigen] Menschen, der große Dinge aus sich selbsten machen will, von Stund an ausschreien sollen; insonderheit wenn sie selbst in solchen Dingen noch keine Erfahrung haben. Ich habe also es nicht wagen dürfen, meine Trübsalen in diesem Tractate göttliche Anfechtungen, oder teufelische Versuchungen zu nennen, sondern habe sie nur vor Leibes- und Gemüts-Plagen ausgeben müssen; und sollte ich mich da, und dort im Schreiben vergessen, und zu vorteilhafte Namen meinen Krankheiten beigelegt haben, so bin ich gewiß, daß ich von den Naturalisten vor einen einfältigen, und abergläubischen Toren, und von den Religionisten vor einen hochmütigen Diotrephes [Götterliebling], oder von beiden vor alles beides werde gehalten werden. Denn denke ich an meines gleichen, oder an die, so mir zum wenigsten zugestehen werden, daß ich ehedessen ihres gleichen gewesen; Lieber, von welchen sollte ich mir wohl ein Urteil der Liebe, oder, ich will nicht sagen, der Hochachtung, sondern nur der gebührenden Achtung versprechen? Wahrlich, weder von diesen, noch von jenen, ich müßte denn noch eine neutrale, und mittlere Gattung zum Voraus setzen. Nicht von diesen; denn die haben wohl noch nicht vergessen, was ich ihnen vor 10 Jahren zuwider getan; und, so sie es vergessen, so haben sie mir es vielleicht noch nicht vergeben. Nicht von jenen; denn ich habe in mehr als einem Orte meines Buches Mittel-Dinge statuiret, und die Gücks-Spiele unter solche gerechnet, und sie nicht schlechterdings vor unbetrügliche Merkmale eines unwiedergebornen Zustandes ausgeben wollen.

Du möchtest sagen: »Es ist wahr, der Welt sich in manchen Dingen noch gleich stellen, mit schrecklichen und seltsamen Krankheiten von Gott heimgesucht werden, einem Unglücks-Falle nach dem andern unterworfen sein, ist freilich eben kein großer Ruhm, sondern öfters eine Folge gewisser Sünden, die vorher gegangen, und eher ein Zeichen dessen, über den Gottes Gerichte ausgebrochen, oder wenn es hoch kommt, den Gott noch zu retten, und zu bekehren bemühet ist, als dessen, der in[7] dem Schoße Gottes schon sitzet, und von ihm hochgeachtet ist. Du wirst doch aber auch in deinem Buche von Glücks-Fällen, und von solchen Taten zu erzählen wissen, da Gott seine Gnaden-Sonne dir scheinen, oder gar sein gnädiges Antlitz dich sehen lassen: da er nicht mehr zu dir im Wetter geredet, wie zu Hiob [Hiob 38,1], sondern in einem stillen und sanften Sausen, wie zu Elia [1. Kön. 19,12], und nach vieler Furcht und Schrecken dein Herz mit Mut und himmlischer Freude erfüllet, und Merkmale seiner Liebe dich spüren lassen.« Ich gebe dies gerne zu: es ist auch davon eines und das andere in meiner Lebens-Beschreibung angemerket; allein geliebter Leser, ist es nicht wahr, wenn einer eine Schrift dessen lieset, der nicht sein Freund ist, so hat er insgemein so kleine Augen, dergleichen die heutigen Physici [Naturwissenschaftler] noch den Maulwürfen zuschreiben, da, wo sein Feind noch gut aussiehet; und hingegen klar sehende Falken-Augen, wo seine geringste Blöße aufgedecket ist. Wenn der Apostel Paulus sein eigen Leben hätte beschreiben, und ein Geschicht-Schreiber aus den Galatern, oder Ebioniten einen Auszug uns davon hätte machen sollen; meinest du denn, daß derselbe in seinem Buche würde erwähnet haben, daß Paulus vom Himmel berufen worden [Apg. 9,3 f.], daß er in dritten Himmel entzückt worden [2. Kor. 12,2], daß er aus großen Trübsalen und Krankheiten, erlöset worden [2. Kor. 11,23–33; 12,7–10] daß er den Sohn Gottes gesehen [1. Kor. 15,8]? Ach nein! Das Gewissen hat ihn vor seinem Ende geplaget (1. Cor. 15. 2. Tim. 1. [vgl. 1. Tim. 1,12 f.]), daß er die Gemeinde Gottes, und die ersten Christen verfolget [1. Kor. 15,9; Gal. 1,13]: (gleichwie etwan [zuweilen] den Superintendenten Lobethan das Gewissen geplaget, daß er in seinem Leben öfters so jach-zornig gewesen.) Das würde das Urteil sein, so er von dem Apostel würde gefället haben. Wenn du mein Buch, und was mir 1704, 1717, 1728, 1736 begegnet, wirst gelesen haben, so wirst du die Application [Anwendung] auf mich ganz leicht machen können.

Leute, deren Gunst man verschüttet, ja öfters auch so gar diejenigen, die noch alle Wertschätzung vor einen haben, dürfen auch nicht allemal offenbare Laster und wahrhaftige Sünden bei jemanden antreffen: was auch nur einen Schein einer herrschenden und unordentlichen Neigung hat, ist schon fähig ihre Herzen und Angesicht gegen uns zu verändern. Der Eigen-Ruhm ist etwas, das die Menschen insgemein weder an ihrem Feinde, noch Freunde vertragen können. Er ist nicht allemal[8] sündlich. So lange ein Mensch sich nicht zum Haupt-Urheber macht der guten Taten, so er getan, noch zum absoluten Herrn der Güter, so er besitzt, und sich nicht selbst zuschreibet, was Gotte beizulegen, so kann er ohne Sünde das Gute erzählen, was Gott in ihm gewürket, und die Güter zeigen, so er ihm gegeben. So gar jener Pharisäer versahe es [fehlte] nicht so wohl darinnen, daß er Gotte vor seine Gerechtigkeit dankte [Luk. 18,11], als vielmehr daß er seine halbe, und nur äußerliche Gerechtigkeit vor die ganze Heiligkeit und Frömmigkeit ansahe, und vor das dankte, was er nicht hatte, und daß Mund und Herz bei ihm nicht überein stimmten, weil er vor das dankte, was er doch nach seiner pharisäischen Religion nicht der Gnade Gottes, die solches in ihm gewürket, sondern sich selbst, und seinen eigenen Kräften zuschreiben mußte. Es ist auch vielfältigmal mehr ein Zeichen des Hochmuts bei dem, der anderer Leute Eigen-Ruhm nicht wohl vertragen kann, als bei dem, der sein eigen Lob ausposaunet, und sich selbst rühmet. Bei dem allem, so bleibet es doch dabei, was unsere Alten vom Eigen-Lobe sprüchworts-weise gesagt haben; so daß ich kaum weiß, was ich hier denken soll, wenn ich an mich selbst gedenke. Denn da ich nicht gerne Unwahrheiten in meinem Buche schreiben, und v.g. sagen wollen, daß ich in der Jugend ein ungehobelt Holz, oder Klotz gewesen, der nichts fassen, noch begreifen können, und in den die Præceptores nichts bringen können, als woran ich würde gelogen haben; so bin ich über der Erhebung meiner Gemüts-Gaben, und bei Erzählung dessen, was ich in früher Jugend schon gewesen, und leisten können, beinahe ein geistlicher Villars, oder wohl gar mit dem Apostel über dem Rühmen zum Narren worden [2. Kor. 12,11]; und es ist mir dieses selbst so eckelhaft, so daß, wenn ich einen Schluß von mir selbst auf den Leser machen will, ich nicht anders denken kann, als daß demselben bei Lesung dieser Stellen werde übel werden, oder dem, so ein Vomitiv [Brechmittel] eingenommen, das seinen Effect nicht tun will, nur mein Buch zu lesen raten werde, um dessen Würkung zu befördern. Ich weiß auch dem, der eher Unwahrheit, und gänzliches Schweigen, als Eigenruhm vertragen kann, keinen andern Rat zu geben, als daß er es bei Lesung meines Buches mache, wie die Königin Elisabeth in Engeland bei Anhörung der Predigten eines gewissen Bischofs, von dem sie glaubte, daß er nicht den rechten Verstand [Bedeutung] der Worte vortrüge. So oft derselbe bei Erklärung des Textes sprach: als wollte der Apostel sagen [wie der Apostel sagen wollte], so dachte sie allemal: Also [so] [9] wollte der Apostel nicht sagen. So mache du es auch; und wenn ich v.g. von mir schreibe, daß ich im 17. Jahre meines Alters als ein Secundaner schon die Accentuation im Hebräischen verstanden, so denke du bei dir selbsten: diese hast du nicht verstanden. Und so in andern Fällen mehr.

Noch mehr. Man sollte dem Menschen nichts zur Schmach, und Schande, als die Sünde machen, und nichts ihm anrechnen, als was in seinem Vermögen gestanden zu tun, oder zu lassen. Aber siehe der Leute Unart! Sie verlachen und verhöhnen einander in Dingen, worüber sie eher ihr Mitleiden bezeugen sollten; und rühmen und erheben einander in Sachen, worinnen sie nur den Nächsten glücklich schätzen sollten; oder, wie es D. Rüdiger ehedessen deutlicher ausdrückte: sie vituperiren [tadeln] wo sie condoliren, und loben und rühmen einander, wo sie einander nur gratuliren sollten. In Wahrheit, die Furcht ist vielfältigmal nicht sowohl ein Laster, als eine natürliche Würkung eines melancholischen Temperamentes, und die mit schwachen Nerven und Spasmis [Krämpfen] schier durch ein unzertrennlich Band zusammen hänget. Aber wer ist in der Welt verachter, als ein furchtsamer und blöder [schüchterner] Mensch? Man kann eher einen zornigen, als furchtsamen Menschen um sich leiden, so unangenehm sie auch alle beide sind. Beide stecken an; doch die Furcht noch eher, als der Zorn. Die Furcht ist so was Schimpfliches, daß auch der ärgste Poltron [Angsthase], wenn er klug ist, aus List diese menschliche Schwachheit verbirgt, so gut, und so lange er kann. Hingegen haben wir ein natürliches Vergnügen an allem großem Mute und beherztem Wesen; und, wenn wir auch wissen, daß einer Herz und Tapferkeit hat da, wo er nicht soll, und auch wohl da, wo sie höchst sträflich und ungerecht, und unverantwortlich; so ist doch desselben Courage, Standhaftigkeit, und Freimütigkeit dasjenige, was uns öfters ganz einnimmt, und das Herze stiehlt. Wenn in großen Städten manchmal die Becken-Knechte [Bäcker-Gesellen], oder Schuh-Knechte einen Aufstand machen, und sich wider die Obrigkeit setzen, so ungerecht auch ihr Unternehmen ist, und ihr Tun eher eine Hartnäckigkeit, als Tapferkeit zu nennen; dennoch so oft sie in schönster Ordnung recht trotziglich, großmütig, und mit erhöhetem Haupte vor die Gerichts-Stätte, oder ins Stockhaus [Gefängnis] gehen, so stehet die Canaille auf der Gassen, und muß vor Freuden und Vergnügen über solche ihre Standhaftigkeit, Herz und Mut, Tränen vergießen.

Und damit ja die Torheit der Menschen den höchsten Grad[10] erreiche, so werden dieselben sogar ein gemein Gelächter, und ein höhnisch Beispiel vor der Welt, wegen solcher Gebrechen, die einen jeden eher zum Mitleiden bewegen würden, wenn nicht der Geist Ismaels, und Chams auf den meisten ruhete. Hat sich einer durch Unzucht, und durch Fressen und Saufen die Gicht an Hals, oder in Leib gesoffen, daß die Füße und Beine die natürliche Kraft zu gehen verloren, daraus macht die Welt nichts: der Mann bleibt bei allen Ehren; und, so man ja etwan an seine Sünden beiläufig gedenket, die etwas zu seiner Krankheit mögen contribuiret [beigetragen] haben, so geschiehet es mit zulänglichem Ernst, ohne daß seiner Ehre dadurch etwas abgehet. Aber laßt ihn, ich will nicht sagen durch Geilheit, sondern durch andere unschuldige, betrübte Zufälle, des Gebrauchs und der Stärke gewisser edlen Werkzeuge des Leibes beraubet werden, daß er der tierischen Lust entbehren muß, welche Augustinus vielleicht ohne Ursache so hoch geschätzet, daß er sie mit zum Vorschmack der zukünftigen Wollüste des Himmels machen wollen; dann sind die Menschen nicht mehr zu bedeuten [halten]: dann ist des heimlichen und öffentlichen Gelächters, des Verhöhnens, des Spottens kein Ende: dann gibt man ihm die schimpflichsten Namen, die so alt sind, daß man auch deren Ursprung nicht zu erklären weiß. So gar [ganz] wahr hat jener geurteilet, daß, »wo man den Menschen auf einer Seite betrachte, nichts klüger, als derselbe sei; wo man ihn aber auf der andern Seite ansähe, nichts Närrischers als derselbe gefunden werde«. Wahrlich, wenn einer die Menschen auch in diesem Stücke betrachtete, und doch glauben und vorgeben wollte, daß sie noch in ihrem ersten Zustande, und daß sie so, wie sie jetzo sind, aus den Händen Gottes, als ihres Schöpfers und Werkmeisters, gekommen, der müßte wohl von wenigem Verstande, und schlechtem Nachsinnen sein. Nun, Leser, siehe, diese Gemüts- und Leibes-Mängel habe ich alle von mir zu erzählen kein Bedenken getragen: ich habe mich als das furchtsamste Tier [Lebewesen] auf Erden beschreiben müssen, und bin es auch gewesen; sage, ob wohl leicht jemand, so bald derselbe mein Leben gelesen, ins künftige auf der Gasse vor mir vorbei gehen werde, ohne heimlich im Herzen zu lachen, oder doch einen verächtlichen und eckelhaftigen Affect gegen mich bei sich zu spüren.

Du sprichst: »Was ist es aber nötig, und wozu nützet es, daß du deine Fehler und Gebrechen aufschreibest, und andern Leuten offenbarest, nemo tenetur allegare propriam turpitudinem? Was ist doch der Welt dran gelegen, ob sie weiß, daß du verzagt,[11] oder beherzt gewesen, ein Löwen- oder ein Hasen-Herze gehabt: ob du in einem gewissen Kriege einen Herculem hättest abgeben können, oder ob man, wenn du zu der Zeit der Königin Candaces aus Mohrenland gelebet, einen Kämmerer aus dir hätte machen können?« Ja, lieber Freund, ich denke manchmal selbsten so, wenn ich anderer Leute Bücher lese. Ich habe jetzt vor mir eine Kirchen-Geschichte des Neuen Bundes. Der Verfasser derselben hat beinahe 2 Bücher Papier, ohngefähr so viel, als mein Buch hier austrägt, gebraucht, die Leben der Lehrer unserer, und der römischen Kirchen, so im 17. Jahrhundert gelebet, in einem kurzem Begriffe zu beschreiben. Überall fallen mir gleiche Gedanken ein. Ich lese z.E. in dem Leben des Hof-Predigers Lütkens, wo er in die Schule gegangen, wo er frequentiret [Unterricht besucht], wo er studiret, wie er aus einem Ort in andern gerufen, aus einem Amte ins andere gesetzt, von einer niedrigen Stelle der Ehre zu einer höhern gestiegen. Heute lese ich es, und morgen habe ich es schon wieder vergessen; und wenn ich es auch nicht vergäße, Lieber, wozu soll mirs, und was soll ich mit machen? Ob ichs weiß, oder nicht weiß, das macht mir weder kalt, noch heiß. Aber bei dem allen, mein Freund, wo wir bei dem, was wir lesen, allemal so denken, und die Schriftsteller auf das schärfste verbinden [verpflichten] wollen bei Verfertigung ihrer Bücher allemal auf das genaueste zu prüfen, ob das, was sie schreiben, der Welt zu wissen nützlich, und nötig sei, oder nicht; so werden wir bei den vielen unnützlichen Dingen, so in die Welt geschrieben werden, auch manches nützliche entbehren müssen. Denn die Hochmütigen werden allemal ihr Gras vor Blumen, und ihr Kupfer vor Gold, und ihre Dinge, so sie schreiben, vor höchst nützlich ansehen; und die Melancholici, und schüchtern Gelehrten, die doch öfters wegen ihres scharfen Geblütes mehr Wahrheiten als andere zu erfinden fähig sind, werden Kraft der allzu niederträchtigen [kleinmütigen] Urteile, welche sie von allem fällen, und ihres niedergeschlagenen Gemütes, so sie haben, ihre besten Sachen vor Spreu ansehen, die der Wind zerstreuet [Ps. 1,4], und vor Gras halten, das heute stehet, und morgen in den Ofen geworfen [Matth. 6,30], oder zu Maculatur gemacht wird, oder wohl gar, wenn sie etwas verfertiget, aus Mißfallen, so sie an sich selbst, und an allem, was sie tun und machen, haben, ihre geschriebene Sachen, wie wohl eher geschehn, dem Vulcano [Feuer] aufopfern; und als περίεργα [Zauber-Künste] mit jenen Ephesiern verbrennen [Apg. 19,19].

Und dies sind sie niemals eher geneigt zu tun, als wenn[12] vollends die schlechte und niederträchtige Schreib-Art [der schlichte niedere Stil] dazu kommt, dergleichen die meinige ist, welche ich im Buche selbst gebraucht habe; und die, wenn auch sonst nichts wäre, mich ganz alleine schamrot zu machen fähig wäre. Plinii und Senecae Wort-Spiele haben ausgedient, ihre Blümgen riechen heutiges Tages nicht mehr. Das, was, so lange die Welt stehet, der Zucker in allen Gesellschaften, der Honig in allen Büchern, und was das gemeine [übliche] Salz gewesen, womit wir alle unsere Discourse und Reden gewürzet, ist nun thum [schal] worden [Matth. 6,13], und hat zu unsern Zeiten seinen Geschmack verloren. Der verzweifelte Naturalismus hat, wie der Krebs, so weit um sich gefressen, daß auch die Schreib-Art der Gelehrten damit angestecket worden; denen alles natürlich, unangenommen [ungezwungen], und in einem französischen Negligé, in welchem ohngefähr [zufällig] Bouffleurs einst seine Maitresse angetroffen, erscheinen muß, wenn es ihnen gefallen soll: gleich denjenigen, die keine distillirte, und angeschmierte [gepanschte] Aquavite vertragen können, sondern lieber einen reinen Korn-Branntewein davor erwählen. Melancholici haben viel irdene und scharfe Teile in ihrem Geblüte: wie das Geblüte ist, so sind auch die Lebens-Geister, oder der Nerven-Saft. Sie sehen also ihre Schriften, so sie heraus geben, vor lauter Opfer Altes Testamentes an, deren keines ungesalzen bleiben mußte [3. Mos. 2,13]. Wo man ihnen aber die Stelzen nehmen will, auf welchen sie wegen ihres traurigen Humeurs um ein leichtes zu gehen anfangen, so verlieren sie auch vollends den Gebrauch ihrer Füße, und fangen an zu kriechen. So ist mirs auch gegangen. Da ich dasjenige sorgfältig vermeiden wollen, was heutiges Tages so verächtlich ist, und als eine verrufene Münze nicht mehr gelten will, so bin ich hier, und da in das andere Extremum, und in ein solch kaltsinniges und lauliches Wesen verfallen, so daß ich froh bin, daß ich jetzt nicht die febrilischen Dispositiones [Fieberanfälligkeit] habe, mit denen ich sonst öfters geplaget werde; denn ich dürfte es nicht wagen, mein Buch noch einmal durchzulesen, oder die Correctur meines Buches selbst über mich zu nehmen, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, mit dem Übel würklich überfallen zu werden, was mich zuvor nur angewandelt.

Doch laß es sein, daß ich bei meinem gegenwärtigen Buche keine Schande zu besorgen, und daß auch die Schmach wegen des Stili, und des vielen Unnötigen und Unnützlichen, so hier mit dem Nützlichen verknüpfet, und davon ich oben die Ursache angeführet,[13] erträglich sein möchte; so fällt mich eine neue Furcht an, ob ich mir auch etwan Schaden, und neues Ungemach dadurch zuziehen dürfte. Ich kann noch nicht vergessen, daß ich ein Prediger gewesen, oder auch noch bin; und, da ein jeder Christ, als ein geistlicher Priester [vgl. 1. Petr. 2,5–9], verbunden, nicht nur seinen Nächsten zu unterrichten, und zu trösten, sondern auch wohl brüderlich zu bestrafen [3. Mos. 19,17; Matth. 18,15], so hab ich gemeinet, es würde vielmehr auch mir noch erlaubet sein, Hohe, und Niedrige, wenn schon nicht verdammlicher Sünden zu zeihen, doch ihnen einen, und den andern Fehler und Versehen, und was etwan noch besser hätte eingerichtet werden können, in Liebe zu zeigen. Allein wer weiß, ob meine ehemalige Zuhörer, deren Mund sonst gelinder denn Öl war [Ps. 55,22], auch wenn meine Rede wie die Seife der Wäscherin war [Mal. 3,2], auch jetzt noch die geringste Bestrafung von mir leiden werden? Wie wenn sie einem gewissen Geschicht-Schreiber gleich wären, in dessen Kirchen-Rechte, so er studiret, der bekannte Unterscheid zwischen einem Prediger, der seinen Prediger-Stand ableget, und zwischen einem, der nur sein Predigt-Amt in einer gewissen Kirchen aufgiebet, gar nicht zu finden, und der deshalben sich darein gar nicht zu finden weiß, daß ich mich noch einen Evangelischen Prediger nenne? Würde ich nicht allerhand Widriges zu befürchten haben? Doch bitte ich einen jeden durch die Barmherzigkeit Gottes [Röm. 12,1], daß er meiner, als eines armen, und höchst elenden Mannes, schonen, und mir zu gute halten wolle, daferne ich bei meinem jetzt noch schwachen Gemüts-Zustande, da ich kaum aus großen Trübsalen, wie aus dem 1736. Jahre zu ersehen ist, kommen bin, etwas geschrieben, womit ich ihm zu nahe getreten.

Am wenigsten dürfte ich wohl vor einigen schwachen Criticis [Philologen] mich zu fürchten haben, die bei allen den Sprachen, die sie gelernet, und bei allen den schönen Wissenschaften, denen sie in der Jugend obgelegen, uns dennoch wegen Mangel eines natürlich guten Verstandes, und ob defectum cognitionis Animorum humanorum [wegen mangelnder Menschenkenntnis], die ungestaltesten, und gezwungensten Auslegungen über gewisse schwere Schrift-Stellen aufdringen: die vor 29 Jahren aus allen häufigen [zahlreichen] und genauen Nachrichten, so alle Welt schon hatte, doch zu urteilen nicht fähig waren, ob die Schweden bei Pultava geschlagen wären, oder nicht, und die jetzt noch nicht zu sagen wissen, ob Bonnevall seine Memoiren selbst, oder ob sie ein anderer geschrieben. Denn daferne sie dergleichen[14] bei mir tun, und mich nicht vor den Urheber meines Buchs halten sollten, so könnte ich mit allen Ehren noch davon kommen.

Doch es mag mir bei diesem meinem Buche gehen, wie es will, daferne durch das, was ich geschrieben, geraten, und von mir selbst erzählet, auch nur eine einzige solche arme Seele, über welche dergleichen Leiden gehen, so mich betroffen, bei ihren seltsamen Plagen sollte getröstet, oder gar ihre Befreiung, Errettung, und Gesundmachung dadurch befördert werden; so will ich Gott bitten, daß er mir Gnade gebe, weder Schande, noch Schaden zu achten, den ich mir dadurch zuziehen möchte. Denn das Elend solcher Menschen ist gar zu erbärmlich, so daß nicht der tausende Teil mit Worten kann beschrieben, noch deutlich ausgedruckt werden, von dem, was sie bei ihrem ängstlichen und kümmerlichen Zustande, wo jede Stunde ein Tag, und jeder Tag ein Jahr sie zu sein deucht, erfahren. Weil ich nicht mehr kann mit den Reden meines Mundes, so will ich, so lange ich lebe, dem Nächsten mit der Feder meiner Hand dienen, und zu dienen trachten, bis endlich Gott, oder die Welt auch meine Hand schließen, und ich mich in Gottes Hände, wie jetzt in deine erbarmende Liebe, befehlen werde.


Leipzig, den 19. Julii, Anno 1738.


Symbolum.


Admirabiliter, modo Beate.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 5-15.
Lizenz:

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