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Aller Anfang ist schwer. Wenn ich nur erst wüßte wie ich beginnen sollte. Memoirieren – hm – das ist alles leicht gesagt, aber wenn man in seinem Leben noch nicht so was getan hat, und über einen ordentlichen Brief nicht hinausgekommen ist, und man nun plötzlich eine Art schriftstellerische Arbeit in Angriff nehmen soll, ist das eine eigene Sache.
Aber heutzutage ist das Memoirenschreiben nicht nur bei berühmten Leuten, sondern auch bei gewöhnlichen Sterblichen Mode. Was da nicht alles an »Erinnerungen« in die Welt gesetzt wird – und was da nicht alles zur Feder greift: Gauner und Diebe, Schweinehändler, xmal geschiedene Frauen, eheirrige Prinzessinnen, Kurtisanen, Milliardäre und Lumpeniäre, kurz alles und jedermann – Frédéric hat recht –, warum sollte ich nicht dasselbe können, zumal von all den memoirierenden Herrschaften wohl kaum jemand mehr erlebt und gesehen, als ich, Fräulein Mieze Biedenbach, zurzeit wohlbestellte Büfettiere des Café K. in der Friedrichstraße.
Nämlich, was mein jüngster Verehrer ist, ein kleiner Journalist, – Frédéric, hat mich auf diesen Gedanken gebracht. Das ist ein netter Mensch, nur für meinen Geschmack etwas zu kurz; dürfte zehn Minuten länger sein. Aber wir plauschen gern ein bißchen mitsammen, und er bringt mir oft Bücher, die ich mit Leidenschaft verschlinge, denn ich lese für mein Leben gern. Vorige Woche brachte mir Frédéric das »Tagebuch einer Verlorenen«. – Ich[1] habe es in einer Nacht zu Ende gelesen. Ich habe mit Frédéric darüber gesprochen. Er meinte, ob ich nicht auch so etwas schreiben könnte »Ja, wieso?« sagte ich. »Wen soll das interessieren?«
»Oho!« meinte er. »Das Publikum hat großes Interesse an dieser Art Lektüre, und mit Recht. Denn was die schöne Literatur sei, d.h. das, was man im allgemeinen unter schöne Literatur verstehe – die Kunst der stilisierten Lebensdarstellung (ich verstehe den Ausdruck nicht, aber so sagte er!), – dieses Schwelgen in Farben, wie sie nur der Künstler, nie aber die Natur kennt, so beginnt man den Geschmack daran zu verlieren. Man hat sich daran übergegessen. Man braucht nur die Augen aufzuknöpfen, um diesen Drang nach Vereinfachung der Form und nach Wahrheit und Wirklichkeit auch in anderen Kunstzweigen wahrzunehmen. Geht man z.B. nach Wertheim und sieht sich die modernen Zimmereinrichtungen an, sind es nicht die ganz einfachen und glatten Formen wie anno Tobak? Sogar auf das Spielzeug der Kinder dehnt sich dieser Drang nach Vereinfachung der Form aus, und wenn man so'n grünlackiertes Ding ansieht, weiß man zuerst nicht, soll es einen Buschen Spinat oder eine Kaffeemühle oder eine grüne Katze vorstellen und am Ende ist es ein Frosch. Also sehen Sie, überall weist der Geschmack auf das Ursprüngliche hin, und so ist's kein Wunder, daß das Publikum die bengalische Beleuchtung und das Geschnörkel und den kräuterigen Ausputz einstweilen mal satt hat und nach Wirklichkeit und Wahrheit verlangt. Einen wahren Spiegel des Lebens und der sozialen Verhältnisse, kein Hohlspiegel, aber auch kein schmeichelndes Glas. Und weil sich bisher noch keine Vertreterin des Kellnerinnenstandes zu Wort gemeldet hat, könnten Sie es mal schlankweg versuchen, Ihre Lebenserfahrungen ungeschminkt aufs Papier zu bringen, Fräulein Mieze.« –[2]
»Jawohl,« sagte ich »können könnt ich's schon. Aber erstmal weiß man sich doch nicht immer so auszudrücken, und zweitens – wenn ich bei der Wahrheit bleiben soll, ist das so so ... Sie wissen Herr Frédéric, – als Kellnerin – – na gerad heraus gesagt – eigentlich ist es mir etwas genierlich, alles so aufzuschreiben, was man so erlebt und erfahren hat – –«
Frédéric meint indessen, das schade nichts. Das Blindekuhspielen sei der Welt nachgerade auch leid. Man gewöhne sich, den Dingen wie sie sind in die Augen zu sehen. Die Hauptsache sei, daß die Leute mal erfahren, wie es in der Seele einer Kellnerin ausschaue, und daß eine Kellnerin überhaupt eine Seele habe. Und um das zu beweisen, habe ich zugesagt. Ich glaube diese Arbeit muß mir Spaß machen. Ich kann ohnehin nachts nicht schlafen. Anstatt mich nun stundenlang zwecklos im Bett umherzuwursteln, werde ich von jetzt an meine Memoiren schreiben. Und wenn ich nachts Dienstschicht habe, habe ich ohnehin den Nachmittag frei.
Also werde ich versuchen ein »getreues unretuschiertes Bild meines Lebens« hinzuwerfen.
Was nun das Tagebuch der Thymian anbelangt – –
* * *
Frédéric hat die letzten drei Seiten kreuz und quer durchstrichen. »Was fällt Ihnen denn ein, Miezel,« räsonnierte er. »Erstens sind Sie überhaupt nicht aufgefordert und berufen Ihre Ansichten über ein Buch schriftlich niederzulegen. – Überlassen Sie das Kritisieren gefälligst den Zeitungsschreibern, die Ihnen Ihre Memoiren früh genug verknacken werden. Zweitens ist alles, was Sie da faseln Quatsch. Drittens ist es nicht fair und nicht kollegial in einem Buch ein anderes zu bekritteln. Viertens beschwöre ich Sie, überhaupt nicht so viel Sums zu[3] machen und sich nicht einzubilden, daß man Gedanken hat, die sich des Aufschreibens lohnen. Gedankenblumen und Gedankenfrüchte sind Raritäten; in den meisten Köpfen wächst nur Kohl, wenn's hoch kommt, Kraut und Rüben. Hören Sie: Kohl!! –«
»Tatsachen, Miezel, Tatsachen! Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit! Und bekommen Sie im Laufe Ihres schriftstellerischen Debuts nur nicht die großwahnsinnige Idee soziale Weisheiten zu verzapfen. Werden Sie nicht allzu literarisch und philosophieren Sie nicht, Miezel – denn wenn alle Nachtcafédamen und Kellnerinnen und Schweinehändler und Prinzessinnen anfangen wollen zu philosophieren, wo sollten da die Berufsphilosophen die Margarine für ihr trockenes tägliches Brot hernehmen! Zumal die Salzkörnlein in Suppen und anderen Speisen verteilt für die meisten Leute schmackhafter und verdaulicher sind, als der löffelweise Salz – Genuß – –«
»Quasseln Sie nicht, Herr Frédéric,« sagte ich. Worauf er mir nochmal ins Ohr trompetete:
»Wahrheit! Tatsachen! Keine Aufschneiderei, aber auch keine Unterschlagungen. Das Publikum hat ein Recht auf Wahrheit. Verstanden? Nur Tatsachen –«
»Adieu« sagte ich.
Das Tagebuch hat er wieder mitgenommen. Damit ich nicht in Versuchung komme abzuschriftstehlern, sagte er. Was eine überflüssige Sorge war, denn das hat Miezel Biedenbach Gottlob nicht nötig.
* * *
Ich will also zuerst von meiner Kindheit erzählen. Mit meiner Familie ist zwar nicht viel Staat zu machen, aber da man sich seine Erzeuger ja schlechterdings nicht aussuchen kann, was eine sehr große Unvollkommenheit der Schöpfung ausmacht, ist es ja auch weiter keine[4] Schande als Tochter eines Flickschusters das Licht der Welt erblickt zu haben.
Ich war die jüngste von Fünfen. Hamburg ist meine Vaterstadt, halb und halb bin ich also eine Landsmännin der schönen Thymian. (Ich denke eben daran, daß Frédéric mir streng verboten hat, Thymian zu zitieren, aber es floß mir so heraus.) Ich bin sehr stolz auf meine hamburgische Herkunft. Es ist wirklich so, daß alles, was 'n bißchen vorstellt, von da oben herkommt.
Vater hatte ja wohl in seiner Jugend mal bessere Tage gesehen, war seinerzeit als Geselle mit ein paar Hundert Em Erspartem vom Oldenburgischen herübergekommen, wo seine Brüder noch heute als ehrsame Handwerksmeister existieren und hatte sich auch in Hamburg, solange er bei anderen Meistern arbeitete, soweit ganz gut gestanden.
Das Elend begann erst mit der Heirat und als die Gören sich eins nach dem andern einstellten. Wes Standes und Geistes meine mütterlichen Ahnen waren, weiß ich nicht, nur glaube ich, ohne Beschädigung der Wahrheit die Tatsache konstatieren zu können, daß sie nicht in Schlössern und Palästen hausten und daß sie niemals schwer an der Last sozialer Repräsentationspflichten zu tragen hatten. Meine Mutter war in Elberfeld-Barmen zu Hause, wo sie als junges Mädchen in Fabriken gegangen war. Was für ein Wind sie nach Hamburg verschlagen hatte, weiß ich nicht. Sie war eine kleine, magere, schwarzhaarige Frau, nicht häßlich, aber der gelbe verknitterte Teint machte sie älter, als sie war, zudem fehlten ihr zwei Vorderzähne.
Als sie Vater auf einem Tanzvergnügen in Ottensen kennen lernte, schneiderte sie und besaß eine eigene Wirtschaft, die ein Freund ihr eingerichtet hatte. Zur Zeit meiner Geburt aber war die hübsche Freundeswirtschaft längst zum Teufel und die Schuster- und Schneiderei auf den Hund gekommen. Damals hausten wir in einem[5] Hinterquartier der Fuhlentwiete, Seitengebäude links, Souterrain nach hinten, in dessen vorderen Räumen ein Besenbinder residierte. Unser Domizil bestand aus zwei elenden Kammern, das heißt eigentlich nur aus einer Stube, von der ein Teil durch eine Bretterwand abgetrennt eine düstere Kabuse für sich bildete. In diesem stockfinsteren Raume standen zwei Bettstellen, in denen meine Geschwister und zwei Schlafburschen verstaut waren, während ich als Jüngste das Ehebett meiner Eltern teilte.
Am Fenster der »Stube« stand der Tisch mit den Handwerksutensilien meines Vaters, aber ich kann mich kaum entsinnen, ihn jemals daran hantieren gesehen zu haben. Für gewöhnlich trieb er sich draußen umher, auf der Spähe nach ein paar Groschen Verdienst als Gelegenheitsarbeiter. Mutter schaffte überhaupt nichts. Ich erinnere mich, sie im Hause nie anders als in einem verschlissenen roten Unterrock, Pantoffeln und zerrissenen Strümpfen mit zerzaustem, meist in zwei Zöpfen herabhängender Frisur gesehen zu haben.
Gleichwohl hatte sie immer ein fesches Kleid im Schrank hängen, das sie Sonntags und manchmal auch Wochentags abends anzog, wenn sie mit ihren zwei Freundinnen, den Wollmäusen Trude und Henny tanzen ging. Bei diesen Gelegenheiten machte sie jedesmal sehr sorgfältig Toilette, die damit begann, daß sie einen Bottich voll Wasser in die Bude schleppte, sich gründlich wusch, sich dann bis oben hinaus frisierte, und das Gesicht weiß und rot färbte. Wenn sie dann so hübsch zurechtgemacht und angezogen dastand, war sie wie ein Schmetterling, der sich eben der häßlichen Verpuppung seines ehemaligen Raupendaseins entrungen hatte.
Ich hatte eine elende Jugend. Bis zu meinem zehnten Jahre habe ich kaum ein warmes Mittagessen in den Leib bekommen. Die Eltern lebten in stetem Hader, Schimpfworte und Schläge waren die Tagesordnung. Zuweilen[6] wurde ich mitten in der Nacht wach von einem furchtbaren Lärm, von einem Hagelschauer von Schimpfworten, von Fußtritten und dem Aufknallen hin und her geschleuderter Gegenstände; nicht selten setzte es bei solchen Gelegenheiten auch etwas für mich ab, so daß ich bald klug war und mich mäuschenstill unter der Decke verkroch. Ich war noch zu klein, um die Ursache der ewigen Streitereien zu durchschauen, aber ich habe später mal gehört, daß die Nachbarn und Bekannten meiner Mutter die Schuld an unserer Misere und den vielen ehelichen Schlachten mit Bomben und Granaten gaben. Vater soll, wie sie sagten, früher ein fleißiger, solider, nüchterner Handwerker gewesen sein, das Elend hatte ihn mürbe, hinfällig und widerstandsunfähig gegen die vielen Kalamitäten und Widerwärtigkeiten gemacht. Der Schnaps und das Hundeleben hatten ein übriges getan, um ihn frühzeitig auszumergeln. Vor meinen Augen steht er als ein kleines, brustschwaches, kurzatmiges, verhutzeltes Männchen, das immer so aussah, als könnte ihm jede Minute die Puste ausgehen. – Die Schule besuchte ich sehr unregelmäßig, aber der Lehrer, der die Verhältnisse kannte, drückte beide Augen zu, und da ich rasch auffaßte, kam ich doch leidlich schnell voran und saß immer ziemlich weit oben in der Klasse.
Die Lichtpunkte meiner Kinderzeit waren die Wollmäuse. Sie arbeiteten auf den Wollböden einer großen Spinnerei und waren Sonntags auch immer schön angezogen, und da sie eine große Gutmütigkeit mit einer gewissen mütterlichen Kinderliebe vereinten, überhäuften sie mich mit Zärtlichkeiten und kleinen Geschenken. Wie rasch und mit wie wenig ist ein armes Kind froh gemacht. Wenn mir ein solches Wurm über den Weg läuft, schenke ich ihm immer etwas. Es wird so viel über die Sozialdemokratie und über die Mittel zu ihrer Bekämpfung geschrieben. Ich glaube wirklich man packt die Sache[7] am verkehrten Ende an. Die Militärbehörden stellen den Teufel und seinen Pumpstock an, um das Eindringen der sozialistischen Ideen in die Armee zu verhüten. Aber ich für meinen Teil glaube nicht, daß aus einem erwachsenen Menschen durch äußere Einflüsse ein wurzelechter Sozialdemokrat gemacht werden kann. Die Sozialdemokratie, die wirkliche, echte, rassige, vollblütige, rekrutiert sich aus den Massen der Kleinen, der Werdenden, der noch nicht Mitzählenden. Eher sollte man auf die frierenden Kleinen, die in grausig kalten Winternächten straßelang ihre Streichhölzer, Zeitungen und anderen Kleinkram feilhalten, sein Augenmerk richten, auf die zahllosen Geschöpfchen, die morgens hungrig zur Schule kommen, die in grauer Elendsnacht Aufwachsenden. – Denn das sind diejenigen, in deren Blut sich der Haß hineingärt –, die Wut, die wilde, glühende Sehnsucht nach Vergeltung, die nie mehr hinauskommen.
O, was kann so ein Kind leiden!
Mit sieben Jahren bekam ich eine Laufstelle bei einem wohlhabenden Budiker im Vorderhause. Die Leute hatten zwei Kinder, die immer nach der neuesten Mode gekleidet gingen und die machen konnten was sie wollten. Wenn ich sie abends ihre Lachs- und Schinkenbrötchen speisen sah und es beobachtete, wie sie Lux, den Pudel, mit denselben Leckerbissen fütterten, oder wenn Lux ein appetitlich gebratenes Schnitzel oder Beefsteak als Mittagfutter vorgesetzt bekam und mir der Duft der mir kaum dem Aussehen und dem Namen nach bekannten Speise in die Nase kribbelte, zog mit dem Neid und Hunger zusammen ein ganz sonderbares Gefühl in mein Herz. So eine stechende, aufkochende Wut, daß ich mit den Füßen hätte um mich treten und jeden, der mir nahe kam, mit den Fäusten ins Gesicht hätte schlagen mögen. Ich haßte die Budikerbrut und ihre Kinder mit dem Haß der Vernichtung – –[8]
Es ist nicht gut getan, vor den Augen eines hungrigen Kindes zu essen, oder seinem Hund leckere Mahlzeiten vorzusetzen und ein hungerndes Kind zusehen zu lassen. Wer das aus bösem Willen oder gleichgültiger Unbedachtsamkeit tut, braucht sich nicht zu wundern, wenn dieses Kind, zum Menschen ausgewachsen, eines Tages zum Räuber und Mörder an seinem Gut und Leben wird, denn man vergißt so etwas nicht.
Mich hält wohl jedermann für eine muntere, harmlose, gutmütige Person, die keiner Fliege was zuleid tun könnte, weil niemand meine innersten Gefühle und Gedanken kennt. Das geht auch niemand etwas an. Aber im Grunde meines Herzens hasse ich die reichen Menschen so furchtbar, daß ich ihnen manchmal etwas Böses antun möchte. Zuweilen nachts, wenn ich abgespannt und kaput hinterm Büfett stehe und sie kommen dann heran, die Schwärmer und Nachtlokalitäten-Habitués, sattgegessen und vollgesoffen, und angeregt von der Musik, den lüsternen Theaterstücken oder den pikanten Kabarettvorträgen, auf der Suche nach einem Kaufobjekt von Fleisch und Blut – – da – da – packt und schüttelt mich wieder so etwas Grausiges, Unaussprechliches, so ein fürchterlicher Ekel und ein so grenzenloser Zorn, daß ich meine, diese »Menschen« wären nichts anderes und nichts besseres, als jene Tiere, die nur zur Qual und Last der Menschheit da sind, die niemand etwas nützen, von denen man nicht weiß, warum sie überhaupt erschaffen sind und deren Existenz den Atheisten eine zweckdienliche Handhabe zur Beweisführung ihrer Ideen geben könnte. Und weil man solcherlei vierfüßigem Ungeziefer straflos mit Phosphor und Arsenik zu Leibe gehen darf, sollte es eigentlich auch jedermann unbenommen sein, diesen Tier-Menschen geräuschlos den Garaus zu machen. Mir wenigstens würde es ein unbeschreibliches Vergnügen bereiten, so einem satten, verlebten[9] Laffen, der sich unsereins gegenüber alles glaubt herausnehmen zu dürfen, ganz sachte ein Pülverchen in den Schwarzen zu mischen, daß ihm die Luft mit einemmal ausginge – –
Es ist wohl möglich, daß Frédéric mir das alles wieder zusammenstreicht, aber es schadet nichts. Es tut ordentlich wohl, mal alles so vom Herzen herunter zu schreiben, was mich oft beklemmt und ängstet. Und andere haben dieselben Empfindungen und Gedanken. Als ich noch im Apollotheater am Büfett war, sprach ich mal mit Trude darüber und sie äußerte sich so ähnlich. Die Leute sprechen immer von dem »Stempel des Lasters und der Gemeinheit«, der diesen Mädchen auf dem Gesicht gedrückt sein soll, aber sie wissen nicht, oder wollen es nicht wissen, daß es der Stempel eines unauslöschlichen Hasses und einer furchtbaren Verachtung ist. Denn kein Gefühl ist so tief, so schneidend, so vollgeladen von gefährlichem Explosionsstoff als die Verachtung, die aus dem Bewußtsein des Verachtetwerdens geboren wurde.
Ich wollte aber von den Wollmäusen schreiben, diesen armen Geschöpfen, die den ganzen Tag für eine Mark zwanzig Pfennig schwer schuften mußten. Sie hatten irgendwo im fünften Stock einer Kaserne der Hafengegend eine Schlafstelle und führten auch ein Hundeleben. Ihr einziges Amüsement, das sich zugleich mit dem Nützlichen einer sekundären Erwerbsquelle verband, bestand darin, daß sie Sonntags in dem Englischen Garten tanzen gingen. Auch auf den Zügen dieser Armen lag der Ausdruck des Hasses, den die Nichtwissenden »Gemeinheit« nennen. Aber zu mir waren sie gut – so gut – – Ich liebte die Wollmäuse.
Als ich zehn Jahre alt war, verunglückte mein ältester Bruder Christian am Hafen beim Löschen. Er war damals eben sechzehn, ein fleißiger, ordentlicher Junge, der der Mutter schon manchen Taler nach Hause brachte. Er[10] hatte beim Aufheben eines Stückes das Gleichgewicht verloren und war kopfüber ins Wasser gestürzt. Als sie ihn herausfischten, war er schon tot. Sein Verlust bedeutete einen schweren Schlag für meine Eltern. Die Tage zwischen der Nachricht von dem Unglück und der Beerdigung waren die einzigen meines Lebens, wo Friede und Eintracht zwischen den Eltern herrschte. Sie lagen nachts reglos und schluchzten vor sich hin, und gingen tagsüber still und stumm ihrer Wege. Aber am Abend des Beerdigungstages waren sie schwer betrunken und sie bombardierten einander mit Messern und Töpfen, und die Mutter blutete an der Wange, und in ihrer Wut nahm sie eine Schüssel mit Heringslake, die vom Abend vorher auf dem Tisch stand und stülpte sie dem Vater über den Kopf, worauf er ein so wahnsinniges Schmerzgeheul ausstieß, daß die Nachbarn, in der Meinung, bei uns sei Mord und Totschlag, schleunigst die Polizei holten, die dann kurzen Prozeß machte und die streitenden Parteien einfach mit zur Wache nahm.
Ein Jahr später herrschte ein großes Scharlachsterben in Hamburg und besonders in unserer Gegend. Fast Tür an Tür lagen und starben die Kinder, und wenn vormittags der Totenwagen, der die Arme-Leute-Leichen en masse nach Ohlsdorf abholte, vor dem Hause stand, geschah es nicht selten, daß der Mann Tür an Tür vorfragen kam, ob etwas mitzunehmen sei.
Wir lagen alle vier zu gleicher Zeit an der schrecklichen Krankheit nieder. Mein Bruder Thed und ich vorn im Bett und Hanny und Jörn nebenan. Bei Hanny setzte die Krankheit gleich so fürchterlich heftig ein und schon nach sieben Tagen starb sie. Abends gegen neun Uhr. Und etwas nach elf wurde es mit Jörn so schlimm, daß Vater Hals über Kopf nach dem Doktor mußte. Und er kam und kam nicht wieder, und Mutter jammerte und schimpfte in einem Atem, und die Schlafburschen[11] murrten, daß sie nicht mit der Leiche und dem röchelnden Kinde zusammen in einem Loch schlafen könnten. Und Thed und ich glühten im Fieber, und ich weiß noch heute wie mir allerhand rote, heiße Phantasien durch den pochenden schmerzenden Kopf zogen.
Endlich kam Vater wieder. Er war stundenlang nach einem Doktor umhergeirrt, endlich hatte er einen zu Hause angetroffen, und wie er unten an der Tür wartet, kommt der Schankwirt von vorn, dessen Mädel auch am Scharlach lag. Da ist der Doktor denn endlich herunter, aber obgleich Vater eine Viertelstunde früher als der andere da war, ist der Arzt doch zuerst mit dem Budiker gegangen, und als er dann nach einer guten halben Stunde zu uns kam, fand er zwei Leichen ... Hanny und Jörn – –
Ich glaube wohl, daß der Doktor Jörn auch nicht hätte retten können, denn für den Tod ist ja einmal kein Kraut gewachsen. Aber damals reimte ich mir aus allem, was so um mich herum zeterte und raunte und gluckste den Gedanken heraus, daß Jörn nicht gestorben wäre, wenn der Doktor erst zu uns gekommen wäre. Und daß das Budikermädel mit dem Leben davonkam, das schien uns allen ein unumstößlicher Beweis dafür, daß der Mensch wirklich Gottes Ebenbild ist, – – nämlich daß Gott, wenn er überhaupt ist – genau wie seine irdischen Abbilder mit zweierlei Maß mißt – eins für die Wohlbestellten, Zahlungsfähigen, und eins für die Elenden, den »Pöbel« –
Na, auch das wurde überwunden. Es hatte höllisch Luft gemacht in der Bude, so drei Menschen weniger. Aber besser wurde es auch nicht, ja mich dünkt beinahe, als ob Mutter seitdem noch schlampiger und gleichgültiger geworden wäre und als ob Vater gleichfalls danach noch arbeitsunlustiger und arbeitsunfähiger gewesen sei. Nur selten brachte er noch ein paar Groschen nach Hause,[12] und der Hunger und die nackte Not waren häufiger als zuvor unsere Gäste. Mutter ging jetzt nicht nur Sonntags, sondern auch Wochentags in die Ballokale; in den Englischen Garten begleitete ich sie öfters. Sie hatte ein Techtelmechtel mit dem Oberkellner dort und da durfte ich hinterm Bufett hocken und bekam die Reste Bier und Grog aus den Gläsern zu trinken. Manchmal kam es auch vor, daß ich einschlief und von Mutter im Stich gelassen wurde. Immerhin gefiel es mir in den warmen, hellen Lokalitäten, bei der Musik und dem moschusduftenden Gängeparfüm der geschmückten Talmieleganzen besser als in dem kalten, dunklen, lumpigen und stinkenden Loch daheim.
Einmal nach solcher Tanznacht, als ich, berauscht von den Polacken1, eingeschlafen war und morgens hinterm Schanktisch aufwachte, war mir so hundeelend zumute, daß ich kaum aufstehen konnte. Da brachte mich der Ober an die Tram, setzte mich hin ein und zahlte die Fahrt für mich. Zu Hause fand ich die Eltern in heller Fehde. Vater sah kreideweiß aus. Ich hörte, daß er Mutter wegen mir Vorwürfe machte.
»Eine Schande ist's und eine Sünde um so'n unschuldiges Kind,« schrie Vater. »Wie sieht sie aus! – Auch schon halb so 'ne – –«
»Verhau sie doch!« sagte Mutter gleichgültig. Sie las in einem gelben Groschenheft. »Das Opfer der Ehre«. Für die Literatur hatte sie halt immer noch ein paar Pfennige übrig.
»Nein, dich sollte man verhauen,« sagte Vater, aber er war gar nicht wütend und auffahrend als sonst, sondern mehr bedrückt und traurig. »Was für ein Leben! Ein Leben schlechter wie ein Hund,« fuhr er fort und seufzte[13] tief. »Man sollte sich zehn Klafter unter die Erd' wünschen –«
»Geh hin und häng dich uff,« riet Mutter.
»Meine Eltern waren auch nur kleine Handwerkerleute, und wir waren zu sieben,« sprach Vater weiter, »aber wir hatten doch immer unsern gedeckten Tisch und unsere Ordnung. Unsere Stuben waren blitzsauber, und wir hatten mittags und abends was Warmes im Leib. Unsere Mutter war hinten und vorne; sie war eben eine anständige Frau –«
Mutter murmelte eine mehr populäre als salonfähige Entgegnung, die Vater zu meiner Verwunderung aber ganz unbeachtet ließ.
»Um mich ist es ja ganz Gottlieb Schulze. Aber daß man mit seinen Augen ansehen muß, wie die leiblichen Kinder im Dreck vergehen und verderben.«
»Scher dich zum Teufel,« schrie die Mutter.
»Jawohl. Ich werd 'n bitten, daß er dich noch sobald nicht holt. Denn solang du nicht da bist, werd' ich's schon in seinem Brutkasten aushalten –«
Damit ist er fort. Und ich habe die letzten Worte so genau im Gedächtnis behalten, weil's wirklich die letzten waren, die ich von ihm hörte. Am Abend kam er nicht nach Hause, die nächsten Tage auch nicht. Acht Tage später fanden sie ihn irgendwo bei Wandsbeck tot im Chausseegraben, erfroren.
* * *
Gestern nacht hatte ich ein kleines Extraabenteuer. So um zwei herum. Das Café war schon ziemlich leer, nur ein paar vereinzelte Stammgäste sielten sich noch herum. Herr von Rüben mit einem Kabaretstar, Weber-Elias mit zwei Freunden und einer Freundin, noch ein Alter, dessen Namen ich nicht kenne und ein mir ebenfalls unbekannt-bekanntes Pärchen.[14]
Dann plötzlich kommt noch ein Paar.
Er ein hübscher, schlanker, eleganter Mensch mit braunem Schnurrbart à la Haby und Zylinder, so gegen vierzig, sie ein elendes kleines Rapunzel, die linke Schulter zehn Zentimeter über die rechte hinaus gewachsen, auch schon stark aus dem Schneider, das Gesicht nicht hübsch nicht häßlich, von einer scheußlichen Nichtssagenheit und Alltäglichkeit; nicht einmal schick ... alles in allem: höchst gewöhnlich ... Was mich anbelangt, so war ich sehr müde und wünschte die ganze Gesellschaft schon seit länger als einer Stunde ins Bett oder zum Teufel. Aber trotzdem habe ich doch immer die Augen offen und beobachtete alles, was um mich vorgeht und diese beiden erregten aus einem mir selbst nicht ganz plausiblen Grunde mein Interesse. Ich sah sofort, daß sie ein Verhältnis waren und konnte mir auch keinen rechten Reim darauf machen, wieso der nette fesche Mensch zu einem Verhältnis mit dieser knotigen ollen Schachtel kommen konnte. So etwas ist eine Geschmacklosigkeit, die in meinen Augen einem Verbrechen gleich kommt.
Sie nahmen also Platz und bestellen: sie einen Tee, er einen Schwarzen und fordern die Kuchenplatte und sie futtert drauf los, als ob sie in drei Wochen auf Barnimdiät gewesen wäre. Und dabei ein Räsonnement; das Mundwerk ging ihr wie eine Kaffeemühle, keine fünf Sekunden Stillstand, während er sich mit Zuhören und zeitweisem Kopfnicken begnügte.
Die Beiden fingen schon an mich zu langweilen, als sich plötzlich ein Zwischenfall ereignet, der mich, aber auch sie – nämlich meine Beiden – ermunterte. Kommen da plötzlich zwei Damen die Treppe herauf: die Alte im Cape und Kopfschal, das Urbild einer forschen Schwiegermutter, hinter ihr, etwas schüchtern und geniert, ein junges Mädchen, oder eine junge Frau – was weiß ich – – –.[15]
Die Alte eins, zwei, haste mich gesehen, auf mein Paar zugestürzt:
»Sie! Sie! Das ist ja reizend: Sie hier mit Ihrer – Ihrer – – Ihrer Person – Sie – Sie schlechter Patron. Und Ihre arme Frau sitzt zu Hause und grämt sich, weint sich die Augen aus dem Kopf ... Schämt Euch! Schämt Euch! Schämt Euch – –!!«
Na, sie schämten sich wirklich wie die Hunde. Mein hübscher Zylindrian warf einen Taler auf den Tisch und riß schleunigst aus und die Weiber ihm nach – –
Im Lokal Totenstille, und erst als der Vorhang über das einszenige Drama gefallen war, nämlich alle vier außer Schußweite, bricht das Gelächter los. Und dann die Debatten. Alle Anwesenden sind plötzlich miteinander bekannt und in einer Unterhaltung. Jeder gibt seinen Senf zu der Parteienstellung. Hie Schwiegermutter, da Schwiegersohn. Die Freundin von Weber-Elias behauptete, die Schwiegermutter sei in ihrem Recht und es sei keine Ordnung von einem Mann, sich nachts mit anderen Frauenzimmern herumzutreiben (sie scheint selbst etwas eifersüchtig veranlagt). Die Herren nahmen natürlich alle für den Mann Partei, nur einer meinte, man könne ihn nicht in Schutz nehmen. Ein Mann könne tun, was er Lust habe, aber sich von der Schwiegermutter erwischen lassen – – das sei eine Dummheit, die Verurteilung und Strafe verdiene. – Wie sie noch so hin und her streiten, ruft von Rüben zu mir herüber: »Sind Sie mal Schiedsrichter, Miezel! Wer ist in diesem Fall verdammenswert und wer nicht?«
»I Gott bewahre. Selbstverständlich der Mann,« sage ich.
Natürlich allseitiger erstaunter Protest. »Aber Miezel!« »Na hören Sie mal, Miezel!« »Seit wann denn, Miezel? Wie wird mir?« Usw.[16]
»Der Mann ist im Unrecht,« sagte ich, »denn wenn er schon mal über die Stränge schlägt, soll er sich wenigstens 'n hübsches, kleines Mädchen aussuchen, und nicht so 'ne alte, schiefkastige Runkelrübe. Garstiger wie die kann seine Frau auch kaum sein –«
»Da haben Sie recht, Fräulein!« sagt jemand hinter mir, und ich denke, mich rührt der Schlag, als auf der Treppe wieder der nette Mensch auftaucht und ganz solo, ohne Verhältnis und Schwiegermutter. Er setzt sich und verlangt einen Absinth. Im Lokal war's natürlich gleich still. Nachher ist dann bald einer nach dem andern weg, und der Kellner macht die Gasflammen aus, und bald war's schummerig im Lokal und nur am Fenster, wo der arme Kerl von Schwiegersohn, den Zylinder in den Nacken geschoben, trübselig versonnen dasitzt und seinen zweiten Absinth schlürft, brennt noch eine Flamme. Ich hab mich denn mittlerweile auch angezogen, und der Mann zahlt, und es trifft sich, daß wir gerade miteinander zur Türe hinaus sind.
Er grüßt dann ganz höflich und meint: »Noch so spät spazieren, Fräulein? Und ganz allein? Wohin denn?«
»Ins Quartier. In die Chausseestraße,« antwortete ich.
»Herrjeh! So weit! Und den Weg müssen Sie jeden Morgen gegen zwei machen?«
»Warum denn nicht?« sag ich. »Die Luft und die Bewegung sind mir gut. Ich möcht sie nicht missen.«
»Und wann gehen Sie morgen wieder ins Geschäft?«
»Um elf muß ich auf meinem Posten hinterm Büfett sein –«
»Lieber Herrgott! Wann schlafen Sie denn?«
»Nun zwischen vier und neun. Und morgen geht's schon um sechse heim. Ich habe diese Woche dreimal Nachtschicht, nächste Woche viermal!«[17]
Er seufzte ein bißchen und hielt sich immer an meiner Seite. »Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie ein Stückchen Wegs –«
»Bitt' schön. Ist gern geschehen – –«
»Was denken Sie nur von mir, Fräulein?« fährt er fort. »Sie müssen ja einen schönen Begriff von mir haben –«
»Begriffe habe ich überhaupt nie,« sagte ich. »Unsereins sieht und hört so viel, daß einem das Denken darüber vergeht. Aber ein bißchen gewundert hab ich mich schon. All was wahr ist ...«
»Ja, das hab ich gehört und recht haben Sie, sehr recht,« sagte er raschatmig, »aber Sie müssen alles wissen, um alles zu verstehen. Sie haben etwas so Nettes, Angenehmes, Vertrauenerweckendes in Ihrem Wesen. Und Sie kennen das Leben. Wenn man noch um zwei Uhr morgens nach neunstündiger Arbeit mit so blanken, aufmerksamen Augen in die Welt schaut, weiß man zu verstehen ... Sehen Sie, ich bin der nüchternste, solideste Ehemann der Welt. Schauen Sie mich an: sehe ich so aus wie ein Lüderjahn, der sich aus purem Übermut nachts in den Cafés herumtreibt?«
»Nanu, wäre doch auch weiter kein Verbrechen, wenn Sie nach dem Kabaret oder sonstwas mit einer Dame noch eine Tasse Kaffee trinken,« entgegnete ich trocken, denn so was Philisterhaftes ärgert mich immer kolossal.
»Ach nein,« sagte er. »Ich bin in kleinbürgerlichen Verhältnissen groß geworden, aus solider Familie und die Solidität liegt mir im Blut. Mit fünfzehn Jahren kam ich als Schreiber zu einem Rechtsanwalt. Heute bin ich achtunddreißig und Bureauvorsteher beim Justizrat X mit dreihundert Mark monatlich.
Das ist nun alles soweit gut, aber es ist mein Verhängnis, daß ich etwas ideal veranlagt bin. Ich war immer sparsam, nie zu Extravaganzen zu gebrauchen,[18] aber ich hatte von jeher mein Ideal, nämlich eine hübsche, elegante kleine Wohnung, alles sehr nett, sehr sauber und zierlich und mitten drin als Hauptsache eine niedliche mollige junge Frau; so ein richtiges behagliches Heim, in dem man sich abends nach getaner Tagesarbeit wohlfühlt, und eine Frau, mit der man sich versteht und die klug und vernünftig ist und einem einen ganzen Junggesellenstammtisch ersetzt.
Dieses Ideal verfolgte ich schon als ganz junger Mensch und es wuchs mit den Jahren zu einer starken, unbezwingbaren Sehnsucht an. Immer wenn ich von einem unbehaglichen chambre garni ins andere wanderte, dachte ich bei mir: wie lange wird's noch dauern, bis du: ›Es ist erreicht‹ sagen kannst. – –
An meinem dreißigsten Geburtstag bezog ich ein Quartier in der Potsdamerstraße bei einer Madame Lehmann – dieselbe, die Sie heute abend sahen, zurzeit mein holdes Schwiegermütterlein.
Da begann mein Verhängnis. Mama Lehmann hat zwei Töchter. Die Ältere, heut noch Unvermählte, die sie vorhin begleitete, und die Lotte, meine jetzige Frau, eine allerliebste Blondine, ganz mein Schwarm. Sie sehen und lieben war eins. Und da unser Bekanntwerden mit dem glücklichen Ereignis meiner Ernennung zum Bureauvorstand und einer beträchtlichen Gehaltserhöhung zusammenfiel und ich kurz danach eine kleine Erbschaft von zirka fünftausend Em machte, zögerte ich nicht, mich mit der kleinen Lotte zu verloben und auch gleich den Termin der Hochzeit zu bestimmen.
Mir schwebte etwas von einer hübschen ruhigen Wohnung in Friedenau, Steglitz, Charlottenburg oder in sonst einem Vorort vor, aber meine Schwiegermutter hatte andere Pläne. Sie wollte die zweite Hälfte der Etage zumieten, beide Wohnungen durch eine Tür verbinden, uns zwei oder drei Zimmer abgeben und die übrigen[19] Zimmer untervermieten. Na, was soll ich sagen?! Ich war wie geduscht. Gewehrt hab ich mich genügend gegen das Projekt, aber da auch Lotte der Mutter zustand und die Weiber tausend und einen Grund für ihr Vorhaben zutage förderten, war ich der unterliegende Teil. –
Sie werden mich für einen ganz elenden Waschlappen halten. Nun, als geistiger und moralischer Kraftmeier will ich mich ganz gewiß nicht aufspielen, aber so schlimm ist es doch nicht. Aber ich bin einmal so: mit Bitten und Freundlichkeit kann man alles erreichen, alles, da bin ich wie vor den Kopf geschlagen und außerstande zu opponieren. Und ihre Gründe hatten ja auch manches für sich. Die Lottchen war im Putzgeschäft tätig und verstand nichts vom Haushalt. Da war es ja ganz zweckmäßig, wenn sie noch eine Zeitlang unter Mutterns Aufsicht wirtschaftete, schließlich waren wir so auch nicht mit der Wohnung verheiratet und das Ganze ja nur ein provisorisches Arrangement.
Wie gedacht, so getan.
Die ersten Monate ging's ja wunderschön, aber dann gingen mir allmählich die Augen offen. Was hatte ich gewonnen? Eine Frau, die ich zu versorgen hatte, und im übrigen war ich nach wie vor Chambregarnist. Wir führten gemeinschaftlichen Haushalt. Statt früher für mich allein habe ich nun für zwei Personen meiner Schwiegermutter die Pension zu bezahlen, ohne welche nennenswerte Annehmlichkeiten dafür zu haben. Ich hatte die Einrichtung für drei Zimmer gekauft. Als ich eines Abends nach Haus komme, steht im Salon ein Bett: Schwiegermutter hat das Zimmer ohne mich zu fragen vermietet.
Wir essen zusammen. Immer mit fremden Personen am Tisch. Die Frauen haben das Regiment, ich bin eine Null, eine Luftblase.[20]
Ein anderer an meiner Stelle hätte schon lange Radau gemacht oder Trost im Wirtshaus gesucht. Aber ich kann das nicht. Ich bin Idealist. Ich bin der geborene Haus- und Familienmensch. Wenn ich etwas sage oder mich einer Anordnung meiner Schwiegermutter widersetze, schreien die drei Weiber – denn Lotte hält zu den Ihren – mich einfach nieder. Ich hasse jeden Lärm und Streit. Nur keinen Skandal – –, so bin ich.
Sage ich mal: Lotte, wir gehen heut abend ins Restaurant essen, gleich rechnet sie an den Fingern nach, wieviel das kostet. ›Mutti stellt dieselbe Mahlzeit zwei Mark fünfzig billiger her, dafür kann ich mir schon ein paar Handschuhe kaufen.‹ Bringe ich nur zwei Theaterbilletts mit, mault sie, daß ich nicht auch eins für ihre Schwester Ella oder für Mutti mit gekauft habe. Speisen wir hinterher irgendwo zur Nacht, so werd ich ausgerechnet acht Tage lang mit Vorwürfen, Anspielungen und Sticheleien über meine Verschwendung regaliert – –
Ich sage Ihnen, es ist ein elendes Leben, die Galle läuft mir dabei über. Und ich bin leider Gottes so, daß ich alles in mich hineinfresse, anstatt mich mal ordentlich auszukollern, wie es andere vielleicht täten. Da quengelt man sich den ganzen Tag ab im Bureau zwischen den Akten und abends solch ein ungemütliches Heim – Heim? Was sage ich – chambre garni – –
Fräulein Laurenz, mit der ich eben im Café war, wohnte als Pensionärin bei Lehmanns. Sie ist ein armer Krüppel, aber sie hat helle Augen. Sie sah, wie ich unter diesen Verhältnissen litt und sie verstand mich. Sie begriff, daß es keine persönliche Waschlappigkeit von mir ist, daß die Weichheit meines Herzens meine Willensstärke paralysiert. Sie sprach sich einmal zu mir darüber aus ... kurz und gut, sie bewunderte meine Seelengröße, sie sah in meinem schweigenden Dulden die echteste Mannhaftigkeit. Ich lasse mir gewiß nicht[21] schmeicheln, aber es ist sehr wohltuend, sich von jemand verstanden zu wissen.
So bändelte unsere rein platonische Freundschaft an. Als meine Frau anfing, eifersüchtig zu werden, mußte die Laurenz natürlich aus dem Hause. Aber ich hatte mich mittlerweile so an sie gewöhnt, daß ich von nun an nach den Bureaustunden an dritten Orten mit ihr zusammentraf. Ich weiß wohl, daß sie stark verliebt in mich ist und nicht ›nein‹ sagen würde, wenn ich ihr ein Verhältnis anböte, und das chokiert mich etwas, denn ich denke natürlich nicht daran. Aber wie gesagt: ihre Gesellschaft erfrischt mich und deshalb suche ich sie.
Nun wissen Sie alles. Aber heute nacht hatte die Rechnung der Lehmann doch ein Loch. Ich hustete ihr etwas. Die Laurenz und ich waren zusammen essen gewesen, dann im Kabaret und darauf im Café. An der Charlottenstraßenecke kriegten sich die drei Weiber beim Wickel. Wenn es noch zu einer Attacke mit Regenschirmen gekommen ist, sage ich nichts. Ich sagte: ›Gute Nacht, meine Damen, wohl bekomm's' und ging meiner Wege ...«
»Gott sei Dank,« dachte ich bei mir, »der Schluß ist wenigstens noch das Erfreulichste an der katzenjämmerlichen Geschichte. Bei alledem tut mir der Mann leid.«
»Na, und nun –?«
»Ja, das möchte ich eben von Ihnen wissen,« sagte er kläglich. »Was soll ich tun, um diesen scheußlichen Zustand zu beenden? Ich habe nichts als Ärger und Verdruß von meiner Heirat. Das, was mir diese Ehe bietet, kann ich mir schließlich als Junggeselle auch verschaffen ...«
»Das ist aber doch sehr einfach: Sie mieten sich zum Oktober eine Wohnung, schicken den Möbelwagen vor die Tür, lassen Ihre Sachen aufladen und stellen es[22] Ihrer Frau anheim, mitzukommen oder dazubleiben. Sie muß dann wählen zwischen Muttern und Ihnen.«
Mein Begleiter blieb plötzlich stehen, und es ging wie Erleuchtung durch seine Züge. »Das ist das Richtige,« sagte er tiefatmend, »ganz recht! Ganz recht! So wird's gemacht! Ich danke Ihnen, Fräulein! Daß ich darauf nicht selber gekommen bin. Ich werde oft zu Ihnen ins Café kommen. Entschuldigen Sie, daß ich mich noch nicht vorstellte: Heinrichs, Paul Heinrichs ... O, wie dankbar bin ich Ihnen –«
»Keine Ursache,« sagte ich, »aber wenn Sie noch einen Gratisratschlag von mir annehmen wollen, dann hängen Sie die ›Freundschaft‹ mit der Krummen an den Nagel. So was ist unnatürlich, und alles was gegen die Natur ist, soll man verabscheuen. Ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich mal über die Stränge schlagen und mit einem hübschen kleinen Mädel durchbrennen, ist das nicht halb – ach was! nicht zum zehnten Teil so gefährlich für Ihren häuslichen Frieden und Ihre Ehe, als der platonische Aufchock mit so 'ner ollen Schraube, die Ihnen die Ohren voll bläst und an Sie herum hetzt und stichelt. Ich kenne auch ein bißchen die Welt, Herr Heinrichs. Nun, gute Nacht.«
Wir waren nämlich mittlerweile in der Chausseestraße angelangt.
»Ich nehme Ihren Rat gerne an – aber – –«
»Nun?«
»Wenn Sie Fräulein Laurenz Stelle bei mir einnehmen wollten – – O, ich habe soviel Vertrauen zu Ihnen –«
»Meinetwegen: Topp ...« sagte ich. »Aber schmieren tu' ich nicht –. Bis nächstens also.«
* * *
Ich lag noch lange wach und dachte darüber nach, wie es kommt, daß unter zehn Männern, die an mich[23] herankommen, immer nur ein Liebhaber ist. Die anderen neun betrachten mich als einen sehr guten Kamerad, dem man alles sagen und anvertrauen kann. Worüber ich nun weiter auch nicht böse bin, denn ich komme mit soviel Mannsvolk in Berührung, daß der Prozentsatz zehn auf Hundert mir übrig genügt. Aber komisch ist es doch, zumal ich ein hübsches Frauenzimmer und prachtvoll gewachsen bin, zwei Eigenschaften, die mir bei jedem Neuengagement als Empfehlungen dienen. Die Menschen haben eben wirklich viel Vertrauen zu mir, und ich schmeichle mir, ein solches auch noch in keinem Fall getäuscht zu haben. –
So war es auch mal mit dem kleinen Russen Iwan Petronoff, Angestellter in einem hiesigen Teegeschäft. Der kam seit Jahr und Tag jeden Abend ins Xbräü, wo ich bis zum vorigen Winter Büfettiere war, und wir waren bald befreundet, und jeden Abend stand er eine volle Stunde am Büfett bei mir, wobei wir uns denn über so ziemlich alles mögliche unterhielten: über Politik und Liebe, Theater und Skandal, Literatur, Fleisch- und Kohlenpreise, über die neuesten Morde und die neuesten Kalauer. Er sprach deutsch wie ein Hiesiger, nur mit einem kleinen russischen Akzent. Und ich bekam alles von ihm zu wissen, all seine Liebesfahrten und Abenteuer, er hatte gar keine Geheimnisse vor mir. Eines Tages brachte er seine Braut, Kassiererin von Wertheim, nicht gerade hübsch, aber ein schickes Weib, so eine beauté du diable, Fräulein Therese Willke. Wir befreundeten uns bald, ich hatte beide sehr gern. Sie heirateten gleich danach, lebten sehr glücklich und kamen nach wie vor fast jeden Abend zu uns. An meinen Freiabenden oder Freitagen besuchte ich sie oft in ihrem netten kleinen Heim in einem Gartenhaus der Wilhelmstraße, oder ging mit ihnen aus. Da platzte in dieses eheliche Idyll Anfang April der russische Aushebungsbefehl. Iwan war nämlich noch[24] militärpflichtig und kein naturalisierter Deutscher. Ach Gott, war das ein Jammer. Es ging mir ordentlich ans Herz um die beiden. Aber da half kein Weh und Ach. Väterchen rief und Iwan mußte folgen. Im Mai ist er denn mit einem Truppentransport nach der Mandschurei und hat mir von da ein paar so liebe Briefe geschrieben, so traurig und so voll Sehnsucht und Bange nach Berlin und seiner Therese.
Das arme Tier war ja auch übel genug dran und saß ganz auf dem Trockenen. In der ersten Zeit ging sie wie stumpfsinnig umher und sprach nur immer von Sterben. Sobald sie Nachricht hatte, daß Iwan gefallen sei, wollte sie sich mit Lysol vergiften. Die volle Flasche stand schon auf ihrem Waschtisch bereit. Sie fiel ordentlich aus ihren Kleidern und man mußte ihr mit Gewalt zureden, daß sie nur etwas zu sich nahm. Schließlich siegte aber doch der Selbsterhaltungstrieb. Um über die erste Zeit hinweg zu kommen, mußte sie die Einrichtung verkaufen, dann fand sie eine Stellung als Verkäuferin bei Mannheimer. Sie war vor Jahren auch in der Konfektion tätig gewesen und kannte die Branche, und obgleich die Stelle nichts weniger als brillant war, mußte sie doch nehmen, was sich ihr bot.
Anfangs kamen wir noch oft zusammen. Sie war dann immer noch sehr melancholisch und mißmutig, aber allmählich gab sich das, und wenn sie klagte, galt ihr Verdruß mehr ihren schlechten Existenzverhältnissen als dem armen Iwan. Das ärgerte mich und einmal hatten wir deswegen ein kleines Scharmützel und seitdem waren wir schuß. Nichtsdestoweniger zeigte ich ihr meine Umsiedelung ins Café K ... am ersten August an, bekam aber die Karte als unbestellbar zurück. Ich fürchtete, sie wäre krank oder es sei ihr sonst was zugestoßen und erkundigte mich bei Mannheimer; da war sie auch schon vier Wochen fort und kein Mensch wußte, wo sie sich[25] aufhielt. Aber nach etwa vierzehn Tagen so um eins nachts – ich trau meinen Augen nicht – sehe ich Madame Theresa mit einem eleganten Herrn im Café. Fürchterlich aufgedonnert, fliederblauer Theatermantel, weißer Hut mit Federn, die Finger bis oben heraus mit Brillanten garniert, (vielleicht Tait – aber einerlei, die kosten auch Groschen –!), also – ich kann sagen, ich war im ersten Moment paff, in der zweiten Minute überfällt mich ein fürchterlicher Zorn auf das Weib, die meinen armen Freund so betrügt ... Ich hab mich dann aber doch bezwungen und dem Jack, unserm Jungen eine Mark gegeben und ihn dem Paar nachgeschickt. Sie, die Therese hat mich nicht gesehen, die hat ihre ganze Aufmerksamkeit nur ihrem Kavalier zugewandt und ihn mit den Augen angeklappert, daß ihm wohl schwindelig dabei geworden sein mag.
Es stellte sich dann heraus, daß Madame nun am Dönhoffplatz irgendwo drei Treppen wohnt und sich aushalten läßt. Wo sie den Ochsen so rasch aufgetrieben hat, mögen die Götter wissen. Jedenfalls hat er Moses und die Propheten. Ich hab sie am andern Tag aufgesucht und ihr nicht schlecht meine Meinung gesagt. Da ist sie frech geworden und hat mich hinausgeschmissen, aber wenigstens hat sie etwas zu hören gekriegt, das Mensch.
So was kann mich nun scheußlich aufbringen. Ich habe gewiß keine Philisterschrullen und in Punkto des Artikels Liebe ein ziemlich weites Herz, und was die Treue vom Gesichtspunkt der Ehe aus betrachtet anbelangt, finde ich, daß man das Wort immer sächsich aussprechen soll, nämlich »Dreie«. Aber wenn zwei Menschen so miteinander lebten, wie Iwan und Therese, so ein Herz und eine Seele, und das Schicksal reißt sie auseinander und wirbelt den einen Teil in eine ferne Weltecke, ist es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit[26] des andern Teils, ihm die Treue zu bewahren. Ich habe für alles Verständnis. Wenn sie aus Not und Verzweiflung mal in die Amorsäle gegangen wäre und sich schlechtweg verkauft hätte – ich hätte Entschuldigung dafür gewußt, aber so nicht. Überhaupt kann ich diese Art Verhältnisse nicht leiden.
Traurig genug, wenn jemand so weit heruntergekommen ist, »so 'ne« zu werden. Da hilft kein guter Wille und nichts mehr, die muß unten bleiben. Die famose Gesellschaftsordnung schmeißt die Kellerluke über ihr zu und wälzt einen Hundertzentnerstein drauf, so daß sie nicht wieder hinauskommt. So 'n Mädel ist zu bedauern, der drück' ich ohne Bedenken die Hand. Sie ist wie eine Eingemauerte, lebendig Begrabene.
Und gegen ein Verhältnis habe ich auch nichts. Gott bewahre! Die Liebe ist eine schöne Dekoration des nüchternen Alltagslebens. Wenn ich sechs Wochentage wie 'n Pferd schufte, hab ich am Sonntag das Recht auf ein bißchen Freude. Das hab ich mir auch nie nehmen lassen. Aber meine Verhältnisse haben mir nie pekuniäre Vorteile gebracht. Wollt' ich auch gar nicht. In vielen Fällen haben sie mich noch mein gutes Geld gekostet, denn es traf sich meist so, daß gerade die Männer, die mir gefielen, arme Teufel waren, die immer Hohlebbe im Portemonnaie hatten.
Ich kann alles begreifen, nur nicht, wie man sich als junge, arbeitsfähige Person hinsetzen, die Hände in den Schoß legen und sich von einem Mann unterhalten lassen kann. Ich hätte es schon oftmals so haben können, aber ich bedanke mich. Arbeit muß der Mensch haben. Und wenn ich auch schon mal sakriere und schimpfe, im Grunde weiß ich doch, daß ich ohne Arbeit nicht leben könnte. Das Geschäft ist der Boden, in dem ich wachse, ich wäre totunglücklich, wenn ich plötzlich zum Müßiggang verurteilt würde.[27]
In meinen Augen ist solche femme entretenue viel verachtungswürdiger als eine Reinseidene.
Die Therese könnte ich prügeln. Der arme kleine Iwan aber kann mich dauern. Ich möchte ihm fast wünschen, daß er fiele, denn ich glaube, die japanische Kugel würde ihm nicht so weh tun, als die Überraschung, die hier auf ihn wartet.
* * *
Frédéric sagt, ich soll nicht soviel Seitensprünge machen, sondern mich hübsch an die Leine halten und der Reihe nach erzählen. Gott ja, man muß sich ja erst ans Schriftstellern gewöhnen, und was mir so frisch im Gedächtnis ist, das muß erst mal runter. –
Also wie Vater tot war, hungerten wir uns noch ne drei Wochen gemeinsam so durch. Dann war Mutter eines Tages verschwunden, mit ihrem Oberkellner durchgebrannt. Ich habe sie nie wieder gesehen und nie wieder von ihr gehört.
Thed, der damals schon vierzehn Jahre war – und Ostern eingesegnet wurde, kam zu einem Schreiner in die Lehre und ich wurde vorläufig im Waisenhaus untergebracht, und kam nach einigen Wochen zu einer Schusterswitwe in Altona in Pflege.
Diese Pflegestelle war für mich ein Glückstreffer, denn ich fand in Frau Tine Schlappkohl im wahren Sinne des Wortes eine gute, treue, mütterliche Freundin.
Mutter Schlappkohl war eine kreuzbrave Frau. Sie hatte selber keine Kinder und führte nach ihres Mannes Tod das Geschäft mit zwei Gesellen und zwei Lehrlingen weiter. Sie hatte ein eigenes Häuschen in einer stillen Seitenstraße, besorgte trotz ihrer fünfundsechzig Jahre ihre Wirtschaft noch alleine und hockte im Notfalle auch mal in der Werkstatt mit auf dem Schusterschemel, denn[28] in ihren dreißig Ehejahren mit einem brustschwachen Mann, der die meiste Zeit bettlägerig war, hatte sie es gelernt, auch selbsttätig mit in das Handwerk einzugreifen und sie verstand es ebenso gut wie die Gesellen ein paar Schuhe herzustellen oder zu sohlen.
Als sie mich zu sich nahm, leitete sie dabei wohl der Gedanke, sich ein wenig Hilfe zu schaffen. Sie holte mich persönlich aus dem Waisenhaus ab. Ich sehe sie noch vor mir: groß, stark und mager; das Haar noch fast ganz dunkel, auf den Backen ein helles, derbes Rot, um den Mund ein gutes, breites Lächeln. »So mein Deern ... Nu komm man mit. Sollst es nicht schlecht kriegen bei Muttern Schlappkohl.«
Ich hatte es gut, sehr gut. Zum erstenmal lernte ich ein geregeltes und geordnetes Leben kennen, saß ich am gedeckten Tisch bei guten, kräftigen Mahlzeiten, hatte ein weiches, sauberes Federbett, ordentliche, ganze, reine Kleider und festes Schuhwerk ...
Während ich dies schreibe, kommt eine gewisse Rührung über mich. Daß ich wirklich nicht ganz im Dreck vergangen und verdorben bin, sondern daß trotz aller schlimmen Anspizien ein relativ anständiger und ordentlicher Mensch aus mir geworden ist, das verdanke ich einzig und allein der guten Mutter Schlappkohl.
Dabei muß ich nun wieder auf das, was ich schon einmal sagte, zurückkommen, nämlich daß für alle guten und bösen Eigenschaften und Taten eines Menschen eigentlich dieser selbst erst in zweiter Linie verantwortlich gemacht werden kann. Es kommt alles von den Einflüssen der Erziehung und den Eindrücken in der Jugend her. Wenn ein Mörder vor Gericht steht, sollte man fragen und forschen, was und wer den Bazillus der Mordlust und der Mordfähigkeit in ihn hineingelegt hat. Und wenn von einem guten Menschen die Rede ist, denke ich immer: wieviel gute Menschen muß der gehabt haben.[29]
Die Erinnerung an die Zeit im Schlappkohlschen Hause macht mich ordentlich warm, so daß ich mich ein bißchen darin versenken und dabei verweilen möchte. Ach, es war zu gemütlich. Von der Straße gelangte man in einen kleinen dämmerigen Flur, in dem es angenehm intensiv nach Leder und Juchten roch. Von der Decke herab baumelten an Stangen zahlreiche wetterfeste Fußbekleidungsstücke für Mann, Weib und Kind, starke, derbe Ware, denn Mutter Schlappkohls Kundschaft rekrutierte sich meist aus Arbeiterkreisen und dem kleinen Bürgerstand. Links vom Flur war das schmale Lädchen, dahinter die Küche, von der ein Fenster nach der Werkstatt ging, so daß die Meistern auch beim Kochen die Leute beaufsichtigen konnte.
Eine steile Treppe führte in die Wohn- und Schlafgemächer des Hauses, einer Reihe schrägdachiger Kammern und nach vorn hinaus das zweifenstrige Wohn- und Eßzimmer.
Ich fühlte mich so mollig wie die Raupe im Grünkohl bei »Tante« Schlappkohl, wie ich sie nennen mußte. Und ich war ihr ja auch von Herzen zugetan, aber trotzdem plagte mich der Teufel, daß ich ihr Possen spielte und Schikanen antat, wo immer sich nur Gelegenheit dazu bot.
Als ich nach den ersten Wochen durchgefüttert und warm im Nest war, stach mich der Übermut und ich wußte vor Wollust nicht, was ich beginnen sollte. Ich fing jetzt an, was ich freiwillig sonst nie getan – die Schule zu schwänzen und bummelte stundenlang an der Langenreihe und auf dem Zirkusplatz umher. Als ich es einmal vierzehn Tage hintereinander so getrieben, fälschte ich ein Entschuldigungsschreiben und dabei kam die Chose an den Tag. O, was war Tante Schlappkohl böse! Allerlei fürchterliche Strafen wurden mir angedroht. »Ich schlag dich tot, Deern!« Aber als ich anfing zu weinen,[30] war ihr Zorn plötzlich wie weggeblasen. »Na – denn tu's man nich wieder, du Nixnutz,« sagte sie beschwichtigend, und gleich danach erzählte sie etwas recht Spaßiges, worüber sie selber so furchtbar lachen mußte, und ich natürlich auch. Gott, was konnte die Frau lachen! So andauernd, so erschütternd kann wahrhaftig nur ein guter, harmloser Mensch lachen.
Übrigens hatte die Sache noch ein ungeahntes Nachspiel. Die Vormundschaftsbehörde, der meine lange Schwänzerei angezeigt war, richtete ein Schreiben an Mutter Schlappkohl, in welchem sie aufgefordert wurde, mich strenger zu beaufsichtigen, widrigenfalls ich einer anderen Pflegestelle überwiesen würde. Das hat sie entsetzlich gekränkt, und ich bekam noch eine Gratiszugabe von »Vermahnungen«, die ich leider aber abschüttelte wie die Gans das Wasser.
Ich übte viel Schabernack aus. Bald würzte ich der Alten die Kohlsuppe, die unbeaufsichtigt auf dem Feuer brodelte, mit einem Stich schwarzer Seife, bald tat ich Petroleum an die eingelegten Heringe, dann wieder goß ich dem Altgesellen Bernhard, der schon sieben Jahre bei Muttern Schlappkohl arbeitete und eine Art persona grata bei ihr vorstellte, Wasser ins Bett und dem Lehrjungen Öl in die Sonntagsstiefel, kurz, Tante Schlappkohl hatte ihre Not mit mir und von Dankbarkeit war meinerseits damals nicht viel zu besehen.
Aber ich gewöhnte mich bei alledem doch nach und nach an Ordnung, lernte manchen Handgriff im Haushalt und der Küche und stellte mich, wie meine Pflegemutter lobend anerkannte, recht geschickt und brauchbar an.
Wenn ich etwas ausgefressen hatte, bekam ich meinen Strafsermon, der jedesmal mit einer besonderen Verwarnung schloß: »– – und alles was ich dir geraten haben will, fang mich nich mit der Böttchern ihre Jule an.[31] Wenn der Galgenstrick dich erst in die Mache kriegte, wär's gar um dich geschehen. Daß ich dich nicht mit ihr zusammen seh! Ich tät dich dot schlagen mit dem Spannriemen, Deern –«
Ach, Muttern Schlappkohl ihre »Dotschlagerei« imponierte mir leider gar nicht, und die wohlgemeinte Warnung erreichte just das Gegenteil des gewollten Zwecks.
Was ging mich der Böttchern ihr Julchen an und was hätte sie, die fünf Jahre älter als ich war, mich interessiert, wenn ich nicht dermaßen mit der Nase drauf gestoßen wäre, daß es mit der Jule eine besondere Bewandtnis haben müsse. So spitzte ich die Ohren, wenn die Schlappkohln, die gern ein bißchen schwatzte und klatschte, abends beim Essen zu Bernhard Julens Namen erwähnte.
Jule war eine Waise und seit zwei Jahren bei ihrer Großmutter, der Feinwäscherin Böttcher nebenan. Ihr unverbesserlicher Leichtsinn, ihr Hang zur Herumtreiberei und Liederlichkeit gaben der Nachbarschaft einerseits ein Ärgernis und andrerseits willkommenen Stoff zu allerhand pikanten und sensationellen Klatschgeschichten.
Also alles was ich von der Jule ihren Abenteuern hörte, fachte den brennenden Wunsch in mir an, sie kennen zu lernen und mir ihr geneigtes Wohlwollen zu erwerben. Die Jule sah aus wie eine kleine Zigeunerin. Vielleicht war sie auch wirklich eine rasseechte Zigeunerin, denn ihre Mutter, der Böttchern Tochter, hatte sie sich irgendwo auf der Landstraße aufgeholt und kein Mensch wußte, wo der Vater zu suchen war. Die damals Sechzehnjährige war schlank und rank wie eine Gerte, hatte braunen Teint, schwarze lange krause Haare und ein paar glühende Teufelsaugen, in denen Angelhaken saßen, die sie rechts und links und voraus, wo sie ging und stand, ausschmiß und Liebhaber damit köderte.
Gar zu gerne wäre ich an Jule herangewesen, aber sie achtete nicht auf mich, obgleich ich für meine zwölf[32] Jahre reichlich stark entwickelt war und wie man sagte, ganz gut für eine Fünfzehnjährige gelten konnte.
Einmal gelang es mir aber doch mit ihr anzubandeln.
Eines Sonntags als ich allein zu Hause war – die Alte war nach Pinneberg zu ihrer Schwester und die Leute ausgegangen – und ich mich so entsetzlich langweilte, dachte ich sehnsuchtsvoll an die Tanznächte im Englischen Garten mit ihrem Patschuliduft und ihrem Licht und der Musik und dem sinnverwirrenden Durcheinander der tanzenden Paare. Vor elf kam die Schlappkohln nicht nach Hause – und die Sehnsucht und Ungeduld ward immer größer, so groß, daß ich um sieben Uhr fortging und um halb neun auf der kleinen Freiheit vorm Englischen Garten stand und mit gierigen Augen in den Eingang starrte. Der Portier, der mich kannte, wollte mich allein nicht herein lassen, aber ich kauerte mich neben der Tür und ließ neidisch die Mädchen und Männer vorüberpassieren. Plötzlich sprang ich wie elektrisiert auf. Ich hatte die Jule am Arm eines Herrn erkannt. Sie kannte mich auch vom Ansehen, und als ich sie bat, mich doch mit hinein zu nehmen, ich tät gerne ein Weilchen dem Tanz zugucken, lachte sie und zog mich mit sich. Und dann war ich drinnen, und die Stunden vergingen so schnell. Jule war sehr nett zu mir und ließ mich mit von der Limonade trinken, die ihr Kavalier für sie kommen ließ und nachher trank ich mit beiden Porter und Ale und wurde ein bißchen benebelt. Es war schon halb zwei als ich nach Hause kam. Mutter Schlappkohl war bereits so in Angst um mich gewesen, daß die zugedachte Strafrede sich in eine Flut freudiger Liebkosungen auflöste, als ich heimkehrte und ich mit meinen verlegenen Ausflüchten ganz gut durchkam.
Seitdem bestanden zwischen Julchen und mir geheime Beziehungen. Ich machte manchen Gang für sie, tat ihr[33] manche Gefälligkeit; ich wäre für sie durchs Feuer gegangen, und die Heimlichkeit unseres Verkehrs erhöhte die Süßigkeit der verbotenen Frucht – –
Gott, was haben wir für Fahrten zusammen gemacht. Einmal begegnete mir Jule auf dem Schulweg und beredete mich umzukehren, ihre Großmutter war ausgegangen. Und Jule zog mir einen Rock von sich und einen Regenmantel über und trug mir auf, einen Brief an einen Leutnant in der Königstraße zu tragen. Sie brauchte, wie sie sagte, nötig dreißig Mark und der Leutnant sollte mir das Geld gleich geben. Sie selbst wollte in der Nähe warten. Ich war dann auch sofort bereit und traf auch den Leutnant zu Hause. Der las den Brief, pfiff ein wenig durch die Zähne, murmelte etwas in den Bart und sagte, leider könne er mir die dreißig Märker nicht sofort geben, aber ich soll dem Fräulein Julchen einen schönen Gruß bestellen und sie soll im Café an der nächsten Ecke auf ihn warten, er werde in einer Stunde dahin kommen und das Geld bringen.
Da sind wir denn zusammen ins Café und haben gewartet und gewartet, und der Leutnant kam und kam nicht. Und aus purer Verzweiflung haben wir jede vier Tassen Schokolade und drei Melange getrunken und einen ganzen Aufsatz Kuchen leer gegessen, und da wir keinen Pfennig Geld zum Bezahlen in der Tasche hatten, wurde uns schon recht schwül zumute. Der Kellner guckte schon so verdächtig auf uns zwei »sittsame und trunkfeste« Kundinnen. Endlich gegen halb zwei kam der Leutnant und löste uns aus und gab Jule die zehn Taler, die sie nötig brauchte.
Zu Hause log ich einen ganzen Roman zusammen, um meine Verspätung zu entschuldigen, aber die Schwänzerei kam hinterher doch wieder heraus und trug meiner Pflegemutter eine neue Warnung ein.
Weiß der Kuckuck was die Jule an mir fand, aber[34] sie wollte mich nun immer mit haben. Und das führte dann eines schönen Abends zu der Katastrophe.
Da war ich nach neun – es war im Oktober und längst stockfinster – der Tante Schlappkohln auch durchgebrannt und mit Jule los, und zwar mit zu ihrem neuesten »Schatz«, einem Delikatessenhändler in der Palmaille. Bis zehn wanderten wir vor dem Laden auf und ab, punkt zehn wurde geschlossen und die jungen Leute entlassen. Als der letzte fort war, ließ Herr Mertens, so hieß der Mann, uns hinein. Und während Jule nun mit ihm in sein Privatzimmer ging, blieb ich im Laden. Herr Mertens kam noch mal wieder heraus und sagte, ich solle mir die Zeit nicht lang werden lassen und brachte mir eine Flasche Ungarwein und ein Glas, und ich soll nur trinken. Das hab ich denn auch so gut besorgt, daß kein Tropfen mehr in der Flasche drin blieb und ich sternhagel beschwipst war, als Jule etwas nach zwölf wieder auf der Bildfläche erschien. Ich hatte unterdessen, in dem dunklen Drang Tante Schlappkohln eine Freude zu machen, ein etwa vier Pfund schweres Stück Schweizerkäse und eine drei Viertel Meter lange Zervelatwurst unter meinen Seelenwärmer gerafft und so sind wir fort. Die Jule war auch nicht ganz sicher auf den Beinen, und wir waren beide so übermütig, daß wir sangen und allerhand Allotria trieben, und ich nahm die Zervelatwurst und schlug damit gegen die Fenster und irgendwo haute ich so fest zu, daß eine Scheibe zersprang. Wir wollten nun eiligst durchbrennen, aber ich stolperte dabei und ehe ich's mich versah, hatte mich ein Schutzmann am Schlafittchen, und als der die Wurst und das große Stück uneingepackten Käse entdeckte, glaubte er, wir hätten beides gestohlen und nahm uns mit zur Wache. Da wurde ein großes Protokoll aufgenommen, aber man schenkte uns keinen Glauben und sperrte uns die Nacht ein, und am andern Morgen wurde Tante Schlappkohl[35] und die Böttchern und der Delikatessenhändler vernommen, worauf wir dann frei kamen. Draußen auf der Straße gab es großen Krakehl zwischen der alten Schlappkohl und Großmutter Böttchern, weil Tante Schlappkohl laut Jule als die Urheberin all dieser Unannehmlichkeiten und als meine Verführerin bezichtigte. Das wollte die Böttchern nun wieder nicht gelten lassen, und die Polizei mußte sich erst einmischen, ehe die Weiber zur Ruhe kamen.
Leider wurde mein Abenteuer der Obervormundschaft gemeldet, und die Folge war der Beschluß, daß ich von Tante Schlappkohl weg und in eine andere Pflege kommen sollte.
* * *
Gestern, Sonntag, wo ich von sechs an frei hatte, war ich nach langer Zeit mal wieder in einem Tanzlokal. Mit der Ernestine von Niqué. Wir waren vor einem Jahr mal bei derselben Wirtin einlogiert und verkehren seitdem über lang mal zusammen. Eigentlich ist sie mir ein bißchen zu jung – kaum neunzehn – und etwas allzu fahrig und flatterig. Aber sie hatte mich schon lange gebeten, mal mit ihr zu gehen, und so nahm ich sie den Sonntag mit nach Weißensee zum Sternecker.
Ich kann mich in diesen Lokalen nicht mehr recht erwärmen. Das Milieu paßt mir nicht richtig oder vielmehr ich passe nicht mehr hinein. Ich liebe ein eleganteres Herrenpublikum, ich schwärme für gute Manieren, für feine Formen und elegantes Äußeres. Früher legte ich weniger Wert darauf, im Gegenteil haßte ich alles was auf Dandyhaftes hinauslief. Mein Geschmack hat sich in dieser Hinsicht geändert und geläutert, seitdem ich Roger Pachelle kennen lernte. Ach jeh – verstand der sich anzuziehn! Solchen Schick hat ja auch nur ein Franzose, – er war Lothringer, Metzer, aber das[36] läuft ja auf eins heraus. Die feinste rosarote oder mattblaue Wäsche, diese entzückenden Krawatten und Westen, die Anzüge alle auf Seide und die feinen, diskreten Parfüms – eine wahre Pracht.
Da draußen im Sternecker ist das Berlin O zu stark vorherrschend. Osten im Sonntagsgewand. Durch Patschuli und andere billige »Wohlgerücher« hindurch spürt man den Geruch des Schweißes, der dem Kontingent der Besucher Werktags anhaftet, womit ich nun nicht gesagt haben will, daß mich der »Duft der Arbeit« an sich abstößt; dazu bin ich doch eine zu gute Demokratin. Aber man gewöhnt sich gar zu leicht an allerhand Äußerlichkeiten.
Ich ging, wie gesagt, auch eigentlich nur Ernestinens wegen hin. Das Kind will auch mal 'n bißchen Pläsier haben, und da sie elternlos ist, hier keine Verwandten hat und noch ziemlich fremd in Berlin ist, halte ich es für meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie ein bißchen zu beaufsichtigen, daß sie nicht auf Abwege und in schlechte Hände gerät.
Sie ist Thüringerin, eine Bäckerstochter aus einem kleinen Waldnest. Ihre Eltern sind vor vier Jahren kurz nacheinander gestorben. Dann hat sie dies und das versucht, hatte mit ihren Stellungen als »Stütze« Pech und kam nach einem Jahr ganz fremd und naiv nach Berlin, um hier ihr Glück zu machen. Die Stellenvermittlerin hatte sie zu meiner Wirtin ins Logis geschickt, und da ist sie dann von Herodes zu Pilatus nach einer Stelle gelaufen, bis ich mich über sie erbarmte, und ihr durch meinen alten Bekannten Paul Ohlers, der ja die himmel-vielen Verbindungen hat, die Stelle bei Niqué am Würstelbüfett verschaffte. Sie hat unserer Empfehlung auch soweit keine Unehre gemacht und sich gut eingearbeitet. Hübsch ist sie nicht gerade, aber ein frisches, nettes Ding, 's wär schad' um sie, wenn sie ihrer Flatterhaftigkeit[37] und ihrer Einfalt zum Opfer fiele; deshalb bemuttere ich sie gern ein bißchen.
Sonntag wurde sie von einem jungen Menschen poussiert, der mir so was nach einem besseren Handlungsgehilfen in der Käse- und Heringsbranche aussah. Ich taxiere den Mann darauf, daß er meiner Kleinen keine große Gefahr bereitet.
Ich ließ sie also ruhig ziehen und dachte schon daran, mich bald abzumachen, als ich plötzlich von einem netten Menschen, der mir gleich auf den ersten Blick gefiel, zum Walzer aufgefordert wurde. Nach dem ersten Tanz stellte er sich mir vor und dann blieben wir den Abend zusammen. Max Ilscher heißt er und ist Werkführer in einer Metallgießerei in der Köpenickerstraße. Eben siebenunddreißig, blond, meine Größe, aber ziemlich untersetzt, schneidig aufgedrehter Schnurrbart, nicht gerade hochschick aber hübsch adrett und sorgfältig angezogen. Ganz mein Fall. Im Lauf des Abends bekam ich so ziemlich seine ganze Lebensgeschichte zu hören. Er ist schon seit vier Jahren Witwer, seine beiden Kinder sind bei Verwandten untergebracht, der Junge bei seiner Mutter und das Mädel bei einer Schwester seiner Frau. Er klagte nur, daß das Junggesellenleben ihm nicht sehr behage, aber zum Wiederheiraten könne er sich auch noch nicht entschließen. Ein eigener Haushalt koste eben, wenn er anständig geführt werden soll, ein Heidengeld und dann wisse man ja auch nicht, ob die zweite Frau, die er nach seinem Gust wähle, auch richtig für die Kinder passe. Beides lasse sich nicht immer vereinen. Heiratet er, so heiratet er in erster Linie für sich, nämlich eine Frau, und erst in zweiter Linie eine Mutter für die Kinder. – Wiederum aber hat er seine Kinderchen zu gern, um sie der Willkür einer lieblosen Frau preiszugeben. In diesem Fall, nämlich daß die zweite Frau nicht für die Kinder inkliniere, müssen diese eben bleiben,[38] wo sie sind, und da er der Mutter für den Jungen fünfundvierzig und der Schwägerin für das Mädel dreißig monatlich bezahle, bleibe nicht mehr genug für einen selbständigen Haushalt übrig. Ich machte den Einwurf, daß er ja doch eine Frau mit etwas Vermögen heiraten könnte, aber davon wollte er nun wieder nichts wissen. »Hat sie etwas, ist es gut. Aber drauf ausgehn – ne, Fräulein, das is nix für den Ilscher Max. Das gibt's nicht. Wenn ich schon heirate, heirate ich die Person und nicht 'n Geldsack ...«
Das gefiel mir alles so gut.
Wir sind dann bald weg und haben im Heidelberger zur Nacht gegessen und dabei hat er mir dann weiter sein Leid geklagt. Mit dem kleinen Mädel – es ist eben sechs Jahre – ist das so so. Die Tante ist nicht die richtige Erzieherin. Sie war früher Ärmelnäherin in einem Mäntelgeschäft und wird seit einigen Jahren von einem Tapetenfabrikanten ausgehalten. Noch ist die Kleine ja zu dumm und unschuldig, aber auf die Dauer wird sie dort manches sehen und hören was nicht sein soll. Und deshalb hätte er sie gern dort fort, aber wohin damit!! So nach außen hin ist das Kind ja prächtig aufgehoben, wird gut gepflegt und hübsch aufgemacht und in manchen Stücken sogar arg verpimpelt und verwöhnt, aber es ist doch nichts Solides, nichts was bleiben kann.
Wir verabredeten ein Zusammentreffen an meinem nächsten Freisonntag, also Sonntag über drei Wochen.
Ich muß sagen, daß ich selten an einer Bekanntschaft solche Freude hatte als an dieser.
Zum Heiraten verspüre ich keine große Lust. Lieber Himmel, wenn man sich die Ehen in unserem Stande so ansieht, muß man sich wirklich fragen, wie der Himmel aussieht, in dem die geschlossen sind. Übrigens ist es wohl in allen Ständen so ziemlich das selbe. Wenigstens[39] ist von den Ehen, in die ich hineingesehen habe, nicht viel zur Nachahmung Anreizendes zu berichten.
Ich hätte schon oft heiraten können, und hätte auch heute noch keinen Mangel an Standesamtskandidaten, wenn ich es jedem auf die Nase bände, daß ich rechtmäßige Inhaberin eines Sparkassenbuches über bar neuntausend Mark bin. Aber ich werd' mich schön hüten, davon zu sprechen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Mädchen in meiner Stellung und meinen Verhältnissen so happig aufs Heiraten sein können. Mein Gott, was kann einem die Ehe denn groß bieten. Geliebt wird man als Verhältnis jedenfalls mehr wie als Ehefrau. In der Ehe bekommt man totsicher von seinem Mann Hörner aufgesetzt, als Verhältnis lebt der Mann in steter Angst, daß man es ihm so macht, und ist folglich hübsch lieb und verträglich. Mein Auskommen finde ich durch meine Arbeit und kann noch darüber meine Zinsen hinlegen und auch sonst noch Ersparnisse machen. Und niemand hat mir was zu sagen. Wenn mein Geschäft mich frei gibt, bin ich eben wirklich frei, kann tun und lassen was ich will und wozu ich Lust hab.
Freilich, wenn man so recht von Herzen verliebt ist, zieht man das alles nicht in Erwägung, das weiß ich auch aus Erfahrung von anno dazumal in Metz, als Roger Pachelle und ich uns einig waren. Wir waren in einem Geschäft in Stellung, er als Manager im Hotel und ich als Kellnerin im Restaurant. Es sind schon sieben Jahre her, Gott, was die Zeit läuft ... Nein, war ich in den Burschen vernarrt! Auffressen hätt' ich 'n können vor lauter Lieb und für ihn mitarbeiten vom Morgen bis in die Nacht hinein.
Den hab' ich wirklich geliebt. Und wenn ich nun in Betracht ziehe, daß ich heute von Roger und meiner vergangenen Liebe rede, das heißt schreiben kann, ohne das geringste dabei zu empfinden, nicht einmal das leiseste[40] Bedauern, dann überkommt mich ein merkwürdig wehmütiges Empfinden, daß es doch eigentlich gar nicht so recht was Großes und Besonderes mit der vielbesungenen und gepriesenen Liebe ist, wie man meinen möchte. Die Liebe ist auch nichts anderes und nichts Haltbareres wie jeder andere hübsche Gegenstand, an dem man Freude hat. Sie ist zerbrechlich wie eine Porzellanfigur, sie ist nicht dauerhafter wie jedes Kleidungsstück, das im Gebrauch schleißt, wie eine Speise, die im Stehen verdirbt, sie ist der Gefahr des Zerbrechens und des Brüchigwerdens wie des Abschleißens und Versauerns genau so ausgesetzt wie jedes andere.
Wir verliebten uns am ersten Tage unseres Bekanntwerdens ineinander. Er hatte was so Liebes, Süßes, Anheimelndes. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Und er meinte es auch wirklich ehrlich mit mir, wir wollten uns wirklich heiraten.
Er hatte einige Tausend Mark Erspartes, und ich dito. Wir wollten uns im Sommer eine Konditorei oder ein kleines Café in Ostende pachten und sahen guten Muts in die Zukunft.
Spät abends, wenn alles im Hotel zur Ruhe war, kam Roger meist auf eine halbe Stunde in meine Kammer und dann sprachen wir von der Zukunft und bauten Luftschlösser ...
Das ganze Personal wußte um unsere Liebe und gönnte uns unser Glück, nur der dicke Portier, dem ich einmal einen soliden Nasenstüber verabfolgte, als er mich küssen wollte, war mir nicht gewogen, und suchte erst zwischen Roger und mir Stank zu machen, indem er mich bei Roger verredete. Als das nichts half und Roger ihn abschnauzte, verriet er uns bei Madame.
Sie war damals Anfang der Vierziger, ein üppiges, fesches Weib, die an ihrem sechzigjährigen, gichtbrüchigen[41] Eheherrn nicht mehr recht Genügen fand. Wenn sie hinter dem Büfett stand oder seidenrauschend durch die Restaurationsräume glitt, schossen ihre schwarzen Augen heiße, ziehende Blicke nach rechts und links, und ich wußte, daß sie auch meinen Roger wohlgefällig ansah, und daß er nichts riskierte, wenn er sich erkühnt hätte, mit Madame ein bißchen despektierlich zärtlich zu werden. Daß er gar nicht reagierte, hatte sie schon verschnupft und freudig ergriff sie Gelegenheit, sich dafür zu rächen ...
Also, kurz gesagt, sie überrumpelte uns eines Abends. Ich mußte aufmachen, und als sie Roger in meiner Kammer fand, lief sie blau an vor Wut und schrie, ich sei sofort entlassen. In aller Frühe sollte ich mein Gehalt für den Monat abheben bei der Kassiererin und vor acht Uhr aus dem Hause sein. Aber da kam sie schlecht bei Roger an. Mit einem Anstand wie ein Marquis stand er vor dem wütenden Weib, und wie er das sagte: »Sehr wohl, Madame. Indessen Mademoisselle Marie geht nicht allein. Ich betrachte mich auch als entlassen und werde morgen vor acht ebenfalls aus dem Hause sein. Sie werden die Kassiererin anweisen, mir auch meinen Gehalt für den Monat auszuzahlen, s'il vous plait.« – Es gefiel ihr aber ganz und gar nicht, Roger zu entlassen und morgens früh kriegte ich Bescheid, daß ich bleiben könnte, wenn ich mich bessern und in Zukunft Zucht und Sitte besser wahren wollte. Da die Stelle sonst recht gut war und Roger auch dafür stimmte, blieben wir. Hätten wir es nur nicht getan! Aber wer weiß, vielleicht war es doch gerade gut so, daß es so kam. Am Ende kommt doch alles so, wie es kommen muß.
Madamens Gatte wurde jeden Tag hinfälliger und impuissanter und im Januar bekam er einen Schlaganfall, der ihn lähmte, so daß er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Da hatte sie die Schlinge um den Arm und war nun allein Herr im Hause.[42]
Das erste, was sie anstellte, war, daß sie nun mit allen Mitteln darauf ausging, meinen Roger einzufangen. Mit Fußangeln und Leimruten und Ködern aller Art. Hübsch war sie ja auch, das mußte ihr der Neid lassen, aber doch auch vierzehn Jahre älter als Roger.
Zu mir spöttelte er immer über die Bemühungen der »alten Schachtel«, aber ich merkte doch mehr als einmal, daß er mit ihr kokettierte und ihr mehr zu Willen war, als er mit Rücksicht auf mich durfte.
Was soll ich noch lange darüber schreiben. Im April, also um die Zeit, wo wir heiraten und nach Ostende ziehen wollten, wurde mein Roger Teilhaber und Mitinhaber des Hotels. Madame hatte es durchgesetzt, daß ihr Geschäftsführer Roger Pachelle als Kompagnon eingetragen wurde.
Da gingen mir natürlich die Augen auf.
O, wie war ich unglücklich. Ich wollte es ihnen nicht zeigen, wie es mich schmerzte und demütigte, und ging tagsüber hoch aufgerichtet und trotzig umher und tat seelenvergnügt und unbefangen, aber nachts, wenn ich allein war, stopfte ich mir das Kopfkissen in den Mund um nicht laut aufzuschreien vor Schmerz und vor Qual und vor Wut, und ich hätte mich umgebracht, wenn nicht das wilde, sehnende Verlangen nach dem Geliebten wiederum eine so starke und stürmische Lebensbejahung in mir erzeugt hätte. Ich haßte ihn und liebte ihn gleichzeitig mit verdoppelter Leidenschaft. Denn Haß in eine große Liebe geschüttet, wirkt wie Pulver in Feuer, das kracht und sprengt und splittert, aber es löscht die Flamme nicht – – im Gegenteil – –
Es kam zu einer Aussprache zwischen uns. Er konnte nicht leugnen. Ich habe ihm böse Worte ins Gesicht geschleudert. Ich sagte ihm, daß er sich mit diesem Weibe prostituiere, daß er schlechter sei als eine gemeine Dirne. – O, ich bin nicht fein, wenn ich erzürnt bin – – –[43] Er wußte nichts darauf zu entgegnen, suchte mich zu beschwichtigen mit Zärtlichkeiten und Vorstellungen – – Ich hätte gehen müssen. Es war ein Leben täglicher Qual für mich. Ich kam dabei total herunter und sah aus wie ein Schatten. Und doch konnte ich mich nicht losreißen. Ich konnte nicht von Pachelle abfinden. »Seine Nähe war mein Leben«, wie es so schön in Romanen ausgedrückt heißt. Ich regte mich auf an seinem Anblick und an meinen eifersüchtigen Beobachtungen und stieß ihn doch zurück, sobald er sich mir näherte.
Ich sah, wie er sich Tag für Tag weiter von mir entfernte, und berauschte mich an der Pein, die mir diese traurige Konstatierung bereitete.
Im Anfang waren es wohl nur die äußeren Vorteile gewesen, die ihn bewogen, den Lockungen der Frau nachzugeben. Dann fesselte ihn ihre Eleganz, ihre üppigschöne Figur, ihre süßen, durchdringenden Parfüms, mit denen ihre Kleider durchtränkt waren, und schließlich ihr geistiges Übergewicht. Denn Madame war klug, o sehr klug, daß sie mich lächelnd um sich und neben Roger duldete. Ich merkte mit heimlichem Zähneknirschen, wie ihr Einfluß auf ihn von Tag zu Tag wuchs, wie er nur Augen für sie hatte, wie er eifersüchtig ihre Blicke, ihre Bewegungen kontrollierte, wenn sie mit anderen Herren kokettierte, und ich fühlte, daß ich ihm allmählich gleichgültig wurde. Und je mehr er sich mir entfremdete, desto freundlicher, nachsichtiger wurde Madame mit mir, obwohl mein obstinates Benehmen manchmal eher eine Entlassung Knall und Fall gerechtfertigt hätte. Es war die Güte und Sanftmut des innerlich triumphierenden Mitleids, das sie gegen mich herauskehrte, die Milde der Siegerin über die Besiegte.
Eines Tages setzte sie sich zu mir und redete mir freundlich, mit fast mütterlicher Miene zu, doch abzureisen, da es für mich doch nichts mehr zu erhoffen gäbe.[44]
»Die Männer sind so wankelmütig, liebes Kind,« sagte sie heuchlerisch, »man kann den besten von ihnen nicht von heute auf morgen trauen. Und Roger ist eben auch nur ein Mann. Gehen Sie! Ersparen Sie sich den Schmerz, ihn täglich aufs neue zu verlieren und ersparen Sie ihm die Gewissensnot stummer Vorwürfe, die ihm Ihr Anblick bereitet. Ich will Ihnen dreihundert Mark schenken. Ihrer enttäuschten Hoffnungen wegen –«
Da brauste der Zorn in mir auf. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich schlug sie ins Gesicht.
Und wenn sie mir zehntausend geboten hätte –
»Ich bin nicht feil, Madame, und ich verzichte auf feile Liebe,« schrie ich, »ich spucke auf den erbärmlichen Wicht, der sich von einer älteren Frau kaufen läßt, und auf das Geschöpf, das sich den Mann kauft. Ich pfeife auf Ihr Geld ... Ich ...« o, ich sagte ihr noch viel gröbere Dinge, und dann ging ich und packte meine Sachen und reiste am selben Abend ab ohne mein Monatsgehalt zu erheben. Den hab ich ihr zu ihrem Puppenjungen dreingegeben. Aber höllisch geschmerzt hat es ja doch und ich hab's in Jahr und Tag nicht überwunden. Das Jahr, das dann kam, war ein tolles, buntes. Ich wollte partout vergessen und wollte mich rächen an den Männern. Und ich bin von einem Arm in den andern gewandert – ach, ich mag mich nicht mehr daran erinnern. Schwamm drüber.
Allmählich hab ich's denn auch wirklich überwunden, und heute, wie gesagt, schlägt mir der Puls nicht mehr rascher darüber, aber so recht verliebt hab ich mich seitdem auch nicht mehr. –
Max Ilscher ist wieder ein ganz anderer Schlag; gar nicht zu vergleichen mit dem Windhund Pachelle; ein ernster, gesetzter und gefestigter Mann.
Wir haben uns über alles Erdenkliche unterhalten, sogar über Politik. Er ist Sozialdemokrat und Vorsitzender[45] einer Arbeitervereinigung. Aber wie überzeugend klingen seine Auseinandersetzungen, da ist nichts von wüster Schimpferei und Brambarisieren und Renommieren, das klingt alles so gehalten, so folgerichtig durchdacht, so gemäßigt und doch so selbstverständlich und natürlich, daß man ihm stundenlang zuhören könnte. Ich hoffe, wir werden uns befreunden. –
Vorgestern nachmittag war mein »Schwiegersohn«, der famose Herr Heinrichs im Café. Triumphierend erzählte er mir, daß er nun »ganz sicher und bestimmt« zu dem Entschluß gekommen sei, meinem Rat zu folgen, und ob ich nicht nächster Tage mal mit ihm auf die Wohnungssuche ginge. Da mir die Chose Spaß macht, habe ich zugesagt für nächsten Mittwoch, wo ich bis sechs frei bin.
Die kleine Ernestine schreibt mir heute, daß sie seit Sonntag selig sei. Ihr Schatz ist in einer Seifensiederei zweiter Buchhalter und sie ist durchaus mit sich im Klaren: den oder keinen. Mit der Heirat läge es natürlich noch weit im Felde, usw ....
Na, meinen Segen haben sie.
* * *
Von meiner Jugend will ich weiter erzählen. Also kein Bitten und Flehen, keine Versprechungen und Vorstellungen beim Waisenrat halfen. Ich wurde der guten Tante Schlappkohl weggenommen und kam in die Zucht eines christlichen Hauses zu »braven, besonnenen, guten, achtbaren Leuten«, dem lahmen Kirchendiener Veit und seiner ehrsamen Ehefrau Jakobine, ihres Zeichens Spitzenstopferin und Gardinenspannerin.
Es war ein schmerzlicher Abschied. Tante Schlappkohl konnte sich gar nicht beruhigen; sie schluchzte laut und wollte mich gar nicht loslassen. Was mich selber[46] anbelangte, so kam es mir auch zum erstenmal recht deutlich zum Bewußtsein, was ich mir in meinem kindischen Leichtsinn verscherzt hatte; ich fühlte deutlich, daß ich es nie wieder so gut haben würde als in dem Heim und unter dem Schutze dieser braven Schusterswitwe. Leider kam diese Einsicht zu spät. Das einzige, was mich tröstete, war Tantens Versicherung, daß ihr Haus nach wie vor mein Anhalt und mein Heim bleiben werde, und daß ich sie oft besuchen dürfte. Ihre Güte und mütterliche Fürsorge erstreckte sich sogar auch auf meinen Bruder Thed, der die meisten freien Sonntagnachmittage im Schlappkohlschen Hause zubrachte.
Es war ein sehr gewaltiger Unterschied zwischen meiner gewesenen und meiner jetzigen »Pension«.
Der Kirchendiener Veit hinkte und hatte einen steifen Arm. Seine Frau sah auch immer aus, als ob sie eine Million Schwindsuchtstuberkeln im Leibe hätte. Seine Verkrüppelung und ihr mieses Aussehen waren beiden Geschäftskapital, aus dem sie nicht zu knapp Zinsen schlugen. Denn in Wirklichkeit waren beide kerngesund, sie aßen wie Drescher und ließen sich nichts abgehen. Sie verstanden beide aus dem Grunde die traurige aber nahrhafte Kunst, Mitleid für sich zu wecken.
Alles was recht ist – sie verstand auch ihr Handwerk. Ihre Spitzenstopfereien waren manchmal kleine Kunstwerke. Aber dafür wurde ihre Arbeit auch gut bezahlt und sie übernahm sich nicht dabei ... Sobald aber eine gutherzige und zahlungsfähige Dame zu ihr kam, ging das Geseires los, was sie alles durchgemacht hatte und noch durchmachte. »– – mein Kummertuch war groß, liebe gnädige Frau – – o, mein Kummertuch war groß – –!« Und dann die wehleidige Miene, die den Vortrag begleitete, die erstickte Stimme, die Tränen – – o, es war das reine Theater. Und Bettelbriefe verstand die zu schreiben – an der war wirklich eine Schriftstellerin[47] verloren gegangen. Die ganze heilige Familie, Vater, Mutter und Tochter, rutschten die ganzen Sonntage in der Kirche umher und liefen obendrein noch ein paarmal wöchentlich abends ins Pastorat zur Bibelstunde. Natürlich rentierte sich eine dermaßen gottgefällige Lebensweise, und Veits standen beim Pastor und allen frommen Leuten angeschrieben. »Die armen, braven Veits,« hieß es allgemein, »man muß diese guten, rechtschaffenen, schwergeprüften Leute taktvoll unterstützen –«
Sie machten ihre Sache wirklich fein, die Veits, sie bettelten nie direkt, ja sie sperrten sich sogar gegen die Annahme von Geschenken und nahmen sie doch – – o so gerne. Das wirkte eben doppelt, steigerte die Ehrfurcht vor ihrem Schicksal, erweckte erst recht den Drang nach Betätigung christlicher Nächstenliebe.
Man wetteiferte darin, den armen, frommen Leuten unter die Arme zu greifen, sei es im angenehmen Kitzel kleiner, Freundschaft erhaltender Geschenke oder als kräftige Existenzstütze. Hier schickte ihnen einer die Winterfeuerung franko zum Keller, da bekamen sie auf Fürrede eines Gönners von einem begüterten Landmann die Winterkartoffeln und das Gemüse zum Einlegen geschenkt, eine Vereinigung von guten Freunden gab ihnen die Miete, – nicht zu reden von den vielen Stärkungsmitteln wie Wein, Fleisch und sonstigen guten Sachen, die ihnen ins Haus regneten, und die sie mit allem Behagen verfutterten.
Die Tochter hatte die blasse Gesichtsfarbe der Mutter und war angeblich auch »schwach auf der Brust«, sie ging tagsüber in ein Weißwarengeschäft.
Dabei lebten die Äser wie Gott in Frankreich. Zum Beispiel abends saßen die drei bei Schinken, Käse, Schmoraal und Gott weiß was für Guts, während ich am anderen Ende des Tisches abgesondert für mich hockte und meine drei Finger dicken Schmalzstullen hinunterwürgte. Bei[48] den Mahlzeiten wurde immer fürsorglich die Kette vor die Türe gelegt, kam dann jemand und klingelte, wurden heida hopp die guten Sachen abgeräumt und in den Schrank verschlossen, und der Hinzukommende fand nur ein kärgliches Mahl, nämlich eine Schüssel Wurstschmalz und ein Schwarzbrot auf dem Tisch. So blieb das Prestige der Armut wenigstens gewahrt. –
Unser Herrgott hat wirklich allerhand Kostgänger. Die einen machen sich immer so klein als möglich, drücken sich, stellen sich ärmer und jämmerlicher an als sie sind; die anderen dagegen protzen sich auf, wollen höher hinaus als sie können, renommieren und stellen alles an, sich das Air der Vornehmheit und der Wohlhabenheit zu geben.
Die Veits hatten etwas von beiden an sich. Besser gestellten Leuten gegenüber spielten sie die Armen, Bemitleidenswerten, der Barmherzigkeit Bedürftigen heraus. Aber wenn sie mit ihresgleichen zusammen waren, blähten sie sich auf und taten Gott weiß wie wichtig.
Die Leute, mit denen sie verkehrten, Subalternbeamte, Handwerker, kleine Geschäftsleute, wohnten alle weit draußen in St. Georg und wohl niemand von ihnen ahnte, aus welcher Quelle die Geldmittel der Veits stammten. Von Zeit zu Zeit gaben sie hinter verschlossenen Türen und fest zugeriegelten Fensterläden eine Fete, bei der nichts anbrannte; da gab es große Kalbs- und Rinderbraten und zehnerlei Kompott, Schweizerkäse und Früchte zum Nachtisch und mächtige Terrinen voll Punsch mit Pfannkuchen. Sie waren in mehreren Klubs und Vereinen, in einem Skat- und Pochklub, im Verein der starken Brüder, im Gesangverein »Einigkeit« und in einem Familienkränzchen. Wenn sie abends zu den Festlichkeiten gingen, Vater Veit im Bratenrock, das eiserne Kreuz im Knopfloch, Mutter Veit im schwarzseidenen Damastkleid mit langer goldener Uhrkette, und Fräulein Henny aufgedonnert[49] wie ein Pfau, sah ihnen wahrhaftig niemand die armen, demütigen Almosenempfänger an.
Ich haßte diese Menschen wie die Pest und die Cholera.
Sie nützten mich auf die schamloseste Weise aus. Ich mußte sämtliche Hausarbeiten tun, alle Botengänge machen, wurde den ganzen Tag bald hier, bald dorthin gehetzt, wurde mit drakonischer Strenge beaufsichtigt und behandelt, und erhielt kaum satt zu essen.
Ich hab von Haus aus und Kind an eine Menge Fehler und Laster an mir, aber ein Gutes ist mir sozusagen angeboren: ich hab nie heucheln und mich verstellen können. So jung ich damals noch war – die Komödie widerte mich an, ich mochte nicht mitmachen.
Wenn ich damals nicht einen Rückhalt an Tante Schlappkohln gehabt hätte, wer weiß was aus mir geworden wäre. Die brave Frau war im buchstäblichen Sinn mein guter Engel. Zum Glück wohnten Veits nicht allzu entfernt von ihr. Obgleich sie mir jede Minute nachrechneten, brachte ich es oft doch noch fertig, auf einen Sprung hinzukommen und in aller Eile ein paar Wurstoder Käsestullen bei ihr zu vertilgen. Sonntags nachmittags, wo die Veits mich gern los waren, war ich immer bei Tante Schlappkohl. Wenn ich ihr dann mein Herz ausschüttete und mein Leid klagte, redete sie immer zum Guten, und in ihrer mütterlichen, treuherzigen Manier brachte sie mich immer zur Ruhe. Von ihr lernte ich Recht und Unrecht, Gut und Böse in meinem Denken und Tun trennen und unterscheiden. Sie lehrte mich in ihrer einfältigen Art das Rechte lieben.
Mit Jule kam ich nicht mehr zusammen. Ich wurde tagsüber so müde gehetzt, daß ich kein Verlangen mehr nach Abwechslung und Zerstreuung verspürte.
Eines Abends sollten Veits wieder zu einem Ball in der Einigkeit.[50]
Fräulein Henny (wie ich sie nennen mußte) quarkte ihrer Mutter die Ohren voll, daß ihr noch dies und jenes zur Toilette fehlte. Ein Paar lange seidene Handschuhe und ein paar Blumen und ein Paar anständige Tanzschuhe. Nun war kein Geld im Hause und Vater Veit konnte doch auch nicht mit leerem Portemonnaie die Seinen auf den Ball führen. Da kommen sie überein, daß die Mutter einen Brief an Fräulein Lewandowsky schreiben und sie bitten soll, ihr zwanzig Mark (natürlich auf Nimmerwiedersehn) zu pumpen. Fräulein L. war eine reiche, wohlhabende Dame, die, wenn sie gab, dies mit vollen Händen tat, die aber andrerseits dafür bekannt war, daß sie sich ihre Schützlinge erst genau ansah. Ich wußte das alles, da Veits sich vor mir nicht genierten und alles in meinem Beisein durchkohlten.
Also der Brief wurde abgefaßt und vorgelesen; es war wirklich herzzerbrechend wie Mutter Veit ihre trostlose Lage schilderte. Seit drei Wochen kein Fleisch im Topf, der Bäcker borgt kein Brot mehr, und der Milchmann keine Milch, man bekommt kein Arbeitsmaterial ohne Bargeld – kurz Not und Hunger und Elend an allen Enden – –.
Ich biß die Zähne aufeinander vor Wut, so ärgerte mich diese gemeine Lügerei und am liebsten hätte ich den Wisch unterwegs in den Rinnstein geschmissen. Dabei war ich instruiert, auf alle Fragen im Sinne des Briefinhalts zu antworten. Wie ich nun zu der Lewandowsky komme, liest sie den Brief, sieht mich dann scharf an und sagt:
»Also Ihr habt in drei Wochen kein Fleisch auf dem Tisch gehabt?«
Ich wurde glühend rot, aber plötzlich fährt der Teufel in mich hinein und ich antworte (der Wahrheit gemäß) keck: »Was mich anbelangt, so habe ich wohl seit Sonntag kein Fleisch auf dem Teller gehabt. Aber Veits[51] hatten gestern Beefsteaks zum Mittag und heute Schellfische.«
»So,« sagte sie. »Aber deine Pflegemutter schreibt mir doch, daß sie zwanzig Mark gebraucht, weil Ihr nichts zu essen habt und Euch niemand etwas borgt.«
»Ich weiß nicht, aber es ist möglich, daß Henny keine Tanzschuhe und keine langen Handschuhe auf Pump kriegt,« sagte ich.
Sie sieht mich groß an. »Tanzschuhe und Handschuhe? Wie kommst du darauf?«
»Nun deswegen, weil sie doch heute abend zum Ball müssen und die Sachen gebrauchen – –«
Das Fräulein überlegte ein Weilchen, dann sagte sie, ich soll gehen und bestellen, sie käme am Abend oder am andern Tag selber.
Na, da war guter Rat teuer als ich die Botschaft brachte. Die Weiber flogen wie Stoßvögel auf mich zu und schüttelten mich von zwei Seiten, daß mir der Atem versagte. »Was hat sie gesagt? Was hast du gesagt? Hab ich dir nicht gesagt, daß du das Geld mitbringen sollst, infame Göre?«
»Sie hat gesagt, ob wir richtig nichts mehr auf Pump kriegten, und da habe ich gesagt, daß Fräulein Henny wirklich keine Tanzschuhe geborgt kriegt und daß Ihr nicht heute abend in die Einigkeit gehen könnt, wenn ich das Geld nicht mitbringe –« Ich weiß heute selber nicht mehr, wie ich den Mut zu dieser unerhörten Frechheit nahm. Ich glaube, meine Schadenfreude drängte momentan alle anderen Gefühle zurück, selbst die Furcht vor den Folgen, vor allem jede überlegende Klugheit.
Ein fürchterlicher Stockhieb über die rechte Schulter rüttelte mich wach und brachte mir meine dumme Unvorsichtigkeit zum Bewußtsein, – das mir aber bald wieder unterging in den hageldichten Schlägen, die von Veits armdickem Knüppel auf mich niederprasselten, während[52] die Frauenzimmer nach mir mit Füßen traten und mich bespuckten und mit ihrem Wutgeheul meine Schmerzensschreie übertönten. Viele Jahre sind seitdem vergangen, aber noch heute zittere ich in der Erinnerung an jene grausige Exekution, in deren Verlauf ich ohnmächtig wurde, und erst wieder zur Besinnung kam, als sie mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzten. Nämlich eine Dame war zufällig gekommen und hatte den schrecklichen Strafvollzug unterbrochen, sonst hätte der Kerl mich totgeschlagen.
Als ich aufwachte, hörte ich sagen: »Aber Veit ... Ich begreife gar nicht! ... Sie – sonst ein ruhiger, besonnener, religiöser Mensch – – wie können Sie sich hinreißen lassen, das Kind so barbarisch zu züchtigen?«
Da wischte er sich den Schweiß von der Stirn und seufzte: »Gnädige Frau haben recht ... Ich kannte mich selbst nicht vor Zorn über dieses elende Geschöpf. Da nimmt man nun solch ein Wesen, um des Heilands willen, in sein Haus und an sein Herz, teilt sein armes bißchen Brot mit ihm, gibt sich alle erdenkliche Mühe, es dem Herrn zuzuführen und ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft aus ihm zu machen, und sieht sich zum Dank dafür von solcher Kreatur schmählich verleumdet und hintergangen – – – An diesem durch und durch verkommenen Geschöpf ist ja Hopfen und Malz verloren – –«
Und dann wurde die Geschichte mit der L. erzählt. In bitterster Not habe man mich hingeschickt, um ein Darlehen zu erbitten und ich – ich hätte die Gelegenheit benutzt, meine Wohltäter zu verleumden, ein abscheuliches Märchen frei zu erfinden usw.
»Ja, da kann ich Ihren Zorn allerdings verstehen, und das Mädel verdiente tatsächlich eine exemplarische Strafe. Aber man darf den Zorn nicht mit sich durchgehen lassen, lieber Veit – –«[53]
Damit hatte die Sache ihr Bewenden.
Als die Lewandowsky am Abend kam, fand sie die ganze brave Familie mit vergrämten Gesichtern, bleich wie das Leiden Christi am Tisch versammelt, die Frauen bei ihrer mühevollen Spitzenstopferei, Veit in der Hauspostille lesend ...
Na, und dann ging's wieder los, das Lamento über meine Schlechtigkeit und Verlogenheit, und was für 'n Verdruß sie schon an mir gehabt hätten und daß ich die ganze Geschichte vom Kränzchen aus den Fingern gesogen und mich noch damit gebrüstet hätte –, ihr – der L. – einen tüchtigen Bären aufgebunden zu haben usw. und mitten in seiner Rede reißt Veit die Tür zu meinem Verschlag auf und schreit: »Antworte Mädchen: hast du dem gnädigen Fräulein was vorgelogen oder nicht?«
Und ich – – Kinder, ich war damals dreizehn Jahre alt, und ich lag da, matt, wund, zerschunden, unfähig mich vor Schmerzen zu bewegen, mit aufgeschwollenen Gliedern und verbeultem blutrünstigem Kopf – heute möchte ich mich noch prügeln dafür – aber ich war feige. Ich hörte aus seinem Anschrei wieder die Drohung und fühlte nochmals die fürchterlichen Stockhiebe, daß mir die Funken vor Augen sprühten, und – – strafte mich selber Lügen.
»Ja –« sagte ich leise und steckte den Kopf in die Kissen. Da war die Sache denn entschieden, Fräulein Lewandowsky bekam noch eine fürchterliche Biographie von mir zu hören, und das Ende vom Liede war, daß die Dame in die Tasche stieg und statt einem Doppelfuchs davon zwei auf den Tisch des Hauses niederlegte.
Von da an aber begann für mich eine Passion ohnegleichen. Hunger und Prügel standen als ewig wiederkehrende Nummern auf meinem täglichen Programm. Einmal versuchte Tante Schlappkohl für mich einzutreten[54] und die Veits zur Räson zu bringen. Aber der Alte schmiß sie hinaus und bei Armenpfleger und Waisenrat fand sie kein Gehör. Die Erkundigungen fielen alle glänzend zu Veits Gunsten aus ... Eine brave, gottesfürchtige, makellose Familie einerseits, – andrerseits ein offenbar schlecht veranlagtes, zur Lügenhaftigkeit und zur Leichtfertigkeit neigendes Kind und eine einfache alte Frau, der man dieses selbe Kind wegen Mangels an genügender Aufsicht und richtiger Leitung weggenommen hatte, die also nicht als unbefangene Partei gelten konnte ... Da war es ja selbstverständlich, daß die Wage sich zu Veits Gunsten neigte und Tante Schlappkohl mit ihrer gutgemeinten Fürsprache abblitzte.
Wenn ich die alte Schlappkohln nicht gehabt hätte, wäre ich bei den Veits zur Verbrecherin herangebildet Das ist der Fluch der Fürsorgeerziehung, daß sie nur nach der Schablone arbeitet und nie individuell. Welche finsteren Gedanken und Rachepläne wälzten sich oft durch mein Gehirn, wenn ich ungerecht geschlagen wurde und hungrig zu Bett mußte. Es war so viel Gerechtigkeitsgefühl in mir, daß ich mir selber sagte: du hattest vielleicht etwas schuld an der schrecklichen Mißhandlung damals. Denn ich mußte vor mir selber zugeben, daß es weniger der elementare Drang zur Wahrhaftigkeit als die Schadenfreude und der Wunsch, Veits einen auszuwischen, war, der mich damals bei der Lewandowsky leitete. Und deshalb nahm ich mich zusammen und suchte mir durch Fleiß, Gehorsam, Arbeitswilligkeit und Freundlichkeit die Zufriedenheit meiner Peiniger zu erwerben. Aber es half alles nichts, ich bekam nach wie vor nichts als Schimpfworte zu hören, und die Beulen und blauen Stellen schwanden nicht mehr von meinem Körper.
Ich habe oft später, wenn ich Zeit hatte, darüber nachgedacht: Was wäre aus mir geworden, wenn ich nun diese einzige Stütze nicht hinter mir gehabt hätte, wenn[55] mich die gute alte Frau nicht immer mit der Beruhigung, daß doch alles mal ein Ende nähme usw. getröstet hätte ...? Wenn sich der furchtbare Groll und der grenzenlose Haß wie ein fürchterlicher Explosionsstoff in mir aufgespeichert hätten und die Lunte wäre eines Tages hineingefallen – – Ist ein Kind, das eines geringfügigen Versehens wegen abends hungrig zu Bett geschickt wird und morgens ohne Frühstück in die Schule muß, das halb tot vor Hunger mittags nach Hause kommend, dann noch stundenlang mit Kommissionen umhergehetzt wird bis es schließlich zusammenbricht, um dann noch mit Ohrfeigen wegen »Trotz« regaliert zu werden – ich frage, ist ein solches Kind noch als ein bewußt handelndes und für sein Tun verantwortliches menschliches Wesen zu betrachten? Wie, wenn ich in solcher Verfassung hingegangen wäre und hätte meinen Quälgeistern Phosphor in den Kaffee getan oder ihnen das Haus über dem Kopf in Brand gesteckt, hätte man mich deswegen als »Verbrecherin« verurteilen können? Der mütterliche Zuspruch meiner alten Freundin verhütete das Äußerste, sonst – –
In den letzten zehn Jahren ist ja wohl vieles in der Waisenpflege reformiert worden. Man soll sich im Ganzen mehr um die Haltekinder bekümmern als früher. Aber soviel ich beobachtet habe, geht doch in der Hauptsache noch alles nach Schema F. Noch heute würde man kaum einem Kinde seine Leidensgeschichte glauben, wenn die Pflegeeltern sogenannte »brave, einwandfreie« Leute sind und diese das Kind Lügen strafen.
Ich sann damals Tag für Tag auf Rache. Und eines Tages – vier Monate nach jenem Tanz – schrieb ich in der Schule einen Brief an Fräulein Lewandowsky, in dem ich ihr auseinandersetzte, daß alles Wahrheit gewesen, was ich ihr gesagt, und wenn sie sich überzeugen wolle, wie es bei Veits zugehe, soll sie nächsten Sonntag abend[56] zwischen 10 und 11 mal rankommen. Dann war nämlich Hennys Geburtstag, der gefeiert werden sollte.
Ich wußte ja: kommt es heraus, verrät die Lewandowsky mich, dann kann ich nur ins Wasser gehen. Darauf war ich gefaßt. Ich machte zwei schreckliche Tage durch, aber es geschah nichts; die L. ließ nichts von sich hören. Dann kam der Sonntag und Hennys große Gesellschaft, etwa zwölf Personen, junge Mädchen und Burschen, und es gab Schnitzel mit Blumenkohl zum Nachtessen und später starke Rumgrogs und Kuchen die Masse. Der Grog wurde in großen Tulpen serviert, deren Inhalt zu drei Viertel aus heißem Rum bestand. Als sie einige davon intus hatten, wurden sie sehr animiert und noch nach einigen weiteren waren sie alle sternhagelvoll besoffen. Die Wohnungstür war wohlweislich verriegelt worden, aber ich hatte sie heimlich wieder aufgeschlossen, und um halb elf, mitten im wüstesten Radau, geht sie auf, und Fräulein Lewandowsky, zu deren Eigenschaften auch wohl ein bißchen Neugier gehörte, tritt herein. Mit einemmal steht sie auf der Schwelle der Stubentür und übersieht sich das Bild, dessen Anblick für feine Nerven nun gerade keinen ästhetischen Hochgenuß bedeutete.
»Ei, ei ... Hier läßt man sich's ja gut gehen,« sagte sie gedehnt. Und die trunkene Gesellschaft johlte und gröhlte sie an: »Prost alte Tante! Wohlsein, Sie Olle – –«
Ich stand an der Wohnungstür und zitterte. Da kam Veit aus der Küche und streifte mich mit einem fürchterlichen Blick und nun wußte ich: er durchschaut alles und ich kann nur einpacken. Und da bin ich durch und in die Nacht hinaus und wie wild durch die Straßen gerannt, bis an den Wallgraben, aber wie ich davor stand, kam mir das Grauen vor dem kalten Tod im Wasser und ich bin wieder fort und zurück nach Tante Schlappkohls Haus, um sie zu wecken und zu bitten mich zu verstecken.[57]
Aber es war keine leichte Sache, die alte Frau, die müde von ihrer Tagesarbeit fest schlief, aufzuwecken und wie ich noch an der Tür rüttele, tippt mich jemand von hinten auf die Schulter, und als ich mich umsah, ist es Jule. »Nanu!« sagt sie »wo kommst du denn her, Mie?« Ich erzählte ihr alles. »Ach wo,« sagt sie leichtsinnig, »dadrum versauf dich man nich gleich. Die olle Schlappkohln wird schon 'n Schlupfwinkel für dich aufspürn. Aber jetzt weckst du die doch nich auf. Komm man noch 'n bißchen mit spazieren. Vielleicht finden wir noch 'n Schatz unterwegs, der uns 'n Buddel Wein spendiert ...« Und damit hatte sie mich auch schon untergefaßt und zog mich mit sich ...
Und so bin ich denn in meiner Dummheit die Nacht mit der Jule auf den Strich gegangen. Mit der letzten Pferdebahn sind wir bis zum Neuen Wall gefahren und von da die Arkaden hinauf und den Jungfernstieg entlang, und jedesmal, wenn uns ein gut gekleideter Herr entgegenkam, rempelte die Jule ihn an, aber die meisten gingen vorüber, ohne auf uns zu achten, bis endlich einer kam, der sich mit uns in ein Gespräch einließ: Was die Jule denn eigentlich wolle und was wir um 1 Uhr nachts auf der Straße täten. »Uns 'n Freier suchen,« sagte Jule keck, »aber einen der Moneten hat, denn umsonst ist nischt –«
»Hm –« sagt er und auf einmal hat er Jule rechts und mich links am Schlafittchen und pfeift, denn es war ein Kriminal, und Jule schrie laut auf vor Schreck, ich riß mich aber los, und in meiner Angst und verfolgt von einem Schutzmann, der auf den Pfiff herbeikam, stürzte ich weg und blindlings weiter. Ich weiß nicht, was ich wollte und dachte, ein eisiges Entsetzen erfüllte meine Seele, umdüsterte mein Bewußtsein, so bin ich wie von Furien gehetzt weiter und gerade hinein in die Alster. –
*
[58]
Also gestern ging's denn wirklich los mit meinem Schwiegersohn à la Haby. Er holte mich ab ... schneidig, ganz hellgrau mit gelben Stiefeln und ein paar schönen langstieligen Rosen. Dann sind wir zusammen nach Friedenau, in dem neuen Schöneberger Stadtteil und haben dort in einem neuen Haus, das noch nicht ganz fertig ist, eine kleine herzige Wohnung gemietet. Reizend, drei Zimmer, alle nach vorn hinaus, alle mit Parkettböden und sehr hübsch ausgestattet und eine entzückende Küche, die Aussicht auf den Bahnkörper, also ganz frei ohne vis-a-vis, ein allerliebstes Puppenheim und man braucht gar nicht viel Phantasie, um sich ein junges, glückliches Ehepaar hineinzudenken.
Ich muß gestehen: wie ich da oben stand und ein Weilchen aus dem Fenster schaute, kam mir ein ganz eigenartiges Gefühl ins Herz geflogen, so etwas wie die Sehnsucht nach einem stillen friedlichen Glück, wie das, was sich hier eventuell einnisten könnte, wenn zwei stille, gute, verträgliche, anspruchslose Menschen zusammenkämen. Hübsch muß es ja sein, einen solchen neuen kleinen Haushalt immer blitzblank und sauber wie ein richtiges Puppenheim zu halten, vormittags Putzen und Kochen, nachmittags, wenn der Mann fort ist, mit einer Handarbeit am Fenster oder im Sommer auf dem Balkon sitzen und hinausschauen und ein bißchen spintisieren, und abends sich schlafen legen können, wenn man Lust hat. O ja. O ja ... Und ich mußte unwillkürlich an Max Ilscher denken, den netten Kerl, der mir ordentlich im Kopf herumspuckt ... Es wär wirklich hübsch, solche Frauen haben doch einiges voraus vor unsereinem. Einiges – aber im ganzen möchte ich ja doch nicht mit ihnen tauschen. Ich bin eben nicht in dieser kleinen Welt im Winkel zu Hause. Es ist wahr, ich muß es mir sauer werden lassen und bin oft hundemüde, aber andrerseits versauert solch ein kleines[59] Bähschaf von Hausfrau neben ihrem Mann und in ihrer Puppenwelt meistens. Wir selbständigen Frauen wissen doch, daß wir leben. Wenn man Augen im Kopf hat, kann man hinterm Büfett interessante Beobachtungen machen. Romane könnte ich schreiben und alles »aus dem Leben«. Was sieht und hört man da nicht alles, wie vielerlei Menschen gehen aus und ein und ein und aus, und von wie mancherlei wunderlichen Schicksalen kriegt man da zu hören. Ich denke manchmal, es ist wie in einem Panorama und man sitzt wie vor dem Guckloch eines solchen, und sieht die vielen Menschlein mit ihren kleinen und großen Leiden und Freuden vorüberziehen und nimmt ein Weilchen Teil an ihnen, bis sie einem aus den Augen entschwinden.
O, ich arbeite gern, und es ist ein angenehmes Gefühl, so ganz unabhängig zu sein, aber manchmal kommen einem doch elegische Anwandlungen. Man ist doch immer so allein und im Grunde recht verlassen. Trotz der vielen Liebschaften meiner Vergangenheit weiß ich gar nicht wie einem Menschen zumute ist, der etwas Eigenes, Liebes besitzt, einen Anverwandten, einen, der ganz zu ihm gehört, der mit ihm alle seine Interessen teilt.
Gott sei Dank neige ich nicht zur Sentimentalität. Der Mann mit dem Haby-Schnurrbart könnte mich nicht als Schicksalskollege für Lebensdauer reizen. Das ist ein wunderlicher Herrgottspensionär. Das heißt, eigentlich ist nichts Absonderliches an ihm, er ist im Gegenteil eine ganz gewöhnliche Durchschnittsnatur, eine kleine, gute, etwas ängstliche Seele. Seine sogenannten Ideale kommen mir vor wie Galanteriewaren, Nippes, billige Nachahmungen aus wertlosem Material, wie sich die kleinen Leute sie stolz auf ihre Vertikows und Kommoden in der guten Stube pflanzen und sich dann ungeheuer viel auf ihren künstlerischen Geschmack einbilden.
Mein Herr Heinrichs ist nicht zu knapp eitel auf[60] seinen Pseudoidealismus, und wer es versteht ihn zu nehmen, das heißt ihm Brei um den Bart zu streichen, und seine »Mannhaftigkeit« und seinen »Idealismus« zu preisen, der ist bei ihm heraus und kann ihn um die Finger wickeln, und deshalb ist es sehr gefährlich für ihn, wenn er in schlechte Hände gerät. Ich bilde mir ein, daß er bei mir an die rechte Stelle gekommen ist. Eine Person wie die bucklige alte Schachtel hetzt ihn natürlich nur gegen seine Frau auf, das ist klar. Ich schmeichle ihm nicht, aber ich stachele seinen Ehrgeiz auf. Nächstens will er mal seine Frau mit ins Café bringen, da werd ich sie mir mal ansehen, und wenn sie mir gefällt, will ich mal schauen, ob ich die Sache mit den beiden nicht ins Lot bringe.
Die Angst vor der Schwiegermama muß er sich natürlich abgewöhnen, das ist ja widerwärtig. Momentan ist er ganz Feuer und Fett und freut sich auf den Umzugstag. Wir tranken noch ein Glas Bier im Pschorr, wobei ich noch einmal seine ganze Passion zu hören bekam. Dann mußte ich fort und wieder ins Geschirr. Am Abend war er noch eine Stunde im Café, das Herz war ihm so voll von der neuen Wohnung und den Zukunftsplänen, daß er noch ein Weilchen davon mit mir am Büfett plauschen mußte. Ich soll nun noch mit ihm Tapeten aussuchen und einen neuen Teppich kaufen, auch will er seiner Frau einen Schaukelstuhl zum Einzug schenken.
»Werden Sie denn auch Courage haben, um den Kampf mit dem Drachen auszufechten?« fragte ich.
O – er hätte so viel Courage – – – »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich die alte Katze fürchte – – Gott bewahre – – übrigens bin ich selber gar nicht dabei – – ich werd mich doch nicht mit den Weibern abkatzbalgen – – der Spediteur kriegt meine Vollmacht – –«
Ich verbiß mir das Lachen! –[61]
* * *
Also weiter von meiner Jugend. Ach, es sind keine lieblichen Erinnerungen.
Was ich bei dem grausen Sturz in das eiskalte Wasser empfand, kann ich heute nicht mehr konstatieren. Die Angst vor der Polizei hatte alles in mir ausgelöscht, ich weiß nur, daß es mir im Moment war, als ob ich statt in Eiseskälte in einen glühenden Feuerschlund herabtauchte, es ist seltsam, aber noch heute schwöre ich, daß der Ertrinkende mehr ein Gefühl von glühender Hitze als von Kälte empfindet, es war ein Zischen und Brausen und Branden um mich – ich weiß nichts weiter.
Der Schutzmann war mir nach und hatte mich herausgeholt. Das Bewußtsein war mir schon weg. Fünf Tage lang bin ich im Fieber gelegen, und als ich zu mir kam war ich im Krankenhaus, wo ich drei Wochen blieb, eine qualvolle Zeit, in der ich mich Tag und Nacht mit der Angst marterte, ich müßte wieder zu Veits kommen. Ganz so schlimm wurde es denn doch nicht. Die Veits hatten wohl genug von mir und wollten mich nicht mehr ins Haus haben, und da hatte der Waisenrat beschlossen, daß ich bis zu meiner Konfirmation im M-stift – einer Art Rauhem Haus, in dem sonst nur erwachsene »gefallene« Mädchen Aufnahme finden, bleiben sollte. Und so geschah's, und ich kam vom Regen in die Traufe, von der heiligen Familie zu den frommen Schwestern, aus der Atmosphäre der Bigotterie und Heuchelei in den Bannkreis des heiligen Eifers und des stockschwärzesten Zelotismus.
Die Schwestern und die Oberin, – eine Frau in den fünfziger Jahren mit einem bösen harten Gesicht, dem die hervorstehenden Zähne eine Frau Holle-Physiognomie verliehen – hatten wohl nicht viel Gutes von mir gehört, denn ich wurde vom ersten Tage an als räudiges Schaf und mit äußerster Strenge behandelt.
Die meisten Mädchen waren dem Buchstaben nach[62] »freiwillige« Insassinnen des Stifts. Ach Gott ja, was heißt »freiwillig«? Nach und nach bekam ich ja einige Geschichten zu wissen, die meisten waren natürlich noch minderjährig und – da sie sich nicht geschickt, das heißt nicht so gewollt hatten, wie andere wollten und die gute Sitte es vorschreibt, von Eltern oder Vormündern in die Korrekturanstalt geschickt wurden. »Freiwillig« war der Aufenthalt im M-Stift nur insofern, als er nicht auf eine gerichtliche Verurteilung hin erfolgte.
Unter sämtlichen Insassinnen des Stifts war nicht eine einzige, die sich anders als mit heimlichem Zähneknirschen den Zuchthausparagraphen dieses christlichen Asyls unterordnete. Alle harrten sie mit sehnsüchtigem Herzen und klopfenden Pulsen dem Tage ihrer Entlassung als der Stunde der Erlösung entgegen.
Ich weiß gar nicht was diese »Schwestern« eigentlich für eine Art Menschen waren. Sie waren eigentlich weder Weiber noch Männer, sondern eine Art Mittelding – die meisten wenigstens. Eine – eine Witwe – machte mit ihrem sanften, menschenfreundlichen Wesen eine rühmliche Ausnahme. Außer dem Hausdiener war keine Mannsperson im Hause. War auch nicht nötig, die Schwestern wurden ganz gut untereinander allein fertig. Und die Polizeigewalt verstanden sie auch vortrefflich allein auszuüben. Die »Strafen«, die sie sich für obstinate Sünderinnen ausgeheckt hatten, atmeten Mittelalterluft und rochen verdächtig nach der heiligen Inquisition unseligen Angedenkens. Da war die fensterlose Zelle und die Haft darin bei Wasser und Brot bis zu drei – schreibe drei – Wochen, im Winter ohne Heizung, so daß eine einmal bewußtlos vor Kälte – fast erfroren aufgefunden wurde. Die Prügelstrafe war an der Tagesordnung und wurde von zwei zu diesem Ehrenamt auserlesenen Schwestern mit einer Gründlichkeit vollzogen, die nichts zu wünschen übrig ließ. Sie wurde außerdem so häufig[63] verhängt und vollzogen, daß ein Unparteiischer sich wohl nicht der Ansicht, daß die frommen Schwestern diese »schwere Pflicht« nicht ungern übten, verschlossen hätte. Tante Schlappkohl bekam ich nun nur einmal mehr im Monat zu sehen; jeden vierten Sonntag durfte sie mich auf eine halbe Stunde besuchen, und diese Erlaubnis nutzte sie treulich aus. Ich selbst kam gar nicht aus. Es war ein jammervolles Jahr, wie bei Veits, dasselbe in grün. Ich wurde dort eingesegnet und sollte dann noch zwei Jahre in der segenbringenden Zucht der Schwestern bleiben, aber als sich mir etwa neun Monate nach meiner Konfirmation Gelegenheit zur Flucht bot, ließ ich mir dieselbe natürlich nicht nehmen.
Es war da nämlich eine Kielerin, ein hübsches, etwa neunzehnjähriges Mädchen, eine Beamtentochter, die ihres zuchtlosen Lebenswandels wegen von dem eignen Vater ins M-Stift zur »Besserung« gegeben war und auf die die Schwestern eine ausgesprochene Pike hatten. Einmal fehlte in der Wäsche – die wir für Fremde besorgten – ein Herrentaschentuch, und das sollte die Ina – so hieß das Mädchen – gestohlen haben. Sie hatte sich nämlich beim Waschen verletzt und das Tuch um die blutende Hand gewickelt, und vergessen es später zurückzutun und es wurde im Schlafsaal unter ihren Sachen gefunden und da hat die aufsichtführende Schwester ihr vor Wut einen großen Büschel Haare ausgerissen und sie zu Boden geworfen und ihr mit Füßen auf den Leib getrampelt, und die Ina konnte sich nicht wehren, weil sie nur klein und schwach und die »Schwester« ein baumstarkes Frauenzimmer war.
Kurz und gut, die Ina hatte einen Schatz, der Steuermann auf einem Ozeanfahrer war, und als der von einer Fahrt nach Hamburg zurückkehrte, erkundigte er sich gleich nach Ina und hörte, daß sie im M-Stift war. Und da hat er keine Ruh gelassen bis ein Kontakt hergestellt[64] war. Ich genoß derzeit etwas mehr Freiheit als zuerst, ich machte die Gänge, und auf einem solchen Weg faßte er mich ab und fragte mich aus und sagte mir, daß er die Ina entführen wollte, er schenkt mir zwanzig Mark, wenn ich ihm dabei behilflich sein will. Ich nicht faul, besinne mich nicht lange und antworte: »Die zwanzig Mark nützen mir gar nichts, die werden mir doch abgenommen und meine Wichse krieg ich gratis zu, aber ich mach Ihnen einen andern Vorschlag: entführen Sie mich mit. Dann sofort.« Darauf ging er ein.
Und wir stellten es wirklich schlau an.
Eines Tags waren der Oberin zwei Schlüssel aus ihrem Reserveschlüsselbund entwendet, ohne daß sie darum gewahr wurde. Der zweite Haustorschlüssel und der zweite Schlüssel zur Arrestzelle.
Ein paar Tage danach fraßen die Ina und ich beide etwas aus, das uns nach dem Anstaltsparagraphen Zellenhaft eintrug. Die Ina verbrannte beim Bügeln mutwillig ein paar Herrenhemden, und ich mauste aus der Oberin Zimmer eine Birne, obgleich ich wußte, daß das Obst in der Fruchtschale gezählt war.
Also wir saßen zusammen in der ungeheizten Zelle – es war Ende Oktober und schon bitterlich kalt – aber uns fror doch nicht, wir glühten vor Erwartung und Aufregung und zählten die Sekunden und Minuten. Und als alles still im Hause war, schlossen wir auf und tappten die beiden Treppen hinunter und in den Korridor, es ging alles gut, aber das Haustor knarrte etwas beim Aufschließen und klappte beim Einschnappen und dann sind wir wie Furien gehetzt davongerannt bis zur zweitnächsten Ecke, wo Inas Schatz, der Steuermann Joachim Schmandeus, mit einer Droschke auf uns wartete. Im Stift müssen sie in der Nacht alle den Schlaf der Gerechten geschlafen haben, denn unser Verschwinden ist erst am andern Morgen bemerkt worden, als wir längst wohlverwahrt in[65] Schmandeus' Kabine hockten. Am Nachmittag ging das Schiff in See und wir als blinde Passagiere mit. Der Kapitän war dem Steuermann sehr gewogen und drückte beide Augen zu und in New York gelang es diesem, uns auf zwei Pässe hin, die er sich Gott weiß wie auf andere Namen für uns besorgt hatte, an Land und hinein zu schmuggeln.
* * *
Frédéric ist nicht zufrieden mit meiner Schreiberei. Er meint, ich hätte Ausführlicheres von meiner Jugend schreiben müssen und besonders von der Zeit im Stift. Er denkt dabei an ein paar Geschichten von Mädchen, die ich ihm früher mal erzählt habe. Aber, lieber Gott – ich kann doch nicht an alles denken und alles der Reihe nach erzählen, ich bin doch keine gelernte Schriftstellerin, wenn es mir gerade so beifällt, nachher werd ich es schon niederschreiben.
Es ist im Grunde ja so wenig erfreulich, sich mit diesen im allgemeinen sehr traurigen Erinnerungen zu beschäftigen und allem wieder nachzugraben, was ich gern in der Versenkung des Halbvergessenseins liegen lasse.
O – rühret – rühret nicht daran – – –
Mir wird so gallig und mies zumute, wenn ich in diese fernen Tage der Vergangenheit zurückkehre, wenn ich jene schreckliche Nacht und den Sprung in die Alster mir vergegenwärtige. – –
Es ist so bequem, immer das »Schicksal« für alles Ungemach verantwortlich zu machen. Aber in Wahrheit sind doch nur die Menschen, die andern Menschen, unsere lieben Nächsten und ihre verfluchten und verdrehten Anschauungen, Gesetze und Kodexe das böse »Schicksal«.
Wie kann man nur – Wie kann man nur – –[66]
Ich muß an die arme Jule denken, das hübsche, flinke, lustige, leichtfertige Dingelchen, die sie nach jener Nacht unter sittenpolizeiliche Kontrolle stellten und in ein Bordell brachten!
Himmel und Hölle! Ist das kein Verbrechen? War das nicht ein Mord, ja noch schlimmer und schlechter und grausiger als ein Verbrechen gegen das Leben des Nächsten? Nach meiner und der Auffassung jedes gerecht denkenden Menschen sicher.
Die ganze Schuld der Jule bestand in ihrem leichtflüssigen Blut und in ihrem sprühenden Temperament und in ihrem Verwaistsein, ihrer Verlassenheit und ihrer Armut.
Sie hätte sich besser eine Kommerzienratsvilla wie das Obdachlosenasyl an der Heerstraße als Geburtsstelle ausgesucht. Als die Tochter reicher Leute wäre ein vielumworbenes, vielbegehrtes Mädchen aus ihr geworden, man hätte ihre Koketterie reizend gefunden, ihre Schnoddrigkeit originell, sie selbst liebenswürdig, entzückend, pikant, temperamentvoll ... kurz, sie wäre mit denselben Eigenschaften, die ihr jetzt verhängnisvoll wurden, ein Liebling der Gesellschaft gewesen.
Warum war sie auch so unvorsichtig in der Wahl ihrer Eltern und Großeltern! Es geschah ihr recht ... die reiche Kaufmannstochter, die mal über die Schnur haut – – und als beschützte und in den Anschauungen jener Kreise erzogene Haustochter kommt sie kaum in die Lage über die Stränge zu schlagen! – schickt man in ein Pensionat oder bringt sie, wenn der Fall ernst scheint, schleunigst unter die Haube. Die verwaiste Enkelin der armen Wäscherin, die unbehütet und ungeleitet ihrem heißblütigen Temperament auf Tanzböden und in nächtlichen Abenteuerfahrten die Zügel schießen läßt, steckt man kurzerhand in ein Bordell. Weg damit. Aus dem Wege ...
Es sind so viele Jahre her und ich könnte weinen[67] darüber. Warum gibt es kein barmherziges Gesetz, das gestattet, die Menschen, die nach Ansicht anderer »kompetenter« Menschen eine Gefahr für die übrige Menschheit bedeuten, dann kurzerhand zu töten, sie möglichst schonend und schmerzlos hinwegzuführen in das Land jenseits der schwarzen Straße, in dem es keine Sittenrichter und Sittenhenker gibt?
Aber in ein Bordell – – –
Nach Jahren sah ich sie wieder. –
Ecke Gänsemarkt. Ich kannte mich nicht mehr mit den elektrischen Bahnen aus, es war schon finster, und fragte eine Person, die da stand und anscheinend auch auf eine Elektrische wartete.
Sie wandte sich mir zu, ein altes, graues, scharfes Gesicht, mit den heißen, haßerfüllten Augen der Paria, und etwas so Undefinierbares in den Zügen, etwas, das Mitleid und Ekel zugleich erregt – – Sie gab mir kurz Bescheid. Ich sah sie starr an ... Ich kannte sie nicht und doch schien sie mir bekannt –
»Jule,« sagte ich. Da guckte sie auf.
»Bist du Jule?«
Sie gab mir eine eklige Antwort. Aber die Antwort sagte mir, daß ich mich nicht täuschte.
Ich konnte lange nicht darüber hinwegkommen. –
Jule, Jule, Jule! Sie war es und war es nicht. Sie war gestorben, man hatte sie gemordet. Und sie lief immer noch da herum, mit dem Phosphorlicht der Leiche auf der welken Stirn und dem widerlichen Faulgeruch. –
Und sie war ein so niedliches, intelligentes, übermütiges, graziöses, gutmütiges Geschöpf, voll Leben und Frohsinn.
Mich graut vor den Menschen, ich könnte die ganze Bagage ermorden, wenn ich an Jule denke. An die kleine, schwarzhaarige, abenteuerlustige Jule ...
*
[68]
Vorgestern abend machte ich die nähere Bekanntschaft unseres alten Stammgastes, der seit zwei Monaten jede Nacht gegen zwölf kommt und bis um zwei sitzen bleibt. Jede Nacht verzehrt er dasselbe: einen Schwarzen und zwei Stück Konfekt, hinterher einen Hennessy drei Sterne, zuweilen auch einen Sherry-Cobler. Er ist immer allein und liest keine Zeitung als höchstens mal den Simplicissimus oder die Lustigen. Ganz in Gedanken versunken sitzt er die zwei Stunden ab und es ist klar, daß er über irgend etwas spintisiert.
Ich bin gewiß nicht neugierig; aber es interessierte mich nachgerade zu wissen, über was der alte Herr – er muß Ende der Fünfziger sein – so angelegentlich bei Kaffee und Kognak nachdenkt. Und dann dünkte mich immer, ich müßte ihn schon früher mal gesehen haben – – Das ist ja in unserem Geschäft leicht möglich – und wäre nicht des Nachdenkens wert. Aber es war mir immer so, als hätte ich schon mit ihm gesprochen, als knüpfe sich an seine Persönlichkeit eine besondere Erinnerung. Ich kramte indessen vergebens in meinem Gedächtnis.
Vorgestern abend also kam Herr Heinrichs mit seiner kleinen Frau ins Café. Sie sieht ungefähr so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe. Nicht gerade sehr »klein«, gute Mittelgröße, und doch sehr klein, nämlich sehr landläufig und unbedeutend. Sie gehört zu den Leuten, die man eigentlich niemals bemerkt, weil ihre Persönlichkeit so sehr der Allgemeinheit unterläuft, sie sind das, was man im Plural mit »Publikum« bezeichnet, ein Bestandteil der großen Masse ... Massenware.
Solches Frauchen könnte jahrelang tagtäglich in mein Lokal kommen, und ich kenne sie noch kaum dem Aussehen nach, so wenig interessiert sie mich. Aber im ganzen ist sie die Frau, die zu meinem Heinrichs paßt.[69]
Den Abend sah sie recht brummig und mißgestimmt aus, obgleich der Herr Gemahl sich offenbar bemühte, ihre gute Laune herzustellen. Sie warf das faustgroße Veilchenbukett, das er offenbar erst eben erstanden hatte, unwirsch auf einen Stuhl, weigerte sich etwas zu bestellen, und machte, als er ihr endlich die Einwilligung zu einer Tasse Schokolade abgerungen hatte, ein Gesicht, als wäre sie eben verurteilt worden, eine Flasche Petroleum auszutrinken.
Ich beobachtete das alles und dachte bei mir: großer Gott, wenn er jetzt nur nicht auf die unglückliche Idee kommt, mich mit seiner kleinen Gans bekannt machen zu wollen. Aber der Einfaltspinsel verstand meine abwinkende Geste nicht und begrüßte mich laut und da blieb mir natürlich nichts anderes übrig, als zu dem Paar an den Tisch zu kommen und mich von Heinrichs der Frau Lotte vorstellen zu lassen.
Schade, daß ich diesen Blättern keine Zeichnung des wundervollen Gesichts, das Lottchen mir schnitt, beifügen kann. Ich hab mich ja hinterher scheckig gelacht. Sie reckte sich ordentlich auf, um mir zu imponieren, und diese eisige Abwehr, gepaart mit Stolz und Verachtung in dem nichtssagenden Gesichtchen, gewährte einen zu drolligen Anblick. Ich hatte unterdessen rasch eine passende Fabel erfunden, erzählte ihr, daß Herr Heinrichs in seiner Junggesellenzeit – vor fünf oder sechs Jahren! – Stammgast des Restaurants, in dem ich das kalte Büfett hatte, gewesen sei und ich ihn erst kürzlich hier wiedergesehen habe. Natürlich hatte er mir dabei von seiner »lieben, reizenden« Frau Gemahlin vorgeschwärmt und ich war natürlich selig, die gnädige Frau nun in persona kennen zu lernen.
Sie hörte mißtrauisch zu, rümpfte die Nase und krauste die Stirn, was ihrer kleinen Katzenphysiognomie unglaublich komisch stand. Sie wollte offenbar markieren, wie[70] hoch sie über mir thronte und daß es eine Vermessenheit ihres Gatten sei, mich ihr vorzustellen.
Heinrichs, das Schaf, merkte davon nichts. Gut gelaunt und in dem Bestreben uns näher zu bringen, bestellte er drei schwedische Punsch. Da wurde sie wütend, die kleine Katze, und fing an zu fauchen. Sie will nicht mehr trinken, keinen Tropfen. Sie will nach Hause, sie ist müde. »Aber Herzchen, nur einen Schluck ... Ein Schlummerpünschchen. Du klagtest doch vorhin, dir sei kalt. Ein Gläschen zum Warmwerden –«
»Du hörst ja, ich mag nicht, ich will zu Haus,« sagte sie giftig und zog sehr ostentativ ihre Handschuhe an. Derweil brachte der Kellner die drei Gläser Punsch. Ich wurde glücklicherweise in diesem Augenblick am Büfett verlangt und konnte das glückliche Paar sich selber überlassen.
Er suchte ihr zuzureden und sie zum Trinken zu bewegen, aber sie wurde immer wütender und gereizter.
»Ich geh jetzt; du kannst ja noch bleiben und mein Glas mittrinken. Das Fräulein hat vielleicht die Güte, dir Gesellschaft zu leisten ...«
»Aber Lotte ... Lottchen ... Nur fünf Minuten –«
Er war glühend rot, so genierte er sich.
»Keine halbe Minute. Ich habe ja nichts bestellt –«
Ihre Stimme war fast schrill vor Aufregung. Die andern Gäste, meist Pärchen, stießen einander an und kicherten. Solch ein kleiner ehelicher Zank hat für den Dritten immer das Erquickliche eines unterhaltsamen Intermezzos.
Lottchen war dem Weinen nah vor Wut. Über was nun? – Über gar nichts.
Es gibt Menschen, die wollen sich partout über alles ärgern. Lotte ärgerte sich, daß ihr Mann eine Büfettiere kannte und sich erkühnte, ihr dieselbe vorzustellen. Schlecht gelaunt war sie ohnehin hergekommen.[71] Das gab ihrer miserablen Stimmung den Dampf. Natürlich vermutete sie, daß etwas anderes dahinter steckt. Solche kleine Seele ist wie ein enges Hofkämmerlein. Der Blick klebt immer an der schmutzigen Mauer des Nachbarhauses; nirgends ein freier Ausblick, nirgends Weite. Man sieht nur den Dreck der Erde, nirgends blaue Luft und Sonnenlächeln. Man kann ihr nicht einmal böse darüber sein. Sie ist einmal nicht anders. Der Baumeister hat sie so geschaffen. Und es war niemand da, nicht einmal ein hilfreiches Geschick, das die blickhemmende Mauer niederlegte – –
Heinrichs zahlte; ihm blieb nichts übrig. Sie war schon die Treppe hinunter, ehe er noch den Paletot an hatte.
»Donnerwetter,« sagte der alte Herr, der am Nebentisch die Szene beobachtet hatte, »was eine Xantippe – –« Und zu mir: »Kennen Sie die Leute, Fräulein?«
»Flüchtig,« sagte ich.
»So ein Weib! Und solch ein Waschlappen von Männeken,« sagte er und rieb sich die Hände. »Ja, komme einer mal mit den Frauenzimmern an.«
»Haben Sie so schlimme Erfahrungen gemacht?« –
»Ach, ich bin immer leidlich gut mit ihnen um die Ecke gekommen. Vor 'n Stücker zehn Jahren hatte ich mal vier Weiber zu gleicher Zeit –«
»Herrjehses! Sind Sie Türke oder Mormone?«
»Das nicht. Es ging alles mit rechten Dingen zu. Die eine war meine legitime Frau, und die zweite meine geschiedene, die sich, nachdem es ihr schlecht ergangen war, wieder an mich klettete. Die dritte war meine Zukünftige, denn ich hatte mit der Legitimen wieder die Scheidung vereinbart, weil die andere, eine ältere Witfrau, mir hunderttausend Mark Mitgift zusicherte, wenn ich sie heiratete, und die vierte war mein Verhältnis ...«[72]
»Alle Achtung,« sagte ich. »Sie scheinen tüchtig ...«
Ich mußte auch lachen. Der Mann gefiel mir. »Na, und nu?«
»Ganz solo. Sie haben sich glücklich alle vier verkrümelt. Die letzte starb ein Jahr nach der Heirat, die zweite Geschiedene hat ein Korsettgeschäft und einen gutsituierten Freund, die erste und das Verhältnis sind zufriedenstellend verheiratet. Hab ich alles gemacht. So bin ich. Ich würde niemals ein weibliches Wesen im Stich lassen, niemals. Andrerseits hinderten mich die Weiber. Deshalb –«
»Aber jetzt tut es Ihnen leid, gelt? Sie sehen so aus, als ob Sie sich über etwas grämten?«
»Ich? – grämen?« Er lachte hell auf, und wie seine weißen, jedenfalls falschen Zähne durch den grauen Schnurrbart blitzten, sah der alte – übrigens sehr patente – Kerl ordentlich jugendlich und hübsch aus. »Nich in die la main, Fräulein. Ich grübele – – – grübele – – – ich muß etwas erdenken, etwas Neues ... Sensationelles ... etwas, das Geld schmiedet ... Eine große Reklamesache ...«
»Ah – Sie sind Erfinder?« ...
»I – Jott behüte. Geschäftsmann, Fräulein. Was meinen Sie, was ich schon alles war und alles hatte! 'n Schloß in Sachsen ... Nervenheilanstalt ... Wasserkur ... Hab' ich selbst kuriert: Prißnitzer Umschläge, Kaltwassergüsse ... Kalte Abreibungen – – Glänzende Erfolge ... Orden gekriegt, für zwei geschaffene Freistellen ... Dann Rittergutsbesitzer gespielt, Weinstube in der Friedrichstraße, Wäscheleihinstitut, Pfandgeschäft, Tanzsalon, Schuhwarenhandlung, Häusermakler, Beerdigungsinstitut, ging vorzüglich ... hat mir leider die Polizei geschlossen –«
»Weshalb?« ...
»Ich hatte eine Leiche ausgestellt. Zog mächtig. Die[73] Straße immer schwarz von Menschen vor meinem Fenster. Eine fesche Leiche – –«
»Leiche?!«
»Natürlich in Wachs. Schließt die Polizei mir die Bude zu! 's ist 'n Skandal, wie einem das Leben durch die Behörden sauer gemacht wird. Dann hatte ich nacheinander eine Zeitung, eine Gärtnerei, eine Spezialitätentruppe, eine Möbelfabrik –«
Ich stieß einen kleinen Schrei aus, denn nun wußte ich mit einemmal, wo ich den Onkel unterzubringen hatte.
Das war ja der famose Chef meiner Freundin Martha ...
Ei, wenn ich da noch dran denke ... Zum Kugeln. Es sind jetzt wohl ungefähr sechs Jahre her. Martha war Kellnerin in einem süddeutschen Lokal in der Jägerstraße, aber das Geschäft lag ihr nicht, sie eignete sich auch nicht dazu, sie hatte etwas so Melancholisches, und das paßt nicht für eine Kellnerin. Die Gäste wollen was Lachendes, Freundliches, keine Tränenweide zum Bedienen. Da hatte mein Onkel da, der Möbelfritze, sie entdeckt. Er brauchte gerade so etwas. Die Martha war ja beileibe keine Tranfunsel, sie hatte nur so das Äußere ...
Der Möbelfritze, Lautbach heißt er, fabrizierte reelle Schundware. Alles hübsch aufgemacht, aber nur zum Anschauen, wie bei den Stiefeln, von denen der gute Schuster sagt: sie sind gemacht, sie zu verkaufen, und nicht – um drin herumzulaufen ...
Die Polstermöbel schwellend in Seide und mit Stroh ausgestopft, die Holzsachen geleimt, die Schrankwände dünn wie Teebretter, kurz Schwindel – billig und schlecht ...
Trotzdem florierte die Fabrik glänzend, denn Lautbach hatte eine besondere Spezialität: die Fabrikation von »Gelegenheits-Verkaufs-Möbeln«.[74]
Die Möbel wurden in eine leerstehende Wohnung geschafft. Drei, vier, fünf Zimmer, je nachdem, mit Zubehör. Dann ging das Inserieren los. »Herrschaftliche Wohnungseinrichtung wegen Sterbefalls spottbillig zu verkaufen.« –
»Geschiedene Frau, die gezwungen, ihren Haushalt aufzulösen, verkauft ihre fast neuen, eleganten Möbel (folgt Beschreibung) zu jedem annehmbaren Preise – –«
»Wegen Erblindung meines Mannes stelle meine hochelegante, erst vier Monate alte Einrichtung zum schleunigen Verkauf!«
»Okkasion! Für Brautleute! Umstände halber schneller Verkauf neuer gediegener Möbeleinrichtung für ein Viertel des Einkaufspreises ...«
Und so weiter in zahlreichen Variationen.
Dafür eignete sich Martha vorzüglich. Als junge Witwe, in tiefer Trauer, das Taschentuch bei jedem zehnten Wort gegen die Augen pressend ... O, wie haben wir uns oft gewälzt vor Lachen, wenn sie uns die Komödie vormachte. Meistens war der Dekorateur kaum zur Hintertreppe herunter, wenn die Reflektanten schon vorne klingelten. Darin machte Martha ihre Sache prachtvoll. Unter vielen Achs und Ohs und Seufzern erzählte sie ihre traurige Fabel ... Der Mann tot ... sie mittellos ... ach, sie trennt sich so schwer von den lieben Sachen, die Zeugen ihres Glückes, aber wenn schon, denn schon rasch, und wenn sie nur in gute Hände kommen ... Oder der Mann ist unheilbar krank, und ohne Verdienst, man muß eine kleine, sehr kleine Wohnung nehmen, in die die schönen Sachen nicht hineinpassen ... Zuweilen spielte sie auch die »zurückgegangene Braut«. Die Wohnung schon eingerichtet, die Hochzeit festgesetzt, da erweist sich der Bräutigam in elfter Stunde als nicht würdig. Retirade. Und nun fort mit den Möbeln! Um jeden Preis aus den Augen mit[75] jedem Stück, dessen Anblick an vernichtete Hoffnungen, zerstörtes Glück erinnert ... Sie ist noch ganz aufgelöst, ganz geknickt ... Die Einrichtung kostet viertausend – sie läßt sie für fünfundzwanzighundert ... Man bietet fünfzehn- und einigt sich auf achtzehnhundert – –
Die Witwe resp. Braut oder Frau – sehr oft eheverlassene Frau – ist gedrückt, enttäuscht ... aber sie lächelt unter Tränen – ein süßer Trost ist ihr geblieben: die Sachen kommen in sehr gute, pietätvolle Hände.
Der Käufer ist teilnahmvoll gerührt, und innerlich quietschvergnügt über den famosen Schnitt ... Alles reibt sich heimlich die Hände: der Käufer, Martha, die außer ihrem Salär von 100 Em monatlich fünf Prozent abkriegte, und nicht zum letzten der Fabrikant, der seine Schundware 25 Prozent über den Wert an den Mann gebracht hatte ...
Erst nach Jahresfrist ändert sich das Bild. Da lacht der Käufer nicht mehr. Er sieht ein, daß er der Geprellte ist, aber er schweigt mit seinem Schaden. Niemand räumt gern ein, daß er zu denen gehört, die nicht alle werden ...
Martha ließ nichts auf ihren Chef kommen. Er behandelte sie sehr anständig, ja generös. Wenn man ihr glauben wollte, handelte es sich nur um einen kleinen, harmlosen Geschäftskniff, waren die Möbel wirklich preiswert und nicht schlecht.
Wir kamen derzeit oft zusammen. Dabei sah ich denn auch mehrere Male Herrn Lautbach.
Ich fragte ihn, ob er sich meiner nicht erinnere und redete ihn mit seinem Namen an. »Denken Sie an Martha Bremmer, ihre ehemalige Verkäuferin –«
Da tagte es ihm; dunkel entsann er sich. Ich wollte von Martha erzählt haben, wo sie geblieben sei, aber er[76] wußte es nicht. Als Lautbach die Fabrik verkaufte, hatte er sie einem Geschäftsfreund in Prag empfohlen. Vielleicht verkauft sie dort heute noch als trauernde Witwe Möbel. Als er hörte, daß wir durch Martha eigentlich alte Bekannte waren, taute er erst recht auf und wurde sehr gesprächig. Ja, das Möbelgeschäft damals ... Das war eine ganz gute Sache – aber nachher wurde die Geschichte auch mau ... dieser dehnbare Paragraph vom unlauteren Wettbewerb machte zu viel Schaden ... Heutzutage rennt der strebsame Geschäftsmann ja fortwährend mit dem Kopf gegen die aufgepflanzten Planken und Zäune und Bretterwände gesetzlicher »Schutz« maßregeln. Wozu Schutz! Bezahlt der Geschäftsmann nicht etwa auch seine Steuern? Ihn vor allen sollte man vor Schaden schützen. Unterstützen, fördern sollte man seine intelligenten Ideen, anstatt sie zu beschneiden, 's ist 'n Skandal, wie man überall in seiner Intelligenz gehemmt wird ... Immer erst fragen müssen – darf ich das auch ... ist das auch erlaubt ... Wem da nicht die Lust vergeht –
Er erzählte mir, daß er von Haus aus 160000 Mark Vermögen – gehabt hat. Mehrere Male hat er es fast verdoppelt und mehrere Male fast alles verloren gehabt. Sein letztes Unternehmen, ein großes Etablissement an der Oberspree, verkrachte vollständig. Eine kleine Summe nur konnte er den Gläubigern entreißen, weil diese, dem Buchstaben nach der Geschiedenen No. 2 gehörte. Jetzt sucht er vor allem eine vermögende Frau, um mit ihrem Kapital irgend etwas Neues anzufangen ... etwas ganz Neues ... diesem ganz, ganz, ganz Originellen gilt sein abenteuerliches Kopfzerbrechen.
Der Mann interessiert mich. Menschen mit solcher geistigen Elastizität, solcher Weite des Blicks, solcher Energie, Intelligenz und entschiedenen Lebensbejahung, selbst nach schweren Enttäuschungen und Verlusten sind[77] mir in hohem Grade sympathisch. Ich liebe so etwas, ich spüre etwas Verwandtes darin. Wenn ich die achtzig- oder hunderttausend Mark hätte, die der Mann sucht, wäre ich sehr geneigt, mich ihm zu assoziieren. Ich kann es nicht leiden, wenn sich Leute in den besten Jahren von ihren Renten ernähren lassen. Unternehmungsgeist muß der Mensch haben. Und sich nicht gleich niederwerfen lassen, wenn mal was fehl geht ... »Ich hab schon so was wie 'ne Idee,« sagte er, »mir schwebt so was vor ... Aber dazu brauch ich eine mit zweihunderttausend – Ich will mal sehen, ob die Sache Aussicht hat ...«
»Haben Sie denn schon Eine in Sicht?« sagte ich.
»'ne Frau meinen Sie? Nee ... das hat Zeit. Die finde ich innerhalb acht Tagen, wenn's Ernst wird. Ich meine ein Geschäft ...«
Wir plauderten noch eine Weile zusammen und setzten gestern abend die Unterhaltung fort.
Heinrichs schrieb mir heute einen unglücklichen Brief. Seine holde Gattin hat ihm wegen mir eine fürchterliche Szene veranstaltet, und Schwiegermütterlein und Schwägerin haben natürlich tapfer mit in dasselbe Horn geblasen. Der arme Kerl könnte einen dauern, wenn er nicht so gottsdämlich vernagelt wäre. Das Weibertrio bringt ihn tatsächlich um. Mich soll's verlangen, wie das zu Oktober abläuft.
* * *
Meine Erlebnisse in Amerika kann ich nicht so eingehend schildern, das würde zu weit führen. Also wir waren etwa acht Tage im Boarding, als Schmandeus mir auseinandersetzte, daß er kein Kapitalist sei und nicht dauernd die Pension für mich mitbezahlen könnte; er habe sein Wort gehalten und mich mit hinübergelotst[78] und nun müsse ich für mich weiter sorgen. Da stand ich nun mit meinen Kenntnissen, und die waren ziemlich mittelmäßig. Kein Wort Englisch, mutterseelenallein im fremden Land, eben erst fünfzehn Jahre alt ... Zum Glück war die Boardinginhaberin eine Deutsche und als ich ihr mein Leid klagte, machte sie mir den Vorschlag, mir die Pension durch Hilfeleistungen im Haushalt und in der Küche zu verdienen, worauf ich natürlich freudig einging.
Von Tante Schlappkohl und in der Anstalt war ich im Haushalt ziemlich gut angelernt und da ich fleißig war, gelang es mir, den Anforderungen, die an mich gestellt wurden, leidlich gut zu genügen. Mrs. Stonefield gab mir fünf Dollar im Monat Lohn, womit ich anfangs dick zufrieden war. Ina fuhr nach ein paar Monaten wieder mit ihrem Schatz nach Hamburg zurück, sie hatte eine Stelle auf dem Schiff gekriegt und wie sie fort ging, war ich ganz allein drüben.
Aber ich fand mich bald darein und fand mich auch ziemlich schnell in die neuen Verhältnisse. Auch die Sprache lernte ich bald. Und die Pensionäre mochten mich alle gut leiden, besonders die Herren. Mit einem freundlichen Gesicht kommt man alleweil gut zurecht. Obgleich die Trinkgeldermode in Amerika nicht so ist, bekam ich doch so viel geschenkt, daß ich mich trotz dem für amerikanische Verhältnisse mehr als bescheidenen Lohn auf fünfundzwanzig bis dreißig Dollar monatlich stand.
Die Herren versuchten auch sofort mit mir anzubandeln, und ich war auch kokett, aber im übrigen refüsierte ich energisch. Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich mir eigentlich keine rechte Antwort auf die Frage, weshalb ich mich so nachdrücklich keusch und spröde stellte. Denn ich hatte Blut und Temperament und war außerordentlich entwickelt und ich hatte heimlich[79] ein rasendes Verlangen von der süßen verbotenen Frucht der Liebe zu naschen. Und doch wehrte ich mich mit Händen und Füßen, wenn sie mir jemand aufdrängen wollte. Ich glaube in jedem unberührten Mädchen steckt von Natur aus doch ein starkes Stück Anstandsgefühl. Es ist ein unsichtbarer Wächter in einem, der Wacht hält. Ist das erst niedergestreckt, nachher ist das Tor frei. Und dreht man schon selbst den Schlüssel um und riegelt zu – die Art hat es nicht mehr. Man ist dann niemals mehr dieb- und einbruchsicher.
Ich war ganz allein, schutzlos und verlassen im fremden Erdteil, das sinnliche Verlangen in mir war früh geweckt durch Beispiele und Beobachtungen, das Blut einer leichtsinnigen Mutter floß in meinen Adern, ich war hübsch und täglich von Versuchungen umdroht, aber solange Ina und ihr Schatz in New York waren, hielt ich mich gerade. Als die erst fort waren, kam das Gefühl des Alleinseins über mich und – es ist schwer zu glauben – Heimweh! – Heimweh! Lieber Gott, nach was? Nach Prügel und Hunger und Schimpfworten und schlechter Behandlung aller Art! Ach, ich hatte nicht viel Gutes im alten Vaterlande gehabt und keine Heimat darin, der ich nachzutrauern gehabt hätte. Ich war wie ein wilder Vogel, der eigentlich auf jedem Ast zu Hause sein sollte, besonders wenn er einen grünen Zweig findet, auf dem er sich in Vergleich zu früher wohlfühlen kann. Aber ich hatte trotzdem Heimweh, eine wehe kranke Sehnsucht nach dem Land jenseits des Ozeans, nach Hamburg, nach dem plattdeutschen Hafenidiom, nach den Straßen, die ich kannte, nach den Menschen, die diese Straßen durchfluteten, nach – – ach, ich weiß nicht nach was, ich weiß nur, daß ich oft selbstvergessen am Fenster stand und mit nassen Augen zum Hafen hinüberschaute und mich unsagbar krank und elend fühlte.[80]
Zu derselben Zeit logierte ein Herr aus Argentinien bei uns, ein Juwelier, der in Buenos-Aires ein großes Ladengeschäft hatte. Eine besondere Angelegenheit führte ihn nach New York. Ein großartiger Gaunertrick hatte ihm nämlich viele Tausende von Dollar Schaden gebracht.
Eines Tages war ein Spanier in Begleitung eines schwarzen Dieners in sein Geschäft gekommen und hatte sich ungefaßte Brillanten vorlegen lassen. Während der Besichtigung zieht der Herr eine Schachtel mit ebenfalls ungefaßten Diamanten aus der Tasche, schüttet sie auf den Tisch, und fängt an, sie mit den ihm vorgelegten zu vergleichen, und äußert den Wunsch, diese und noch ein paar Dutzend neuer Steine dazu zusammen in ein Diadem fassen zu lassen.
Indem betritt ein neuer Käufer die Office und gibt Mr. Shetter, der mit dem Spanier konferiert, einen Wink, der um eine Unterredung unter vier Augen bittet.
Mr. Sh. achtete erst nicht darauf, weil zufälligerweise sich außer ihm nur noch ein Gehülfe im Laden befindet. Aber der Fremde wendet sich an den Gehülfen, flüstert ihm etwas zu, worauf dieser wieder dem Herrn ein bestürztes Zeichen gibt. Als Mr. Shetter sich dann unter irgend einem Vorwand frei macht und zu dem Letzteingetretenen wendet, erfährt er zu seiner Bestürzung, daß der Spanier ein verfolgter Gauner ist, der die Diamanten einem australischen Claimbesitzer gestohlen hat und daß der andere gekommen ist, den Dieb zu verhaften.
Kurzum, der Kriminalist tritt zu dem vornehmen Herrn und ersucht ihn, ihm zu folgen. Der wehrt sich entrüstet. Der Detektiv pfeift, zwei, drei andere eilen herbei, der Spanier tobt wie ein Rasender, reißt einen Revolver aus der Tasche, schießt zwei, dreimal hintereinander, trifft den Gehülfen des Herrn Sh., endlich gelingt[81] es dem Beamten den Wütenden zu überwältigen und abzuführen. Mr. Sh. ist natürlich halb tot vor Schreck und Aufregung und erst nach einiger Zeit macht er die Entdeckung, daß ihm für vierzigtausend Dollar ungefaßte Steine gestohlen sind. Ohne Zweifel hatte der Schwarze den allgemeinen Wirrwarr benutzt sich die Brillanten mit einem geschickten Griff anzueignen. Natürlich Mr. Sh. sofort zur Polizei gestürzt, aber, o Schreck, – da weiß man von nichts ... Die angeblichen Detektivs waren gerissene Spitzbuben und das Ganze ein nebenbei kolossal plumper Gaunertrick. Aber gerade weil er so plump, war die Frechheit mit der er ausgeführt wurde, bewundernswert und geradezu genial ...
Ich glaube Mr. Sh. war ein sehr eitler Mann. Ich habe überhaupt immer gefunden, daß die Eitelkeit bei den Männern eine viel allgemeinere Untugend ist, als bei den Weibern, nur daß sie sich in anderer Art äußert. Mr. Sh. war als halber Dollarmillionär entschieden nicht so verzweifelt über den Verlust, als über die Tatsache, daß er sich so plump hatte reinlegen lassen. Das knickte ihn, machte ihn verrückt, brachte ihn zur Verzweiflung. Ein Vermögen hatte er schon an Detektives gegeben, er wollte die Gauner fangen ...
Sie waren längst über alle Berge. Eine Spur führte nach New York. Darum war er nun da. Aber die Spur verlor sich im Meer der Riesenstadt ...
Der Gedanke, die Diebe finden zu müssen, war bei Mr. Shetter zur fixen Idee geworden, hatte ihn nervenkrank gemacht, verursachte ihm eine chronische Schlaflosigkeit. Seine Gesichtsmuskeln waren in fortwährender zuckender Bewegung, seine Augen glühten wie im Fieber, heiß, trocken, unstet. Er sprach ein ganz reines, fließendes Deutsch, da er mehrere Jahre in Berlin gewesen war, und wenn ich ihm etwas brachte, hielt er mich gern eine Weile im Gespräch auf.[82]
Das war an einem Abend ... Im Mai ... Schwül, dunkel, ich krank vor Heimweh und Sehnsucht – –. ich hatte geweint. Mrs. Stonefield ... früher Steinfeld! – hatte mich gescholten wegen einer zerbrochenen Weinkaraffe – mir war sehr schwermütig und etwas sentimental zumute.
Da rief mich Mr. Shetter. Er lag schon im Bett und wollte eine Flasche Sodawasser gebracht haben. Und als ich sie brachte, forderte er mich auf, mich zu ihm zu setzen und ihm ein Weilchen Gesellschaft zu leisten.
Ich tat es, denn ich fürchtete mich vor der Einsamkeit in meiner engen Kammer; vor den traurigen Gedanken. Ich mußte Mr. Sh. von meiner Kindheit erzählen, von meinem Leben, wie ich nach New York gekommen ... und mitten drin fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm nach Buenos-Aires zu gehen.
Es war fast dunkel im Zimmer. Hinter einem blauen Seidenschirm stand die kleine Lampe. Ihr Schein fiel auf mich, und schräg über das breite seidene Bett, der Kopf des Mannes war im Schatten, aber ich fühlte seinen Blick, der über mich hin glitt, mich gleichsam auskleidend und prüfend betrachtend. Und langsam sprach er weiter. Von eleganten Kleidern und Schmuck und einer schönen Wohnung ... spazieren fahren, ins Thater gehen ... Sommer ins Seebad ... und nichts dagegen leisten, als ein bißchen gut sein ... nur ihm ... Meine Ohren hörten von dem allem nur wenig, nur das Hauptsächliche, aber sie sogen den Ton auf, der so warm und schmeichelnd in sie hineinglitt ...
Warum griff ich nun nicht sofort mit beiden Händen zu? Warum nicht? War die Moral in mir so stark, – in mir, der Tochter einer Dirne, dem leichtsinnigen, umhergestoßenen, nach dem Urteil sachverständiger Leute schon längst sittlich verkommenen Geschöpf ... Oder war es die gesunde Atmosphäre bei Tante Schlappkohl, die noch[83] postfestum ihre Wirkung tat? ... Ich weiß es nicht. Schöne Kleider und Schmuck und Badereisen sind gewiß nicht zu verachten, aber ich schüttelte den Kopf.
»Nee – danke ergebenst. Ich kann arbeiten und mag arbeiten und geschenkt will ich nix ... Wenn Sie mir eine gute Stelle verschaffen könnten ... dann kämen wir uns schon näher ...
Der Mann war klug. Er spähte in mich hinein und erschaute die Vorgänge meiner Seele. Ich glaube, er lächelte.
Ja ... auch das. Meine Frau braucht eine Jungfer. Sie ist eine gute, sanfte Frau, Sie werden es leicht bei ihr haben, Fräulein May. Und fünfzig Dollar monatlich ... Und wenn wir uns verstehen – –«
»Nee,« sagte ich patzig. Denn es war Trotz, was mich abhielt. Ich haßte die reichen Leute so intensiv ... Ich wollte keinem Reichen angehören. Auch das las er in meiner Seele.
»Ich bin auch ein Mann aus dem Volke,« sagte er. »Mit fünfundzwanzig Cent in der Tasche suchte ich vor zwanzig Jahren hier in New York Brot und Arbeit. Heute bin ich wohlhabender Mann, aber ich habe meine einfachen Gewohnheiten beibehalten. Ich könnte in einem großen Hotel der fünften Avenue absteigen, tue ich es? Nein, ich logiere in einem bescheidenen Boarding, die Nacht zu ein und einem halben Dollar ... Kommen Sie doch ein wenig näher, Kind. – Warum sind Sie so furchtsam? Ich will Ihnen doch nichts Böses tun. Nur die Nacht wird mir so schrecklich lang, da ich nicht schlafen kann. Ist es hier nicht ebenso mollig, als in ihrer Stube?«
»O gewiß ... viel molliger.« Ich rutschte langsam vor, hinüber auf den Bettrand, der Mann war mir plötzlich nicht mehr fremd ...
»Ist es schlimm, sich aus eigener Kraft ein Vermögen erworben zu haben? Wollen Sie kein Geld verdienen –«[84]
»Ich – O ja – gewiß.«
»Nun, denn schon! Nicht wahr, Sie fahren mit nach Buenos-Aires. Ich liebe so kleine, hübsche, junge Mädchen – Ich werde wie ein Vater für dich sorgen, kleine May ...«
Nun, seine Umarmung und die Inbrunst, mit der er mich an sich preßte, hatten zwar nicht viel »Väterliches« an sich – – aber ich blieb die Nacht bei ihm, und andern Tags zogen wir aus und in ein feines Hotel am Broadway, und einen ganzen Tag kaufte er für mich ein: Kleider, Wäsche, Firlefanzen, ich war sehr zufrieden, daß ich mich überwunden hatte ... Freilich merkte ich bald, daß mein Freund leidend war. Jedesmal wenn er eine Unterredung mit seinen Detektivs gehabt hatte, war er ganz aus dem Häuschen, hochrot und so furchtbar aufgeregt und nervös, man sah dann, wie das Blut in seinen Schläfen und Stirnadern hämmerte, und die Nacht darauf schloß er wirklich kein Auge.
Und eines Nachts nach solcher Konferenz war er wie wild, sprang aus dem Bett und raste, beide Hände gegen die Schläfen gedrückt, wie wahnsinnig durch die Zimmer. Schrie in einem fort: »Mein Kopf! mein Kopf! Mein Kopf zerspringt! Ich halt's nicht aus! Bring Wasser! Eis! Hilfe! Mein Kopf, mein Kopf ...« Und das eine lange Zeit, und wie ich ihm Wasser ins Waschbecken gieße, steckt er den Kopf hinein und dann wieder wie verrückt durchs Zimmer: »Mein Kopf zerspringt ... Mein Kopf, mein Kopf!« Und dann plötzlich ans Fenster, aufgerissen, sich aufgeschwungen und hinaus – – –
Fünf Stockwerke hoch.
Er war sofort tot. Vollständig zerschmettert. Ach, es war gräßlich. Und ich in dieser Situation, wo ich für seine Frau galt. Ich mag mich gar nicht daran erinnern. Ein paar Stunden später stand ich mit meinem Koffer voll Kleider und hundert Dollar, die Mr. Sh. mir tags[85] vorher geschenkt hatte, auf der Straße. Ich zog dann in ein nahes Boarding und am andern Morgen kam eine Dame zu mir, die die Geschichte in der Zeitung gelesen hatte. Sie sagte, sie interessiert sich für mich, erstens weil sie Mr. Sh. gekannt habe. Sie wohne auch in Buenos-Aires und Mr. Sh. sei ein guter Freund von ihr und ihrem Mann gewesen. Zweitens weil ich eine Landsmännin sei, denn sie war auch Deutsche, Wienerin, aber schon fünfunddreißig Jahre drüben und zwanzig Jahre mit einem Spanier verheiratet und hieß nun Sennora Juanita Ganymez. Sie war auch in Geschäften in New York und wollte am nächsten Tag zurück. Sie hegte offenbar sehr menschenliebende Empfindungen, denn sie erbot sich sofort, sich meiner anzunehmen. Sie hätte eine Pension in B.-A., lauter junge Mädchen, liebe reizende Mädchen, o, sie und ihr Gatte liebten so sehr sich mit Jugend zu umgeben! Wenn ich wollte ... Sie wohnten sehr idyllisch ... Und gut sollte ich es haben, wie ihr eigen Kind gehalten werden und für meine Zukunft würden sie auch sorgen.
Ich war ein gerissenes Hamburger Gassenkind, aber ich war doch zu dumm, um das sehr durchsichtige Geheimnis dieser rührenden Menschenfreundlichkeit zu durchschauen. Die Aufregung und das Gefühl nun wieder ganz verlassen zu sein, verwirrten mich vollends. Ich griff mit beiden Händen zu: andern Tags dampften wir zusammen ab.
Ach Gott, war ich da in eine Mausefalle geraten! Erst als ich drin saß gingen mir die Augen auf. Allerdings war es mir auf der tagelangen Bahnfahrt schon aufgefallen, daß Sennora sich verdächtig an die mitfahrenden Herren herandrängte. Sie war ohnehin schon eine sehr auffallende Erscheinung, ungewöhnlich groß und dick, hyperelegant gekleidet, mit Diamanten von fabelhaften Dimensionen an Händen und Armen und in den Ohren.[86]
Ihr Haus lag in der Nähe der Kais, einstöckig wie fast alle Häuser in B.-A, mit einem grellfarbigen Bild über der stets verschlossenen Haustür, auf dem aus ultramarineblauem Wasser schneeweiße Nymphen emporstiegen und sich vermutlich aus Gêne über ihre gänzlich ermangelnde Toilette okergelbe Wolkenfetzen um den Leib wanden.
Es war – – nun es war eben ein »Haus«, eins, wie es in Buenos-Aires davon viele, sehr viele gibt, und es war ein sehr gut besuchtes und von zahlungsfähigen Reflektanten frequentiertes »Haus«, dem »Sennora« von zwei herkulischen Schwarzen assistiert, vorstand, während Sennor das auswärtige Geschäft machte, indem er die Wirtschaften und Hotels besuchte und neue »Kundschaft« kaperte. Sennoras »Maison« war dafür bekannt, daß es das beste Material von allen maisons in B.-A. beherbergte, und immer einen festen Bestand von sieben bis zehn »Sennoritas« hatte.
Der Geschmack ist ja verschieden. Mein plebejischer Görengeschmack fand die sechs Mädel, die da in unmöglichen Gewandungen umherliefen oder vielmehr schlichen, einfach scheußlich. Nur eine schöne, sehr schöne war darunter, eine entzückende Polin, aus Krakau, die auch deutsch konnte. Das Material war ganz international, aber lauter Europäerinnen, – Engländerinnen, Französinnen, Spanierinnen, die Polin und ich als Deutsche. Amerikanerinnen waren nicht darunter.
Woher Sennora die Weiber hatte, weiß ich nicht, ich vermute durch russische und österreichische Mädchenhändler. Sicher war keine freiwillig gekommen, man hatte sie wohl alle, wie mich, mit List hergelockt und dann war die Tür hinter ihnen zugeschnappt und sie saßen drin wie die Mäuse in der Falle. Die Zeit hatte sie dann stumpf gemacht und apathisch, so daß sie sich nicht mehr gegen ihre Henker auflehnten, und alles gehen[87] ließen, wie es ging. Sennora hielt auf das Renommee ihres Hauses. Wenn eine siech und alt wurde, verschwand sie von der Bildfläche. Wohin mag Gott wissen. Sie bekam ihre »Renten«, wie Sennora sagte. Denn sie hielt auch mir einen langen belehrenden Vortrag über die Annehmlichkeiten des Lebens in ihrem maison. Man erhielt Kost und Kleider; Geld erhielt man nicht, wozu auch? Man brauchte ja nichts. Sennora empfing die Gelder und die »Ersparnisse«, legte sie für jede ihrer »jungen Mädchen« in »Aktien« an.
Ich war erst wie gelähmt vor Entsetzen als ich erkannte wo ich war und was man von mir verlangte. Und dann wollte ich fort; ich dachte im Augenblick nicht an die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, die mir in der fremden Stadt drohten. Aber Sennora ließ mich nicht gehen. Das Tor des Hauses war Tag und Nacht verriegelt und einer der Schwarzen hielt Wache. Ich hatte früher einmal einen Schauerroman gelesen, den Jule mir borgte, und da trug sich etwas Gleiches zu und die Mädchen wurden noch dazu barbarisch mißhandelt. Dergleichen geschah nicht mit mir. Sennora hatte eine »zivilisierte« Methode uns zahm zu machen. Sie nahm mir abends meine Kleider weg und überließ mich mir selber und kein Mensch sah nach mir. Sie hungerte mich einfach aus.
Ich war ja von Veits her an Hungern gewöhnt und machte mir nicht viel daraus, mein Trotz war geweckt, und ich sagte mir: nun gerade nicht, sie sollen mich nicht klein kriegen.
Ja, das denkt man so, und ich war gewiß zäh, aber es kriegte mich doch bald unter. Zwei Tage und eine Nacht hielt ich es aus, aber die Nacht schlief ich schon nicht, es ist ein greuliches Gefühl, eine solche schmerzhafte Leere im Leib und eine Schwere in den Gliedern, und ein Stechen und Brennen in Hals und Magen. Am[88] Morgen wurde mir ein kleines Omelette aus Maismehl und ein Glas Wein gebracht; das war in einer Minute verschlungen, und der Hunger war dadurch erst recht geweckt. Der nun folgende Tag war der schlimmste. Tausendmal schlimmer als das Bohren und Nagen und Stechen des Hungers war der Durst. Das ist eine Qual ... Die Zunge am Gaumen klebend und die Lippen schwarz verbrannt von Atemglut und ein Pochen und Hämmern und Schmerzen im Kopf, daß ich meinte, er müsse mir bersten, und das Herz klopfte wie ein Schmiedehammer und lauter kleine rote Punkte tanzten mir auf den Augen. Zuletzt merkte ich nicht einmal mehr, daß es Hunger und Durst waren, die mich so elend machten, ich war nur krank, ich hatte Fieber, Schmerzen, litt Qualen, deren Art und Ursprung mir nur mehr dunkel bewußt waren, und zeitweilig war ich ganz bewußtlos und lag in einer Art Starrkrampf.
Am Abend kam die Polin – Maria hieß sie – auf einen Augenblick zu mir und schob mir eine kandierte Frucht in den Mund, aber ich hatte nicht einmal die Kraft sie zu zerbeißen und spuckte sie aus und jammerte nur nach Wasser. Das brachte sie mir, und dann sagte sie mit ihrer weichen, singenden Aussprache: »Armes Kind, armes Kind ... arme Kleine ... nützt doch zu nichts ... Warum sich kasteien ... hat alles keinen Sinn – wir müssen suchen durch List wegzukommen ... Soll ich Sennora sagen, daß du essen willst –?«
»Trinken,« sagte ich, »nur trinken –«
Da brachten sie mir Wasser und Limonen und Biskuit, und Sennora freute sich sehr, daß ich nun »ihr liebes Kind« sein wollte. Am andern Morgen mußte ich zwei Papiere unterschreiben, Gott weiß was drin gestanden hat, ist auch ganz gleichgültig. Mein Widerstand war gebrochen. Ich verließ mich auf die Hoffnung, die Maria in mir erweckt hatte, durch List wegzukommen.[89]
Das war nun freilich leichter gedacht als getan. Und was Maria mir erzählte war trostlos genug. »Länger als zwei Jahre hält es keine aus,« sagte sie, »da ist man fertig, alt und häßlich und verbraucht und siech ... Und dann verkauft das Weib uns weiter – – O, ich weiß genau, wo die letzte ihre ›Renten‹ verzehrt, die ist nach San Domingo gekommen. Dann geht das entwertete Material in andere Hände, nach allen Himmelsrichtungen, nach Brasilien, nach Nordamerika, ja selbst wieder nach Europa, in die elenden Spelunken der Hafenbordelle, der englischen und französischen Küstenstädte, wofür jede gut ist, bis sie nach ein paar weiteren Jahren elend verendet ...« Maria war auch erst sieben Monate in Sennoras liebevoller Obhut. Wie sie dahin gekommen war, weiß ich nicht. Es ist möglich, daß sie auch aus kleinen Verhältnissen stammte, aber ich hab mich nie von dem Gedanken losmachen können, daß sie von vornehmer Herkunft war und eine besondere Geschichte hatte. Gesprochen hat sie nie über ihre Vergangenheit. Wie gesagt, man denkt sich zuweilen allerhand verrücktes Zeug zurecht. Tatsache ist nur, daß sie, was Bildung und Manieren und Schönheit anbelangte, turmhoch über uns hinausragte.
Sie war reizend. Ein feines schwarzhaariges Köpfchen auf einem schlanken, biegsamen Hals und prachtvolle große, samtschwarze traurige Augen. Ihr schmales Gesichtchen war so weiß wie ein Taschentuch. Ich kann nicht ohne Rührung an sie denken. Ach nein, es war nicht leicht, da hinauszukommen. Nicht so, als ob wir in immerwährender Gefangenschaft gehalten wurden – – o nein – durchaus nicht. Wir hätten genug Gelegenheit gehabt, durchzukommen, und wir gingen auch oft, je zu zweien, mit Sennora auf der Recolata und im Palermopark promenieren; wir waren dann höchst elegant ausstaffiert und lenkten die Blicke der Herren durch[90] unsere auffälligen Toiletten auf uns, so daß mancher uns folgte. Auch kamen doch viele geachtete und gebildete Herren, ja sogar Deutsche, zu uns, und wir klagten ihnen unsere Leidensgeschichte und flehten sie an uns zu helfen, aber sie lächelten nur und zuckten die Achseln und meinten, das kenne man schon, die Dämchen wollten sich interessant machen und einen Ritter und Schatz für sich allein kapern. Jede erzähle solchen Roman, das sei alberne Aufschneiderei, wer zu Sennora Ganymez komme, die sei kein unschuldiges Lämmlein mehr usw.
Das Buenos-Aires ist gerammelt voll von Deutschen, wie leicht hätten wir bei meinen Landsleuten Hilfe finden können, aber uns wollte keiner helfen. So ist es immer. Gewiß, wenn man es in der Zeitung liest, wie sich ein armes Mädel aus Not und Schmach ums Leben gebracht hat, dann heißt es: Wie schrecklich, wenn man das gewußt hätte – – Ja »man«. Im Plural ist »man« immer menschenfreundlich und hilfsbereit. Aber im Singular hat man tausend Rücksichten und Bedenken – dieser muß auf seine Familie Rücksicht nehmen, jener hat keine Zeit: die Kurse und das Geschäft: der Reis, der Kaffee, die Hölzer, tausend wichtige Dinge nehmen ihn in Anspruch. Immer heißt es: »Was geht mich das an? Warum soll ich mich gerade einmischen, gerade ich? Wer mit den Händen im Schmutz rührt, besudelt sich ... Ich habe keine Zeit, ich habe anderes zu denken, was schert es mich!« So ist es überall in der Welt, nicht nur in B.-A.
Im Hamburg und Berlin kann man auch verrecken, ohne daß jemand die Hand ausstreckt. Der einzelne hat seine kleine egoistische Welt, in der er lebt und die er sich abgesteckt hat, und was dahinter ist, hat für ihn nur das Interesse des »Publikums«, des »Zuschauers«, »geht ihn nix an«.
Nur daß bei uns die Behörden doch ein bißchen[91] straffer sind. In B.-A. versagt der Apparat der hohen Obrigkeit in solchen Fällen gänzlich. Einmal soll eine der Mädchen von »Sennorita« auf die Polizei gerannt sein, da hat die Polizei höchst eigenhändig sie in das »Maison Ganymez« zurückgebracht – – Selbst vom Konsulat hat man keine sofortige Hilfe zu erwarten, und eine langwierige Untersuchung kann nichts nützen. So liegen die Sachen in B.-A.
Wer weiß was aus mir geworden wäre und ob ich heute noch lebte, wenn der Zufall, oder – ich möchte in diesem Fall lieber sagen – das Schicksal – uns nicht zu Hilfe gekommen wäre. Als ich sechs Monate dort war, herrschte eine furchtbare Seuchenepidemie in B.-A. Wen die Cholera verschonte, der ging am gelben Fieber zugrunde, Hunderte fielen täglich auf der Straße um wie die Fliegen. Auch »Sennora« erkrankte an der Cholera und krepierte nach vier Tagen. Von dieser Kreatur, mit der Gott die Menschheit gestraft hatte, darf man wohl sagen, daß sie der Teufel holte. Dann legte sich einer der Schwarzen und dann zwei der Mädchen und dann wurde das »Maison Ganymez« polizeilich geschlossen und wir kamen in Quarantäne. Nach acht Tagen wurden wir wieder entlassen, weil die Quarantänehäuser überfüllt waren. Nun entschlossen Maria und ich uns, nochmals unser Heil zu versuchen und nun uns lieber ersaufen, als nochmals in solche Höhle kommen. Wir gingen also wieder auf das deutsche Konsulat und fanden dort – wenn auch nicht von amtlicher Seite, – wirklich die erhoffte Hilfe! Wir mußten nämlich in einem Vorzimmer lange warten und mit uns wartete ein alter Herr, auch Deutscher, wie sich herausstellte, Mecklenburger, also halber Landsmann. Er war Schlächtermeister in einer kleinen Stadt dort gewesen und vor ein paar Jahren zu seinen Kindern nach Nordamerika, die dort eine große Exportschlächterei hatten, übergesiedelt. Wir kamen in ein Gespräch und[92] erzählten ihm unser Schicksal, und der alte Herr schlug beide Hände über dem Kopf zusammen und sagte nur immer: »Ihr armen Kinder! Ihr armen Kinder!« Es war ein guter, alter Mann, so 'ne zweite Tante Schlappkohl ins männliche übersetzt, mitleidig und vertrauensvoll. Er meinte, ob wir nicht mit nach Nordamerika kommen wollten, dort, ganz oben in Britisch-Kolumbien wohnten seine Kinder – er war mit seinem ältesten Sohn in Geschäften in Südamerika – und seine Schwiegertochter, auch eine Mecklenburgerin, hatte soviel Not mit den amerikanischen Dienstboten. Natürlich wollten wir, er versprach uns, mit seinem Sohn zu sprechen, und da sich Mr. Jonas jun., auch ein freundlicher, gutmütiger Mann, einverstanden erklärte, wurde die Sache nachmittags perfekt.
Wir fuhren mit einem französischen Schiff an der Küste entlang bis Bahia, wo Mr. Jonas auch Geschäfte hatte. Wir fuhren abends ab und blieben an Bord, bis die Hafenlichter unseren Blicken entschwunden waren, und ich war so glücklich, daß wir fort kamen, daß ich sang und jubelte, aber Maria war sehr still. Ich sehe noch heute ihr kleines süßes Gesicht und ihre traurigen Augen vor mir, sie stand an Bord und blickte ins Wasser, in dem die Milliarden Sternchen des tiefblauen! Nachthimmels funkelten. An was mag sie gedacht haben?! – An Heimat, Eltern, Geschwister, vielleicht an einen verlorenen Geliebten? Ich weiß es nicht. Sie sprach nie davon, nie. Wenn man sie fragte, wehrte sie ab: »Laß das. – Nicht daran rühren.« –
Wir zogen uns früh in unsere Kabine zurück, denn Maria war nicht wohl, und in der Nacht wurde sie furchtbar krank; bekam Krämpfe und war plötzlich ganz steif und ganz grün im Gesicht. Der Schiffsarzt kam und konstatierte Cholera, aber es durfte niemand wissen, weil sonst unter der Besatzung und den Passagieren eine Panik[93] ausgebrochen wäre. Sie war auch gleich bewußtlos und lebte nur bis zum andern Abend. In der Nacht darauf wurde ihre Leiche in Segelleinen gewickelt, in den Ozean gesenkt.
Ach, es war furchtbar. Ich war selbst krank vor Schmerz und Trauer. Es war mir, als hätte ich den einzigen Menschen verloren, der zu mir gehörte, und so war es ja eigentlich auch. Ich war erst sechzehn Jahre alt, aber ich fühlte doch in jenem Moment, als Marias Leiche dem Meer übergeben wurde, den großen unerbittlichen Ernst des Lebens wie des Todes; und nie werde ich die mitternächtliche Stunde auf dem Ozean vergessen. Einen Augenblick stoppte das Schiff, dann ging es wieder Volldampf voraus, und das Wasser rauschte eintönig wie vorhin und keine Spur deutete mehr, wo die arme, schöne, junge Polin ihr frühes Grab gefunden hatte. Ob noch Verwandte von ihr leben? Wie ist das Leben doch traurig, wenn man darüber nachdenkt. Wozu wird nun ein Mensch geboren, wenn er keine bessere und höhere Bestimmung hat, als eine kurze Strecke Wegs mit Leiden über die Erde zu gehen und dann spurlos zu verschwinden in das ewige Nichts des Vergessenseins ...
Es ging mir lange nach, aber schließlich siegte meine ziemlich robuste Veranlagung doch über die traurigen Eindrücke. Es gab täglich soviel Neues zu sehen. Von Bahia aus fuhren wir quer durch Brasilien und dann die Westküste hinauf, bis wir nach Wochen in dem kleinen Nest in Kolumbien anlangten, wo die beiden Brüder Jonas die große Exportschlächterei hatten.
Die kleine Frau Jonas empfing mich nicht unfreundlich. Sie war eine sonderbare Dame, ein Gemisch von adoptiertem Yankeedünkel und deutscher Kleinstädterei. Die biedere, in kleinen Verhältnissen aufgewachsene Mecklenburgerin verleugnete sich nicht in ihr, trotz ihrer eleganten Häuslichkeit, ihrem Schmuck und ihren kostspieligen[94] Toiletten. Sie kehrte gern die reiche Amerikanerin, die nichts in Erstaunen setzt und der kein »unmöglich« imponiert, heraus, aber dann traten dazwischen immer kleine Züge hervor, die das ehemalige Bürgerkind aus Krähwinkel in Mecklenburg deutlich erkennen ließen. Ich war gewiß eine dumme Pute, aber sie war noch dümmer. Ihre Schwägerin, die andere Frau Jonas, war geborene Amerikanerin, ehemalige Erzieherin in reichen Häusern, und die wußte wie's gemacht wird, und verstand es, mit Schick und Eleganz das Geld ihres Mannes auszugeben; und meine kleine Frau Lizzie – sie hatte ihren guten deutschen Namen Lisbeth anglisiert – suchte es ihr nachzutun. Zwischen beiden Schwägerinnen herrschte immer etwas Neid und ein wenig Reizbarkeit.
Sonst war Frau Lizzie herzensgut, und ich fühlte mich recht wohl bei ihr. Es wehte etwas wie deutsche Luft und deutsche Gemütlichkeit durch das Haus. Die Herren und zumal der gute alte Herr Jonas waren sehr nett, und ich hatte überhaupt über nichts zu klagen.
Auch darin zeigte Frau Lizzie einen echt deutschfraulichen und mütterlichen Zug, daß sie mich gewissenhaft beaufsichtigte. Sie hatte von ihrem Mann und Schwiegervater gehört, was ich durchgemacht hatte und hielt es für ihre Pflicht über mich zu wachen, und das war richtig und gut. Denn ich hatte bald mein Ungemach vergessen und war wieder aufgelegt zum Abenteuern und Anbandeln, und die Gelegenheit bot sich genug dazu. Unter den jungen Schlächtern und Gehilfen des großen Betriebes – es arbeiteten zirka achthundert Mann in der Schlächterei und Wurstmacherei – waren viele hübsche und stattliche Kerle. Aber Frau Lizzie paßte mir auf die Finger und über ein harmloses Getechtel kam es nie hinaus und dafür bin ich ihr noch heute dankbar.
Ich blieb zwei Jahre bei Jonas und blühte dort ordentlich auf. Ich fühlte mich dort ganz zu Hause und glaube[95] andrerseits ja auch meine Pflicht getan zu haben. Wenn meine Frau Lizzie nicht gerade ihren Yankeekoller hatte, behandelte sie mich mit freundlicher Familiarität. Oft wenn sie allein war, rief sie mich zu sich und dann saßen wir an jeder Seite des Kamins – es war höllisch kalt da oben – und schnackten und klöhnten gut deutsch über dies und jenes, denn meine kleine Frau klatschte gern ein bißchen. Es war ganz idyllisch und eigentlich waren die Jahre bei Jonas die schönsten, ruhigsten und glücklichsten meines Lebens. Ich konnte, da ich viel geschenkt bekam, fast jeden Monat fünfzehn Dollar sparen und habe Tante Schlappkohl einmal fünf und einmal zehn Dollar gesandt und einmal mit einem Bekannten der Jonas, der nach Hamburg reiste, ein schwarzes Bärenfell, die dort billig zu erstehen sind, mitgeschickt, worüber sie sich unendlich gefreut hat. Ich schrieb ihr öfters und erhielt über lang eine Antwort ... liebe, einfältige, mütterliche Briefe in drolligem Deutsch und noch drolligerer Orthographie, aber sie freuten mich – es war so viel Güte drin – und sie waren die einzigen Brücken, die mich in das alte Vaterland zurückführten.
* * *
Donnerstag geht der Rummel bei Heinrichs los. Die Wohnung ist fertig und er kann ein paar Tage früher einziehen. Ich bin ja mächtig gespannt wie die Kiste abläuft und wie das Lottchen sich darin findet. Er ist löwenmutig, hat aber doch für den großen Wurf wohlweislich einen Tag ausgesucht, an dem Schwiegermutter und Schwägerin nicht zu Hause sind. Beide fahren Mittwoch abend zu einer Hochzeit nach Kyritz und kommen erst Freitag mittag wieder. Wenn Lotte Vernunft annimmt kann ja alles gut gehen, aber ich glaube, er kriegt noch was zu zirpen an ihr, sie ist zu dämlich. Gestern[96] abend hatte ich alle meine Freunde um mich. Frédéric, der gekommen war, um meine Aufzeichnungen zu kontrollieren, Heinrichs, den alten Herrn Lautbach und Max Ilscher. Die vier waren die allerletzten im Lokal und wir plauschten noch eine Weile und nachher brachte Max Ilscher mich nach Hause. Der Mann wird mir immer sympathischer. Er vereint ebenso alles in sich was ich wünsche und beanspruche: hat angenehme Formen, sieht gut aus, hält auf ein propperes, respektables Äußere und ist doch kein sogenannter »feiner Herr«, sondern ein tüchtiger, intelligenter, zielbewußter Arbeiter, also Art von meiner Art und deshalb eine mit mir korrespondierende Natur. Ich merke, daß ich ihm gut sein werde, obgleich er mir noch keine eigentliche Liebeserklärung gemacht hat. Freilich werde ich auf meiner Hut sein müssen, denn heiraten will ich nicht. Er auch nicht ... kann es auch nicht in seinen Verhältnissen, schon wegen der Kinder nicht.
Kann man denn nicht auch mal jemand platonisch, rein freundschaftlich zugetan sein ...?
Nein, man kann das nicht. Es ist sehr traurig, aber das ist absolut ausgeschlossen.
Entweder es wird ein Verhältnis daraus, oder man heiratet einander. Dazwischen gibt's nichts.
Vorläufig halten sich unsere Beziehungen noch in ganz formalem Rahmen. Es war eine schöne, laue Herbstnacht. Wir wanderten noch ein Stück übers Ziel hinaus. Er erzählte mir von seinem kleinen Mädel, die sehr begabt sein soll, eine höhere Töchterschule besucht, und jetzt wieder versetzt würde. Er scheint seine Kinder sehr zu lieben, auch seine alte Mutter, und das gefällt mir an ihm, es ist ein Zeichen von Herzensgüte. Ach, wenn man so vom Schicksal umhergeworfen wird, wie ich, lernt man die Güte am Menschen schätzen. Güte und Charakterfestigkeit – zwei schöne Dinge; aber leider[97] selten beisammen; die charakterfesten, energischen Männer sind meist egoistisch, rücksichtslos, oft brutal, und die gutherzigen leiden überwiegend an einer bedauerlichen Breiigkeit des Charakters, nämlich an notorischer Waschlappigkeit, siehe Heinrichs. – Frédéric findet meinen Stil ganz passabel. Er sei zwar ein bissel holperig, aber für eine Dilettantin durchaus gut. Er hätte mich immer für ein intelligentes Weib gehalten, und ich zeige, daß ich der Aufgabe, die er mir gestellt, einigermaßen gewachsen sei. – Also: Lob, Strich, einen ruff.
Ich soll mich nur jetzt dahinter machen, meint er, sonst würde das Werk zu breitschichtig und kein Verleger druckt es. Schad't nix. Dann habe ich wenigstens meine Memoiren für meine zukünftigen Kinder geschrieben.
* * *
Bei Jonas war ein altes Faktotum, das schon sieben Jahre, solange wie die Großschlächterei bestand, bei ihnen arbeitete. Lütt Dirken Hannemann war geborener Deutscher, aber schon in jungen Jahren nach Amerika gekommen, das er in fast allen Teilen, Nord und Süd und Mittel, und allen Himmelsrichtungen durchquert hatte und wie seine Tasche kannte. Mr. Dirken – so hieß er der Kürze halber bei uns – war den siebzig wohl näher als den sechzig, ich glaube, er wußte selber nicht wie alt er war. Er hatte schon äußerlich so was vom Abenteurer an sich, das verwitterte, zigeunerbraune Gesicht, die schwarzen, noch stahlblanken Augen, die kühne Adlernase und eine etwas räuberhaft-pittoreske Aufmachung: Kniestiefel und Joppe und offenes Hemd mit einem direkt genial geschlungenen Schlips.
Er war so ziemlich alles gewesen, was einer, der es in Amerika zu etwas bringen möchte, werden kann. Tierbändiger und Zeitungsmensch, Kaufmann und Stiefelputzer, Manager und Konferenzier, Schuster und Viehhändler,[98] Kellner und Schlächter und hunderterlei mehr. Wenn er es trotz alledem zu nichts gebracht hatte und bis zu seinem Eintritt in das Jonassche Etablissement arm wie Hiob geblieben war, so lag das wohl weniger an Intelligenz- und Energiemangel, als an seiner Ruhelosigkeit, dem ewigen Hang sich zu verändern, neue Intentionen in Taten umzusetzen. Bei Jonas, wo er die Aufsicht über die Kühlräume führte, hatte er anscheinend Anker geworfen. Anscheinend! – Denn plötzlich, nach siebenjähriger Ruhepause regte sich wieder das Abenteurerblut in ihm: er wollte nach Alaska, ins Goldgebiet, nicht um nach Gold zu graben, sondern um mit seinem in den sieben Jahren ersparten Kapitälchen dort eine Schenke zu errichten, mitten in den Goldfeldern unterhalb Dawison City am Klondike ...
Die Jonas suchten ihm seinen abenteuerlichen Plan auszureden, aber er verharrte auf seiner Idee, und als die Herren sahen, daß mit dem wunderlichen Alten nichts anzufangen war, gaben sie ihr Bemühen, ihn zur Räson zu bringen, auf. Allgemein glaubte man, daß er, trotz seiner zähen Natur und seiner eisernen Gesundheit die furchtbaren Strapazen der Reise dahin wohl nicht überstehen werde.
Ich war anno dazumal in den Kikkeljahren. Ich war gesund, es ging mir gut, Hunger und Schläge, Qual und Schmach waren vergessen. Ich konnte über jeden Dreck lachen. Und wo sich eine Gelegenheit bot jemand anzuulken und faule Witze zu reißen, ließ ich sie nicht vorübergehen.
Den alten Dirken Hannemann mußte ich in meiner Schnoddrigkeit natürlich auch uzen. Was er mir mitbringe von Klondike? Hoffentlich doch ein paar Pfund Gold – so zwei Pfund rote Kaffeebohnen – das genüge.
Der Alte sah mich durchdringend an. »Sie können mitkommen, Miß Mary ...« sagte er ernsthaft.[99]
Ich wollte mich totlachen. Aber er blieb ernst.
»Haben Sie Eltern? Geschwister? Einen Liebsten?«
»Nichts von allem. Ganz vogelfrei ...«
»Also. Warum denn nicht? Sie sind jung, stark, mutig. Könnten Ihr Glück machen. Auf der breiten ebenen Straße liegt heute das Glück selten; wer es finden will, muß sich eventuell auch mal den Eiswind um die Nase streichen lassen. Die Mädel suchen das Glück ja meistens im Heiraten. Well. Warum auch nicht? Im Goldgebiet sind die Weiber rar, besonders die jungen, hübschen. Könnte sich leicht ein Claimbesitzer für Sie finden, Miß Mary ... Und wer drüben Glück hat, dem liegt es gleich glubsch. Eine Million Dollar sind nichts seltenes ...«
»Ach Unsinn,« sagte ich. »Ich werde gerade meinen warmen Platz hier aufgeben und mich da in die Wildnis unter die rohen Menschen begeben ...«
»Roh?« sagte Mr. Dirken trocken, »was das anbelangt, little Mary ... Die Rohheit finden Sie am meisten da, wo die Menschen eng aufeinander sitzen und wo es den Leuten gut geht. Da gedeihen die Laster, die Trunksucht und die Geilheit und die Brutalitäten. Aber wo der Mensch jeder für sich und auf sich allein steht, angespannt in schwerer, mühsamer, geduldfordernder Arbeit, bei der der Kopf nüchtern und der Verstand klar bleiben muß, wo die Kraft sich einzig auf das Werk der Hände konzentriert und nichts Überschüssiges da ist, was sich umsetzt in lüsterne Begehrlichkeit – da ist's mit der Roheit gar nicht so ängstlich. Da steht das kühne, ehrliche Weib, das den Gefahren trotzt und sich mutig als Mensch unter Menschen stellt, höher im Kurs als in den zivilisierten Städten, wo man die Frauenzimmer gering schätzt und sie als Freiwild betrachtet. Überlegen Sie sich's Miß Mary. Das Schlechteste wär's lange nicht.«[100]
»Was soll ich denn da?« sagte ich. »Gibt's denn da auch Herrschaften, bei denen ich dienen kann? Und wenn – soll ich die gute Herrschaft für das Unsichere im Stich lassen –«
»Ach wo .... hat sich was mit Herrschaften. Sie bleiben bei mir – Gebrauche ohnehin ein Frauenzimmer für die Bude. Wir werden Geld wie Heu einnehmen, Miß Mary. Ein Drittel vom Reingewinn – – topp?«
»Darauf muß ich erst schlafen, Mr. Dirken –«
Aber ich schlief nicht darauf. Der »Traum vom Golde«, der in mir geweckt war, scheuchte den Schlaf von meinen Augen, und als ich endlich eindöste, träumte ich wirklich von Gold, von viel rotem, glitzerndem Gold, von Millionen, von einer Equipage, in der ich in New York über den Broadway und nachher über den Jungfernstieg in Hamburg fuhr und die mich vor Tante Schlappkohls Haus brachte ...
Drei Tage lang ging ich mit der Idee schwanger, dann war mein Entschluß fertig: ich gehe mit Lütt Dirken Hannemann nach Klondike.
Die Jonas waren starr, lachten mich aus, machten mir Vorstellungen, als sie merkten, daß es mir ernst war. Mrs. Lizzie war schwer gekränkt, schalt mich undankbar, erinnerte mich an die enormen Kosten, die meine Reise von Südamerika ihnen gemacht und an all das Gute, das ich in ihrem Haus genossen hatte. Ich sah ja alles ein, aber die Idee lag unverrückbar fest wie eingebrannt in meinem Hirn. Frau Lizzie maulte noch einige Tage mit mir – und das konnte man ihr nicht verdenken, denn es ist in Amerika und besonders da hoch im Norden, sehr schwer einen brauchbaren und ehrlichen Dienstboten zu bekommen, ganz abgesehen von einem eingearbeiteten – aber jeder ist sich doch selbst am nächsten. Und der alte Herr Jonas fuhr zwischen all das Larifari mit einem echten deutschen Kernfluch.[101]
»Zum Donnerwetter, macht doch das Mädchen nicht kopfscheu! Wenn sie den Mut und Unternehmungsgeist hat, weshalb soll sie nicht? Ist ja nicht von Zucker und ihr Leben lang nicht in Watte gewickelt gewesen. Herrgott! Ein kerniges, wetterfestes Mädchen, jung und unerschrocken – Laß sie man, die kommt schon heil wieder, und Dirken wird auch schon ein Auge auf sie halten –«
Da verstummten denn endlich ihre Einwendungen. Es war ein hübscher Zug von den Jonas, daß sie den alten Vater so in Ehren hielten. Dieser einfache alte Mann, der, genau genommen, eigentlich das Gnadenbrot bei seinen Kindern aß, wurde nichtsdestoweniger als Chef der Familie respektiert, in allen internen Angelegenheiten war er die oberste und maßgebende Instanz. Es ist ja nicht mehr als in Ordnung und sollte ohne weiteres überall so sein, aber wo findet man es sonst noch heutzutage?! Den meisten sind die alten Eltern im Wege und ein Dorn im Auge. Auch die Schwiegertöchter mußten tun, was Großvater Jonas wollte, darauf hielten ihre Männer. Lizzie tat es gern, die stolze Frau Alice gezwungener.
Als der alte Herr so ein Machtwort gesprochen hatte, änderte sich die Stimmung und nun waren sie plötzlich alle besorgt um unsere Ausrüstung, und unsere Abenteuerfahrt in das Goldland bildete den täglichen Gesprächsstoff der Familie. Sogar Mrs. Alice beteiligte sich mit guten Ratschlägen. Wir bekamen eine richtige Eskimoausrüstung, fast ganz von Pelz, leicht und warm und bequem für die Überschreitung des Gebirges. Auch ich bekam Männerkleidung was mir zuerst lachhaft erschien, aber hinterher war ich doch dem guten Jonas dafür dankbar, denn in Frauenkleidern wäre die mit wirklich ungeahnten, ungeheuren Schwierigkeiten verknüpfte Reise und besonders der entsetzliche Übergang über den Whitepaß unmöglich gewesen.[102]
Heute ist es ja im Vergleich zu damals im Jahre 94 ein Kinderspiel nach Klondike zu gelangen. Man kann jetzt mit der Bahn bis ganz zum Lake Bennet und von da per Dampfer nach Dawion City kommen. Aber damals ging noch überhaupt keine Bahn. Wir haben die ganze fürchterliche Reise auf Karren, Wagen und zu Fuß zurücklegen müssen.
Man denkt sich alles so leicht. Ich hatte auf der Landkarte die Route studiert und meinte, daß Alaska doch eigentlich in unserer Nachbarschaft liege, wa ja im Grunde auch richtig ist, der Luftlinie nach waren wir in unserem Städtchen Watscome im Süden von Kolumbien nicht so arg weit von unserem Ziel entfernt, besonders nicht, wenn man die weite, weite Reise von Argentinien nach Watscome dagegen in Betracht zieht. Aber ich rechnete natürlich nicht mit dem schweren Weg durchs Gebirge, über Flüsse und Seen, auf denen keine Dampfer fuhren und dem gräßlichen Klima und der monatelangen Reise ohne Obdach.
Wenn ich heute daran zurückdenke, dünkt es mich gar nicht so gewaltig mehr, die Ferne verwischt die Erinnerung an das Häßliche und an das Schwere, was man durchgemacht. Na und dann war ich eben achtzehn Jahre und so durchtränkt von Hoffnungsfreude und Erwartung und Abenteuerlust. Es war zwar mühevoll und schwer, aber heute sage ich trotz allem und trotzdem sich meine goldenen Träume nicht erfüllten: Schön war's doch!!
Ich habe mir auf dieser Fahrt doch ein Kapital erworben, das ich nicht für viele Tausende hergeben möchte: ich habe meinen Blick erweitert, ich bin dort in der Wüstenei in wenigen Monaten an Verstand und Urteilskraft, Erfahrung und Lebenskenntnis um viele Jahre gereift, und das ist mir alles später wieder zugute gekommen. Wir reisten Anfang März ab. Wir schlossen uns einer[103] kleinen Kolonne an, die von den Staaten herüberkam, vierzehn Mann, vier Mann gehörten zu uns, waren von Dirken angeworben zum Transport, und wir beide, also zusammen zwanzig Personen. Die Gebrüder Jonas hatten tausend Dollar mit ins Geschäft gesteckt und wir führten einen ganz ansehnlichen Transport von Flaschen und Lebensmitteln, alles natürlich Konserven, mit uns. Die Sachen waren in überaus sinnreicher Weise verpackt, ein Uneingeweihter hätte in seinem Leben nicht geraten, wieviel Ware die schmalen handlichen Behälter bargen. Die Wagen, oder vielmehr Karren, waren so eingerichtet, daß sie nicht nur als Schlitten benutzt werden konnten, sondern daß sie uns auch als Obdach für die Nacht dienten, was eine große Notwendigkeit war, denn sonst wären wir wohl unterwegs erfroren oder von den Wölfen und Bären gefressen. –
Ich kann wohl sagen, daß unsere Truppe mit zu den Pionieren von Klondike gehörte; 96 und 97, als der große Zuzug kam, war schon vieles anders und besser. Aber dafür hatten unsere Leute auch mehr Chancen, und Hunderttausende Dollar Gold sind gehoben, ohne daß ein Hahn danach krähte. Die Leute gingen geheim mit ihren Schätzen um.
Unter unserer Kolonne befand sich noch eine Frau. Sie war auch in Männerkleidern und begleitete ihren Mann, erst in den Goldfeldern erfuhr ich, daß sie eine Frau war.
Woher all die Gesellen kamen?! Gott weiß es. Zusammengewirbelt aus allen Weltzipfeln, Männer, denen – das sah man ihnen an – das Schicksal übel mitgespielt hatte, Nietenzieher des Lebens, die nun noch einmal einen letzten trotzigen Sturmlauf auf das Glück riskierten, – die vor keinem Entweder – Oder zurückschreckten und vor keiner Konsequenz Halt machten. Alles sehnige, verwegene Kerle, dieser und jener mag[104] einiges auf dem Kerbholz der bürgerlichen Gesellschaft gehabt haben, – die verbissenen Züge und die harten Linien um Mund und Augen redeten eine auch für Unbefangene verständliche Sprache.
Arme Teufel, die ihr letztes für diese Abenteurerfahrt zusammengekratzt hatten, waren alle.
Oft, wenn ich später in den eleganten Lokalen abends hinter dem Büfett stand, und auf die lachenden, tafelnden Menschen schaute, wenn die Kristallüstres funkelten und die Sektkorken knallten, gedachte ich meiner Weggenossen nach Klondike. Wie sind die Güter dieses Lebens doch ungerecht verteilt. Es muß gewiß Unterschiede geben, Begüterte und Minderbegüterte, aber daß die weise, die »göttliche« Weltordnung ihre Sache nicht besser einzurichten verstand, als daß sie neben tausenden Übersättigten hunderttausend ganz Enterbte setzte, das ist doch ein recht betrübendes Armutszeugnis für die sogenannte Allmacht und Weisheit des schöpferischen Gedankens.
Ziemlich halbwegs auf unserer beschwerlichen Reise am Lake Bennet stießen noch vier Reisende zu uns. Unter diesen ein junger Deutscher, ein blasser, schmächtiger Mensch, dem man es ansah, wie ihn die Strapazen der Reise mitnahmen.
In den Kleidern hängen blieben sie uns ja allen nicht. Wenn ich mich nicht vor mir selber meiner Feigheit geschämt hätte, würde ich meinen Entschluß verwünscht und mich wieder nach meiner guten Stelle bei Jonas' zurückgesehnt haben, aber ich unterdrückte solche Anwandlungen, mir allein war der Rückzug abgeschnitten, und ich habe mich immer willig in Unvermeidliches schicken können.
Auf der monatelangen Reise lernten wir Reisegefährten uns untereinander doch wenig kennen. Es waren schweigsame Menschen; wenn schon gesprochen[105] wurde, drehte sich die Unterhaltung um Reiseangelegenheiten und um die Aussichten in den Feldern. Nur der junge Deutsche, Robert Kornbrück hieß er, schloß sich mir näher an und wurde zuweilen mitteilsamer, und obgleich er dreiundzwanzig, also fünf Jahre älter als ich war, bemutterte ich ihn ein wenig, den guten Jungen.
Aus Westfalen war er, der Jüngste von sieben Geschwistern, die die Eltern – der Vater war Bergmann gewesen – kümmerlich groß gebracht hatten. Nun war die Mutter schon lange Witwe und saß, da Gicht und Rheuma sie gelähmt hatten, im Siechenhaus des Dorfes. Denn das alte traurige Wort, daß eine Mutter eher sieben Kinder ernährt, als sieben Kinder eine Mutter, bewahrheitete sich wieder einmal. Von sechsen rührte keiner eine Hand für die arme alte Mutter, nur der Jüngste hing mit inniger Liebe an ihr. Um der Mutter willen war er ausgewandert, für sie hoffte, strebte, arbeitete er, um ihretwillen war er mit seiner kleinen, mühsam ersparten Summe auf dem Wege in die unwirtlichen Felder Alaskas. Ich kann hier keine große Reisebeschreibung geben, die würde zu weit führen. Wenn die Schriftstellerei sich lohnt, schreibe ich darüber noch mal eine Extrasache. Unsere Reise wurde noch ziemlich vom Wetter begünstigt, wie möchte es um uns gestanden haben, wenn wir unterwegs eine lange Regenzeit, oder eine noch strengere Kälte gehabt hätten!!
Bei der Überschreitung des Chilkoolpasses verunglückte einer unserer Reisegenossen; zum Glück war er sofort tot, er hätte sonst elend verenden müssen, denn wir hätten ihn nicht mitnehmen können. Teilweise waren die Wände so steil, daß man meinte, sie stiegen senkrecht auf, und die endlosen Schneemassen täuschten dermaßen, daß wir nur Schritt für Schritt mit unserem vielen Gepäck voran konnten. Zwei gingen immer voran kundschaften, indem sie den Schnee auf seine Festigkeit untersuchten,[106] streckenweise konnten wir nur auf allen Vieren kriechend und platt an die Erde gedrückt fort, da mußte der Weg oft zehnmal zurückgelegt werden, ehe wir alle Sachen durch hatten. Bisweilen sahen wir uns plötzlich einem breiten See oder einem reißenden Fluß gegenüber, der uns den Weg abschnitt. Ein paar der Männer sprangen anfangs beherzt hinein, um hindurchzuschwimmen, aber das war nur ein- oder zweimal, das Wasser war so eiskalt und die Strömung so stark, daß sie ihre Waghalsigkeit nahezu mit dem Leben bezahlten. Wir mußten uns in solchen Fällen eben erst wieder niederlassen und Fähren zimmern, auf denen wir dann mit Ach und Krach überquerten. Aber schrecklicher als alles war die Tour über den Whitepaß am Yukonstrom. Da hatte es nämlich acht Tage geregnet. Die feuchte, eisige Kälte drang durch unsere, im Laufe der Reise halb zerrissenen Pelzkleider und legte sich uns wie nasse, eisige Tücher um die Glieder, so daß wir das Gefühl hatten, nackt zu gehen. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Der Regen hatte die Schneemassen teilweise aufgelöst und in unergründliche Moraste verwandelt. Wir versanken streckenweise bis unter die Achselhöhlen in wässerige Schlamme und Schneeschlacken, dann wieder ging es spiegelglatte, schlüpferige Wände hinauf, in die erst Stufen gehauen werden mußten, ein paarmal bin ich hingestürzt, daß mir die Funken aus den Augen sprangen und eines Abends brach ich buchstäblich vor Erschöpfung und Müdigkeit zusammen. Meine Hände, Arme, Füße und Beine bluteten aus unzähligen kleinen, von Schürfungen, Stößen, Fallen und sonstigen Verletzungen herrührenden Wunden, meine Füße waren geschwollen, in meinem Kopf war eine schmerzhafte Leere, ein dumpfes Nichtbewußtsein und in meinen Gliedern eine Schwere, als wäre jedes einzelne mit einem Zwanzigpfundgewicht behangen, ich konnte nicht weiter, ich war total am Ende[107] meiner Kraft angelangt und hatte nur einen Wunsch, mich lang in den nassen Schnee hinzulegen und zu schlafen, zu schlafen, um am liebsten nie mehr aufzuwachen. Zum Glück für mich ging es den anderen nicht besser und wir beschlossen trotz der ungünstigen Situation einen Tag zu rasten.
Schweigend richteten wir uns so gut es ging ein; ein dumpfes, niedergedrücktes Gefühl lastete auf uns allen. Ein Häufchen zu Tode erschöpfter Menschen kauerte an dem grauen, mit Schnee und Eisschlamm bedeckten Berghang dicht zusammen. Ach, es war ein trostloses Bild!
Eine graue, finstere unwirtliche Berglandschaft, kahle Felsen, öde Bergzipfel, triefende glitschige Wände, kein Baum, kein Strauch, gar keine Vegetation, alles leblos wie ausgestorben und darüber ein niedriger gelbgrauer Himmel mit schwarzem, ziehenden Gewölk. Eine große Niedergeschlagenheit und Entmutigung überkam uns alle. Keiner sprach ein Wort, aber jeder wußte, was der andere dachte. Wir waren eben alle solidarisch in dem Gefühl des Isoliertseins von der Welt, die hinter uns wogte und lebte, wir fühlten uns als die freiwillig Verbannten aus dieser Welt, und es fror uns in der Seele. Alle bunten hoffnungsfrohen Bilder waren ausgelöscht von diesem kalten, schaurigen Grau das uns umwogte und umhüllte und alles Freudige und allen Lebensmut aufsog und erstickte. Der kleine Deutsche konnte sich nicht halten: er weinte, und niemand fand den Mut, über seine Tränen zu lächeln. Wir konnten überhaupt nicht lächeln, und wenn es nicht konfus klänge, möchte ich sagen: der kleine Westfale war stärker als wir, seine Empfindungen waren noch nicht eingefroren. Ich war zu müde, um schlafen zu können, und ich glaube, es ging den andern nicht besser. Ich lag wie ein Stück Holz auf meiner Decke und rührte kein Glied, aber meine Gedanken sprangen vom Hundertsten ins Tausendste. Auch diese[108] Nacht unter freiem Himmel in den Schneefeldern des Whitepasses in Alaska vergesse ich bis an mein Ende nicht.
Ich sah den Morgen dämmern und ich glaube, ein Maler würde sich über die wunderbaren Farbenkontraste des Horizontes gefreut haben. Blutrot, wie eine ferne brennende Stadt mit Schloten, Türmen, Kuppen und Zinnen stieg es auf, graue, dünne Wolkengebilde zogen wie feine Rauchschleier darüber, dann wieder verschwand der Horizont in einer einzigen knallroten Linie, die sich scharf von dem Schwarz der Wolkenbänke und dem traurigen Grau des Himmels abhob.
Am nächsten Tage war prachtvolles Wetter und wir durften deshalb nicht länger ruhen. Deshalb sammelten wir unsere todmüden Knochen zusammen und brachen auf. Über den Yukon ging es weiter in die Wildnis hinein bis wir nach weiteren vierzehn Tagen im südlichen Winkel von Klondike Halt machten und uns einrichteten. Die anderen verstreuten sich, blieben aber doch alle in der Nähe.
Wir hatten ungefähr ein Drittel unserer Vorräte unterwegs eingebüßt, aber es war ein Wunder, daß wir noch soviel hinbrachten. Überhaupt erwies sich Dirkens Spekulation als eine verfehlte; wir waren zwei Jahre zu früh auf dem Plan. Obgleich immerhin schon ein paar hundert Goldgräber verstreut arbeiteten, war für eine Wirtschaft, oder vielmehr für einen Wirt, der gerne rasch reich werden wollte, noch kein rechtes Terrain da oben.
Unser primitives Holzhaus war bald hergerichtet, und abends war unsere »Bar« nie leer von Gästen.
Wir wohnten in unmittelbarer Nähe des Quarzgebirges, in dem schon damals viel Gold gefunden wurde. Allerdings mag ich nicht davon schreiben, mit welcher unsäglichen Mühe diese Goldgraberei damals in der ganz[109] provisorischen Weise verbunden war. Mancher hat seine Gesundheit und sein bißchen Leben mit vergraben.
Wir – Mr. Dirken und ich – wußten manchmal nicht, was wir tagsüber mit unserer Zeit anfangen sollten. Dirken ging öfter auf die Jagd – es wimmelte in den Bergen von Füchsen, Bären und anderem Pelzgetier – und zum Zeitvertreib lehrte er mich auch schießen. Ich hatte eine gute Hand und ein scharfes Auge und verstand besonders mit dem Revolver bald ebenso gut umzugehen als mein Lehrer.
Das klingt sehr gefährlich, war aber in Wirklichkeit nicht so ängstlich, denn Dirken hatte recht! – – Ich habe in späteren Jahren von feinen Herren inmitten der zivilisationgesegneten Kulturstaaten andere Roheiten erfahren müssen, als von den armen Kerlen da in der Wüstenei von Klondike.
Am schlimmsten waren mir die Nächte da oben. Ich konnte dort nicht schlafen. Die Nächte waren so hell, fast weiß, so als wie bei uns jetzt die belebten Straßen und Plätze im bläulichen Licht der elektrischen Lampen. Und dann die unheimliche Totenstille, und überhaupt das Fremdartige und diese tote Einsamkeit, ich hatte vorher nie Nerven gekannt, dort lernte ich sie fürchten.
Ich bekam plötzlich wieder Heimweh nach Hamburg. Manche Nacht, wenn alles still war, weinte ich mich aus. Ich verwünschte meine Abenteuerlust.
Einmal war das ersehnte rote Glück mir freilich nahe. Das war ein baumlanger Kerl, Mr. Truthman hieß er, mit einem kaffeebraunen Raubvogelgesicht. Seine Großmutter soll eine Indianerin gewesen sein, und so sah er auch aus. Er hatte Glück gehabt, man munkelte von einem überaus reichen Fund in seinem Claim, und er spielte auch manchmal darauf an und machte mir berghohe Versprechungen, denn er hatte sich regelrecht in mich verschossen. Aber ich mochte ihn nicht. So bin[110] ich immer gewesen. Wenn mir jemand nicht gefällt, da kann er haben und sein und an stellen was er will, ich mag ihn eben nicht und lasse mir nicht nahe kommen.
Vielleicht war es dumm von mir. Denn wenn ich den genommen hätte, würde sich mein Traum erfüllt haben und ich hätte wirklich in eigener Equipage über den Broadway fahren können. Es zeigte sich später, daß er in seinem Claim für viele Tausende Dollar Gold gefunden hatte.
Es ist merkwürdigerweise immer so im Leben, daß die, die dem Glücke nachjagen und es so fieberheiß ersehnen, es nie erreichen. Und anderen läuft es nach und hängt sich ihnen förmlich an die Fersen, so ist es überall. Dem armen kleinen Westfalen lächelte es nicht. Er wurde immer magerer und schmalwangiger, hustete, spuckte Blut und hoffte immer noch mit jeder Herzensfiber auf das Nahen des heißumworbenen Glückes.
Anfangs August kam er spät abends bei uns an, und wie er da war, sank er in sich zusammen und bekam wieder einen Blutsturz. Wo nun hin mit dem armen Kerl?! Wegjagen wäre Mord gewesen. In dem Schankraum konnten wir ihn auch nicht lassen, da erbarmte ich mich über ihn und ließ ihn in meinen Verschlag transportieren und behielt ihn die Nacht da und kampierte selbst auf dem Boden. Er lag da wie ein Toter. Zwei Tage und Nächte behielten wir ihn bei uns, am dritten Tag ließ er sich nicht halten und ging wieder in die Berge, um nach Gold zu buddeln. Nach etwa vierzehn Tagen kam er wieder und sah nur noch wie ein Schatten aus, war aber unsagbar glücklich, denn – er hatte Gold gefunden – zwar nur ein paar Körnchen, aber doch Gold und als solches ein Passe-partout zu tausend hoffnungsvollen Möglichkeiten. Mir drängte er die Körnchen auf, ich wollte sie nicht, aber er ließ nicht nach, und nachher bin ich froh, daß ich sie genommen hatte, denn es war das[111] einzige Andenken, das ich nach Jahren seiner alten Mutter von ihm bringen konnte.
Als wir uns im September zur Abreise rüsteten, erkundigte ich mich unter den Minenarbeitern nach ihm und da erfuhr ich, daß der arme Kerl in der Woche vorher gestorben war. Sang- und klanglos hatten ihn seine Kollegen eingescharrt. Das ist nicht anders dort oben. Seine paar Habseligkeiten waren natürlich nirgends zu reklamieren. Dirken wollte den Winter über oben bleiben, aber ich bedankte mich für den Winter, wo der Sommer schon so sibirisch kalt war, und überhaupt hatte ich die Geschichte bis oben hinaus satt. Als ich hörte, daß sich wieder ein Trupp zur Heimfahrt rüstete, schloß ich mich an, und trotzdem wir keine sehr großen Geschäfte gemacht hatten, zahlte mir Dirken doch zweitausend Dollar aus.
Dirken ist, wie mir Frau Jonas, mit der ich noch heute in Briefwechsel stehe, schrieb, bis zum Jahre 98, also im ganzen vier Jahre dort gewesen, hat sich jedes Jahr einen frischen Transport Lebensmittel bringen lassen, und ist im Herbst 98 mit einem klotzigen Stück Geld in die Staaten zurückgegangen.
Auf dem Rückweg hatte ich ganz andere Reisegenossen, lauter Leute, die ihr Ding gemacht hatten und seelenvergnügt mit mehr oder minder gewichtigen Schecks in der Tasche heimfuhren. Im übrigen war die Rückreise mit genau denselben Schwierigkeiten verknüpft wie die Hinreise.
Ich fuhr nun zuerst nach Watscome zu den Jonas zurück und wurde dort mit offenen Armen empfangen. Denn bei meiner kleinen Frau Lizzie hatte sich nach sechsjähriger Wartezeit zum erstenmal der Storch angesagt und sie waren froh, daß ich wieder da war und ihr wenigstens in der letzten Zeit die Haushaltungssorgen abnahm. Im Dezember kam ein kleiner Junge an. Ich[112] pflegte sie nicht wie eine Dienerin die Herrin, sondern wie eine Schwester die andere, denn ich hatte sie wirklich gern, und in ihrer Leidenszeit – sie mußte sehr viel aushalten – fiel aller künstlich zusammengeleimte Dünkel von ihr ab, und sie schmiegte sich so rührend hilflos an mich, als ob ich, die Jüngere, Stärkere, die sie wie ein kleines Kind auf den Armen von einem Bett ins andere trug, ihre Mutter wäre. Überhaupt nahm ich seit meiner Rückkehr von Klondike eine ganz andere Stellung im Hause ein, alle begegneten mir mit größerem Respekt als zuvor, und es war ja auch so; ich war wirklich in den paar Monaten um Jahre gereift, denn ich hatte den Ernst des Lebens in seiner furchtbaren Strenge begreifen gelernt. Trotzdem flog ich im März wieder weiter. Auf der Rückreise hatte mir einer meiner Reisegenossen das Anerbieten gemacht, im April eine von ihm neu zu eröffnende Bar in New York zu leiten, und mir hundert Dollar monatlich bei freier Station geboten. Ich nahm die Stellung nicht sowohl des hohen Salärs wegen an, als weil sie mir an sich mehr zusagte, als die immerhin unselbständige Stellung im Haushalt.
Die Jonas waren recht traurig, mich wieder zu verlieren, aber sie legten mir auch keine Schwierigkeiten in den Weg. Nur als ich beiläufig sagte, daß ich Heimweh nach Deutschland habe und über kurz dahin zurückkehren werde, lachten sie mich aus. »Sie sind gar kein deutscher Typ, Sie sind ein richtiges American girl, Mary,« sagte Frau Lizzie. »Sie kommen todsicher bald wieder, wenn Sie fortgehen. Da in Germany werden Sie jetzt doch immer mit dem Kopf gegen die Wände rennen. In Germany sind so viele Wände und Planken ...«
Sie hatte gelassen ein großes Wort gesprochen, die kleine, herzige Frau Lizzie ... Im Germany sind wirklich viele Wände, an denen man sich den Schädel einrennen kann – – –[113]
Also in New York traf ich mit Mr. Could, der eben drauf und dran war, seine Bar einzurichten, zusammen, und acht Tage darauf stand ich schon hinter dem Büfett und verzapfte Bier, Wein und Liköre.
Das Geschäft ging von Anfang an sehr gut, und ich glaube nicht zu renommieren, wenn ich einen Teil des Erfolges auf mein Konto schreibe. Ich verstehe es eben, das Publikum zu nehmen, so daß sie gerne zu mir kommen und sich von mir bedienen lassen.
Von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in der New Yorker Bar erzähle ich gelegentlich ein andermal, ich will jetzt rasch darüber weggehen. Genug – eines Tages kam mir wieder das Heimwehfieber und da mir die Sache ohnehin schon leid wurde, kündigte ich Mr. Could und nahm eine Heuer als Stewardesse auf einem Hamburger Schiff an.
Ich war nun kaum zwanzig Jahre alt und eigentlich war es eine Unklugheit von mir, schon jetzt zurückzukehren, denn da ich noch nicht die gesetzliche Majorität erreicht hatte, wäre es immerhin denkbar gewesen, daß man mich wieder gepackt und unter Kuratel gebracht hätte. Aber ich fürchtete mich nicht, ich hatte jedes Gefühl der Unfreiheit abgestreift und stand sehr gerade, fest und aufrecht auf meinen Füßen, ich hatte von drüben viel Selbstbewußtsein mitgebracht, und das habe ich mir, Gott sei Dank bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es ist das ein Kapital, das in unserem Stande mehr Wert hat, als zehntausend Mark bar Geld.
Aber meine zehntausend – gerade soviel bracht ich mit zurück, waren auch nun gerade kein leerer Wahn und gaben so ein hübsches Gefühl der Sicherheit. Es lebt und arbeitet sich bedeutend leichter auf sicherem Fundament als in der ewigen Ungewißheit der Existenzsorgen.[114]
Ich hatte als erste Stewardesse die Bedienung der ersten Kajüte auf dem komfortablen Ozeanfahrer, ein lukrativer Posten, den zu verlassen mir sehr schwer wurde. Achtmal hab ich die Fahrt hin- und herüber gemacht und viel Geld damit verdient, denn kein Passagier gab mir unter zwanzig Mark Trinkgeld. Auf einer Tour hatte ich ein kleines, achtjähriges Mädchen, das allein die Reise von New York nach Hamburg zu seinen Großeltern machte, zu besorgen, ein goldiger Fratz, der mir in den zehn Tagen der Überfahrt ordentlich ans Herz wuchs. Die Eltern hatten mir zehn Dollar gegeben und es mir aufs Herz gebunden ihr Kind gut zu beaufsichtigen, und das hätte ich auch so getan, ohne Geld. Das Gör hing ordentlich an mir und weinte, als es mir adieu sagte und der strahlende Großvater gab mir vor Freude über die glückliche Ankunft der Enkelin einen Hundertmarkschein. Ein alter, reicher gelähmter Herr, den ich auf der Überfahrt bediente, wollte mich partout als Pflegerin behalten und bot mir hundertfünfzig Mark monatlich bei freier Station, eine extra Bedienung und Bedenken im Testament, aber ich mochte nicht, ich hatte die Freiheit geschmeckt und gab sie nicht wieder her.
Dann zog es mich aber doch wieder ans Land und nach meiner Vaterstadt Hamburg, in der ich meine traurige Kindheit und erste Jugend verlebt hatte. Tante Schlappkohl hatte ich schon bei den kürzeren Aufenthalten in H. besucht, die alte Frau war ganz zippelig vor Freude, mich gesund und fröhlich wiederzusehen. Ich ging nun daran mir eine Stellung als Büfettiere zu suchen, fand aber nicht gleich was passendes, schließlich erhielt ich durch die Gastwirtezeitung ein Büfett auf der Ausstellung 96 in Berlin, allerdings auf eigene Rechnung, gegen eine Kaution von zehntausend Mark.[115]
* * *
Es passiert alle Tage soviel um mich herum, daß ich genug zu tun hätte, das alles zu notieren, anstatt in der Vergangenheit zu graben. Das ist wie die Buddelei in einem alten Kehrichthaufen, man findet zuweilen die glitzernde Scherbe einer zersplitterten Hoffnung und hat dabei eine kleine, wehmütige Freude, aber im großen und ganzen ist es eine wenig angenehme Arbeit. Ich habe dies Frédéric auch gesagt, er meinte, ich soll nur ein bißchen flott machen und meine Vergangenheit mit ein paar großen Strichen festlegen, damit der Leser wenigstens ein geschlossenes Bild bekäme. Na meinetwegen denn allons!
Also das Büfett übernahm ich von zwei Weinhändlern, die es erst selbst führen wollten, sich dann aber veruneinigten und es verpachteten. Es war eine ganz ausgefallene Sache und ich war noch keine vier Wochen darin, als ich schon einsah, daß das Resultat ein riesenhafter Dalles auf der ganzen Linie war. Dabei hatten wir genug zu tun, aber der Apparat war zu kompliziert und kostspielig und dann fehlte mir damals doch auch die richtige Erfahrung in der Branche. Es ist halt doch etwas anderes, ein großes Büfett für eigene Rechnung zu führen, als in einer amerikanischen Bar Whisky einzuschenken und auf einem Dampfer Stewardesse zu spielen.
Aber das schönste war, daß meine beiden »Chefs« in Wirklichkeit zwei verkrachte Existenzen waren, und noch ehe die Ausstellung geschlossen wurde, verdufteten, natürlich unter Mitnahme meiner Kaution und Hinterlassung unzählbarer Schulden. Die Gläubiger legten sofort Beschlag auf das Büfett und als ich mich zu zahlen weigerte, wurde die Bude von Gerichts wegen geschlossen. Dann kamen die Lieferanten, denen ich persönlich noch Geld schuldete und legten Beschlag auf meine Habseligkeiten; ich hätte mir die paar Hundert Mark, die ich noch besaß, hinter den Berg bringen können, und[116] versuchte es anfangs auch, aber als sie mich zum Offenbarungseid zwingen wollten, mußte ich doch damit heraus. Ich muß hier gestehen, daß es weniger der Eid und seine sogenannte Heiligkeit waren, die mich davon zurückhielten, mein letztes Erspartes in Sicherheit zu bringen, auch nicht die Furcht vor der gesetzlichen Strafe, sondern einzig die Reellität meiner Gesinnung, die es nicht zuließ, einen Menschen um einen Pfennig zu betrügen. So gab ich alles hin, was ich hatte und stand plötzlich wieder mittellos auf der Straße. In kaum drei Monaten hatte ich alles eingebüßt, was ich mir in den verflossenen Jahren so sauer erworben hatte. Das war sehr bitter, wie bitter kann nur jemand nachfühlen, der einmal in ähnlicher Lage gewesen ist. Außerdem kommt ja ein Unglück niemals allein. Zu allem andern Mißgeschick wurde ich krank. Als ich nach drei Wochen wieder aufstand, schuldete ich meiner Wirtin über hundert Mark, wofür ich meine besten Kleider und meine paar Schmucksachen, die ich von Jonas hatte, im Stich lassen mußte.
Und nun ging die Stellensucherei los. An ein Büfett ist nicht so leicht zu kommen. Meine Zeugnisse vom Schiff und Mr. Coulds Empfehlung genügten den Leuten nicht, zudem mag ich auch etwas herabgekommen ausgesehen haben; die kaum überstandene Krankheit und die Gemütsdepression gruben deutliche Spuren in mein Gesicht, schließlich war ich zufrieden, als ich in einer Kneipe in der Oranienstraße ein Unterkommen als Kellnerin fand.
Ich möchte die folgenden vier Jahre gern überspringen. Ich erinnere mich ihrer nicht gern. Es ist eine Leidensgeschichte, eine Kette von Miseren und Widerwärtigkeiten. Aber Frédéric legt, wie es scheint besonders Wert auf gerade diese Zeit. Mein Mißgeschick in Buenos-Aires entbehrte nicht einer gewissen Tragik. Und ein tragisches Schicksal erträgt sich immer leichter als die schwere Kette dumpfer, niederdrückender Erlebnisse voll[117] grauer Alltäglichkeit, die doch gerade in ihrer Massenhaftigkeit, in ihrer Eigenschaft als nichts Ungewöhnliches eigentlich erst recht tragisch sind. – Ich meine das Elend der Kellnerinnen in Berlin, und überhaupt in Norddeutschland.
O, es ist wie ein schreckliches Elend, und niemand weiß es, und der es weiß, nimmt es eben nicht tragisch. »Gott, solche Kellnerin – –«
Schon in dem Wortklang liegt so was Untergeordnetes, Wegwerfendes, Verächtliches – – Mensch sechster Ordnung.
In Berlin speziell steht die Kellnerin in der sozialen Wertschätzung mit der Prostituierten ungefähr auf einer Stufe. Ja, manche sonst ganz rechtlich denkende und liberale Menschen, die, wenn sie von einer Dirne sprechen, immer eine gewisse Teilnahme und etwas Mitleid, überhaupt ein gewisses Sentiment mit den »Unglücklichen«, »Verlorenen« markieren, haben für die Kellnerin nur lachende Verachtung, ein spöttisches Vonobenherab. Eine Dirne verachtet und bedauert man bestenfalls, die Kellnerin verachtet man, aber bemitleidet sie nicht.
Und doch ist so ein armes Wurm in seiner Art bedauernswerter als die Straßendirne.
Wenn die Parallele zwischen beiden Kategorien in vielen Fällen tatsächlich besteht, ist die Verantwortung dafür einzig und allein den miserablen sozialen Verhältnissen zur Last zu legen.
Die sogenannten Animierkneipen werden von der Polizei stark beaugenscheint, sollen überhaupt eigentlich nicht mehr existieren. Aber was heißt »Animierkneipe?!«
Ich behaupte und kann auf Grund meiner eigenen Erfahrungen beweisen, daß fast sämtliche von Kellnerinnen bedienten Lokalitäten in Berlin dasselbe in Grün sind, nur mit dem Unterschied, daß die Kellnerinnen sich[118] nicht zu den Gästen an den Tisch setzen und in plumper Weise zum Trinken auffordern.
Aber in Wirklichkeit müssen die Kellnerinnen, wenn sie Stellung behalten wollen, mittrinken, bis sie fast bersten. Gehalt gibt's ja nirgends, auf Trinkgelder und vereinzelt auf einen minimalen Prozentsatz vom Umsatz sind sie alle angewiesen. Und wenn sie nicht genug Umsatz haben, da gibt's zuerst saure Gesichter von seiten des Wirts, dann Anschnauzer und ehe sie sich versieht, liegt sie draußen: und die Konsequenz?! Um möglichst viel Umsatz zu erzielen, lächelt sie die Gäste an, und wer nicht ganz ruppig ist, bestellt für sie mit und sie trinkt und trinkt, ob sie kann und mag oder nicht, herunter mit dem Zeug, und viel, möglichst viel, damit Geld in die Tasche des Wirts fließt und die eigene Stellung gewahrt bleibt. O, es ist ein elendes Leben. An die unmittelbare Wirkung der alkoholischen Getränke gewöhnt man sich ja bald, so daß eine betrunkene Kellnerin zu den abnormen Erscheinungen gehört. Aber wie einem manchmal zumut ist, kann ich überhaupt nicht beschreiben. Die Gesundheit geht unfehlbar dabei flöten.
Ich habe Stellungen gehabt, wo ich regelmäßig erst um drei nach Hause kam und um halb neun wieder auf dem Posten sein mußte. Um halb acht kam die Friseuse, und während sie mich im Bett frisierte, schlief ich wieder ein, und wenn ich nachher aus dem Hause trat, wußte ich kaum mehr ob die Bäume rot oder grün waren, und die ganzen Häuser tanzten manchmal um mich herum, so herunter war ich von der Schlafentziehung und dem vielen Trinken.
Ich selbst hatte auf der Ausstellung die Einrichtung getroffen, daß die Kellnerinnen die Getränke, die für sie bezahlt wurden, und die sie nicht trinken mochten, unauffällig in hinter dem Büfett eigens zu diesem Zweck aufgestellten Gefäßen ausleerten und diese Einrichtung[119] wurde von allen als praktisch und gut anerkannt und konsequent benutzt. Die teueren Sachen, wie zum Beispiel einen französischen Kognak zu 18 Mark die Flasche, der für eine Mark das Gläschen wieder ausgeschenkt wurde, füllten wir abends wieder auf Flaschen und schenkten sie wieder aus. Ich gebe zu, daß dies kein ganz einwandsfreies Geschäftsgebaren war, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, und ich saß ja ohnehin schief genug vor der Kiste, und mußte mir jeden Vorteil wahren. 's hat auch niemand Cholerabazillen dabei abgekriegt. Freilich passierte uns dabei auch oft das Malheur, daß die Gefäße verwechselt wurden. Zum Beispiel einmal – da gießt eine der Kellnerinnen aus Versehen ein Glas Portwein in eben den Glaskrug mit dem teuren Kognak. Ich sehe es, schimpfe natürlich über die Fahrlässigkeit, und werde in demselben Augenblick von einem Herrn eingeladen, mit ihm mit einem Glas Sherry anzustoßen. Natürlich markiere ich nur das Trinken, wippe den Inhalt auch unter das Büfett – und – o Pech! – gleichfalls in den Kognakkrug. Trotzdem haben wir den Kognak nachher wieder verschenkt, und die Herren wunderten sich alle über die schöne rote Farbe und den eigentümlichen Geschmack dieses französischen Kognak, aber beschwert hat sich keiner.
An diese Ausstellung 96 denke ich nur mit Schaudern zurück. In den ersten Wochen nach der Eröffnung im Mai war es so furchtbar kalt, und wir hatten keinen Ofen im Lokal und trugen alle die altdeutschen, etwas am Halse ausgeschnittenen Kostüme. Gefroren haben wir wie Hunde, und mit dem Essen war es auch so, so, da wir keinen Herd in dem bretternen Lokal aufstellen durften. Eine Zeitlang hatte ich draußen eine Apoldawürstchen-Kocherei arrangiert, aber die schloß mir die Brandkommission sofort, wir selbst hatten nur kaltes Büfett. Die Leute schickte ich nebenan in ein Restaurant Mittag[120] essen, aber ich selber bekam nur selten etwas Warmes in den Leib.
Ich habe noch viele Freundinnen aus meiner Kellnerinnenperiode, denen es nicht so gut ergangen ist wie mir. Wie zum Beispiel die Hulda Wenigen, die damals bei mir in der Ausstellung bediente, ein bildhübsches Ding mit einem wachszarten Teint und schönen braunen Augen. Sie war nur so fürchterlich eigensinnig, geradezu obstinat, wenn sie ihre Laune hatte, warf sie alles hin und setzte sich draußen vor die Tür und rührte sich nicht. Dabei hatte das Weib eine ganz abnorme Gewalt über ihre Muskeln, sie konnte eine geschlagene Stunde sitzen ohne eine Miene zu verziehen, ohne mit einer Wimper zu zucken oder sichtbar zu atmen, so daß die Leute sie für eine Wachsfigur hielten und sich ganze Versammlungen um sie bildeten. Und einmal machten wir den Spaß und hingen ihr eine Papptafel um den Hals mit der Aufschrift: »Größtes Wunder der Mechanik!! Gegen Einwurf eines Fünfzigpfennigstücks in den Halsausschnitt lacht und spricht die Puppe.«
Auf der Ausstellung saß den Leuten, besonders den Fremden, das Geld locker in der Hand. Ein paar Neugierige machten den Anfang, andere folgten. Hulda verzog den Mund ein bißchen, nickte freundlich – automatenhaft – und sagte: »Danke schön, tausend Dank ...« So täuschend machte sie das, daß fast alle darauf hereinfielen, bis unser Gelächter sie aufklärte, und dann machten sie gute Miene und lachten mit über den Ulk.
Die arme Hulda! Irgendein Schaubudenbesitzer entdeckte ihr Talent während der Ausstellung und engagierte sie, und da hat sie denn Wachspuppe mit Mechanik spielen müssen für ernst, abwechselnd Dornröschen und Marguerite Gautier, die Dame mit den Kamelien, und ein andermal die Kaiserin von Rußland und Adele[121] Spitzeder, aber die Herrlichkeit währte nicht lange und dann ist sie wieder zurück nach Berlin als Kellnerin.
Heute ist sie keine Wachspuppe mehr. Der Teufel soll in zehn Jahren schön und schlank bleiben bei solcher Lebensweise, wie die Kellnerinnen sie zu führen gezwungen sind. Sie bedient in einer gewöhnlichen Bierkneipe im Norden und ist dick wie eine Tonne und grau und porig wie ein Schwamm. Sie hat manchmal melancholische Anwandlungen und sagt, sie wünsche, sie wäre tot, und sie würde wohl noch mal eine Flasche Lysol trinken, das Leben sei doch zu mies. Das sagen viele. Die Grete Katomba sprach vor ein paar Jahren mir immer von Selbstmord, aber dann hat sie sich doch besonnen. Sie lernte inzwischen einen so netten Doktor kennen, mit dem sie poussierte. Der ist dann nach Australien gegangen, aber er schickt ihr immer noch Geld und auch Geschenke, und sie trägt ihn mit samt seiner Frau und seinen Kindern (natürlich in effigie) stets am Busen, und zeigt jedem das Bild und ist noch immer ganz glücklich über diese Liebe, die jetzt doch tatsächlich nur noch eine platonische ist.
Manchmal gelingt es ja auch einer sich gut zu verheiraten, und das sind dann hinterher meistens diejenigen, die am verächtlichsten über die Kellnerinnen herziehen. So wie die gute Wirtin in der Kochstraße – sie war ehemals Kellnerin in einer ganz ordinären Kellerkneipe – heiratete dann einen Küfer und machte selbst eine Budike auf. Es ging ihnen gut, heute haben sie ein Restaurant und noch eine Bar in der Friedrichstraße, alles mit weiblicher Bedienung, aber die sollten Sie mal über die Kellnerinnen sprechen hören. Da heißt es nicht anders als »das Stück«, »das Mensch«, »das Frauenzimmer«, »die Kreatur«, die Kellnerinnen, die in ihrem Geschäftsinteresse sich den Bauch zum Bersten voll Bier schlauchen müssen und ihr die Kasse füllen, werden von ihr nichtsdestoweniger[122] nicht mehr als der Schmutz unter den Füßen gerechnet. –
Gewiß, wenn man tüchtig ist und gute Stellen hat, kann man Geld verdienen. Genug Kellnerinnen stehen sich auf drei-, vierhundert Mark monatlich im Jahresdurchschnitt, manchmal auch noch höher. Wenn man denn alleine steht und sparsam ist, kann man sich etwas zurücklegen und nachher ein Büfett übernehmen oder sich sonstwie selbständig machen, so wie ich es konnte. Aber viele haben Angehörige, die sie unterstützen müssen, arme Eltern und Geschwister, oder vielleicht ist in der Vergangenheit irgendein Loch, in dem das mühsam Verdiente versinkt.
Ich glaube von der großen Menge, die so spöttisch auf die Kellnerinnen herabsieht, ist wohl kaum jemand, der diese Kaste anders als nach dem Anschauen und – was die moralische Seite anbelangt – dem Hörensagen nach kennt. Wenn diese Leute Studien machen wollten – sie würden staunen, wie viel Güte und Edelmut und Opferfreudigkeit sich gerade in diesem Stande findet. Ich kenne viele Kellnerinnen, vor denen sich manche Dame, die ostentativ in Wohltätigkeit macht, verstecken muß. Da ist eine, die jeden Samstag vierzig Mark an ihre alte Mutter schickt, und nebenbei die Pension für einen idiotischen Bruder in einer Privatirrenanstalt bezahlt. Eine andere, Lulu Scheck, hat alle ihre Geschwister was lernen lassen und ganz allein die Kosten der Ausbildung ihrer Schwester zur Konzertsängerin bestritten. Und wie die Person – die Schwester – ihr Glück machte, und gefeiert wurde, und auch hier in Berlin in der Philharmonie sang, da kannte sie die Kellnerin-Schwester nicht mehr, und Lulu mußte heimlich zu ihr kommen und sich der Kammerjungfer gegenüber für eine Modistin, die zu der Berühmten bestellt war, ausgeben. Na – das hätte ich nicht sein dürfen – ich hätte, ja – Donnerwetter noch mal, ich[123] kann grob werden, wenn mir jemand so kommt. Lulu hat es mir selbst mit Tränen in den Augen erzählt, es hatte sie schwer gekränkt. Wa's 'n Wunder!
So könnte ich noch hundert Beispiele anführen.
Und wie manche ist da, die ein lebendiges Wahrzeichen an eine schwache Stunde der Vergangenheit, oder eine dunkle der Verführung zu versorgen hat. Wie die Lisa Vogel und die Mine und die Lotte. Und wie sorgen diese Mädchen für ihre Kinder. Da könnte sich auch manche vornehme Dame, die vor lauter »Repräsentation und gesellschaftlichen Verpflichtungen« ihre natürlichsten Pflichten vergißt und gering achtet und ihre Kinder fremden Leuten auf Gnade und Ungnade ausliefert, auch ein Beispiel daran nehmen. Wie lieben sie die Kinder, wie sorgsam geben sie darauf acht, daß sie, da sie sie selber nicht behüten können, in guten Händen sind – und nur gute Eindrücke von ihrer Umgebung in sich aufnehmen. Ich habe immer die Beobachtung gemacht, daß die Mütter unter den Kellnerinnen sittlich am höchsten stehen, und ich habe mir zuweilen selber ein Kind gewünscht. Es ist gerade so, als ob das Bewußtsein der Mutterschaft ein innerlich reelles Weib moralisch hebt, sie stolzer, fester, gediegener, gewappneter macht.
Wenn man freilich dann vor solchem Wurm abstirbt, ist es doppelt schlimm. Damals, Anfang 97, lernte ich eine Kellnerin älteren Semesters kennen, die ein reizendes Mädchen von zehn Jahren hatte. Sie hing mit unsäglicher Liebe an dem Ding, das bei einer Oberlehrerwitwe untergebracht war: Rike Beckmann hieß sie und das Kind Paula. Sie vergötterte die Kleine buchstäblich, jede freie Stunde, die sie abbringen konnte, war sie bei ihr.
Rike verdiente viel Geld. Sie war geradezu eine Virtuosin im Trinken. Sie war oft schon ganz grün im Gesicht, aber unentwegt stülpte sie einen Krug nach dem andern durch die Gurgel. Wir waren damals zusammen[124] in einem bekannten sogenannten »süddeutschen« Lokal, wo der Saufzwang der weiblichen Bedienung wie nirgends anders in Blüte stand. Dort hat der Wirt, z.B. eigens für die Kellnerinnen Viertelflaschen Sekt auf Lager, die, damit es nicht auffällt, aus Steinkrügen getrunken werden.
Rike führte mit den Gästen oft stark paprizierte Reden. Sie war nicht von gestern und hatte wohl eine ziemlich bewegte Vergangenheit hinter sich. Aber ihre Liebe zu dem Kind war rührend. Wenn sie von der kleinen Paula erzählte, verklärten ihre Züge sich, wurde ihre Stimme warm, ihr Blick weich. Für das Kind war ihr nichts zu gut, kein Opfer zu groß, das größte Opfer das sie der Kleinen brachte, bestand vielleicht darin, daß sie es sich versagte, sich von ihr Mutter nennen zu lassen. Das Kind nannte die Lehrerwitwe »Mutter« und Rike »Tante«. Ihr ganzes Leben ging in der Rechnung für das Kind auf. Es war ihre größte Freude, wenn sie für Paula einkaufen konnte, Kleider und Spielsachen, weit über ihre Verhältnisse. Und sie schwelgte in Zukunftsträumen.
Nach ihrer Einsegnung sollte Paula in eine Pension und dann hoffte sie sie bald zu verheiraten mit – einem Pastoren. Merkwürdig, auf einen Pastoren als künftigen Schwiegersohn war sie ganz versessen, ich weiß nicht warum, aber ich denke mir so, daß sie mal etwas gelesen hatte und sich das nun so idyllisch und verlockend ausmalte, vielleicht nur, weil es so der direkte, krasse Gegensatz zu ihrem Leben war: eine efeu- und rosenumrankte Dorfpfarre, Linden vor der Tür, ein Garten mit einer Laube, schöne, stille, kühle Räume, ein milder, ernster, gütiger, moralischer Gatte, lachende gesunde Kinder, ein Leben voll Stille, voll Frieden, voll Familienglück ... das wünschte und wollte sie für ihre Paula.
»Wenn mir das Kind stürbe, könnten sie mich nur[125] gleich begraben,« sagte sie oft, »aber dennoch – wenn ich denken müßte, mein Kind müßte dasselbe durchmachen, was ich durchgemacht hab, mein lieber kleiner Schatz müßte auch einmal Kellnerin spielen ... nein, dann lieber tot ... Nur das nicht. Mein Kind soll nie einen Blick in diese Welt tun, dafür will ich sorgen.«
Arme Rike! Der Mensch denkt und Gott lenkt.
Im Sommer 98 erkrankte Rike an einem Unterleibsleiden, wurde operiert und starb am Tage nach der Operation.
Sie hinterließ nur zweitausend Mark Ersparnisse – das Kind hatte ihr von jeher zu viel gekostet, die 2000 Em waren sicher schon zur Aussteuer zurückgelegt.
Die Lehrerwitwe, eine feine, liebenswürdige, gebildete Frau und selbst kinderlieb, behielt die kleine Paula auch unter den veränderten Verhältnissen bei sich; das kleine Kapital wurde natürlich ungefähr dabei zugesetzt, aber dafür ließ sie Paula, die überall als ihre Tochter galt, auch alles lernen, Sprachen und Musik und überhaupt alles, was von einer gebildeten jungen Dame verlangt wird, nur nichts Praktisches.
Ich kam um die Zeit von Berlin fort, war nachdem im Elsaß, im Rheinland, in der Schweiz, in Hannover und anderen Orten, aber ich hab die Paula immer im Auge behalten, weil sie mich interessierte, schon um der armen Rike willen.
Als das Mädel sechzehn Jahre alt war, machten sie und ihre Pflegemutter in der Ausstellung am Lehrter Bahnhof die Bekanntschaft eines reichen jungen Offiziers, eines Leutnants Freiherr von Ruden, Sohn einer feudalen Familie im Posenschen. Der Mann verliebte sich in das reizende Mädel und da er auf Geld nicht zu sehen brauchte und liberal dachte, stand seiner Verbindung mit dem Töchterchen der zwar armen, aber geachteten[126] Frau Doktor Lehmann nichts im Wege. Also die Verlobung ging vor sich, mein Paulachen war überselig.
Sie ist auch wirklich entzückend, und hat auch so 'n liebes, bescheidenes Wesen, der Herr von Ruden hatte sich wahrlich nicht seiner kleinen Braut zu schämen.
Die Sache ging dann auch wunderschön – bis zu dem Augenblick, wo Frau Doktor notgedrungen dem Bräutigam unter vier Augen das Geheimnis von Paulas Geburt enthüllte. Es war sehr dumm und eigentlich geradezu ein Verbrechen, daß die Frau dies nicht vor der Verlobung getan hatte. Paula selbst hatte ja keine Ahnung. Sie wußte wohl, daß die Lehmann nur ihre Pflegemutter war, aber es war ihr immer gesagt worden, daß ihre früh verwitwete und verstorbene Mutter eine Schwester der Frau Lehmann gewesen sei. Aber nun mußte alles heraus, und da war es zu Ende mit der Verlobung und der glänzenden Zukunft.
Ein schlichtes legitimes Fräulein Lehmann wäre zur Not gegangen, aber das uneheliche Kind einer Kellnerin – – über diesen Prüfstein stolperte die Liebe des Herrn Leutnant und brach das Genick. Das konnte er weder sich noch seiner feudalen Familie, noch seinen hochfeudalen Ahnen antun. Mit »blutendem Herzen« riß er sich los und überließ die kleine Paula ihrem Schicksal.
Das Kind war totunglücklich. Und zu alledem starb die Pflegemutter, die schon lange kränkelte, bald nachdem. Das heißt, ob es in diesem Fall ein Unglück war, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte sie dann keine Zeit mehr, ihren traurigen Gedanken nachzuhängen, sondern mußte für ihre Existenz sorgen.
Ich hatte damals keine Zeit mich um sie zu kümmern, mein Gott, wann hat man in unserm Geschäft überhaupt »Zeit«! – Die Freiheit ist immer nur nach Minuten bemessen, und dann gibt es so viel zu tun und zu besorgen, daß man faktisch nur zu dem notwendigsten kommt.[127]
Ganz zufällig traf ich sie eines Tages wieder – – Und wo?! Als Kellnerin in einem Restaurant der Friedrichstraße. Ich bin nicht sentimental, aber ich muß doch sagen: das gab mir im ersten Augenblick ordentlich einen Ruck, es erschütterte mich ordentlich, denn ich dachte an Rike und was sie sagen würde, wenn sie plötzlich wieder auferstände. Im übrigen war aber alles ganz natürlich zugegangen. Sie hatte sich lange vergebens nach einer Stelle als Stütze oder Kinderfräulein umgesehen, dann hatte sie eines Tages in der Zeitung diese Stellung ausgeschrieben gefunden. Und da war es so durch sie hingezuckt wie ein böser Trotz und eine bittere Ironie: warum auch nicht! Das Kind einer Kellnerin ist nicht zu gut für den Beruf ihrer Mutter. Bin ich als Tochter einer ehemaligen Kellnerin doch nur ein minderwertiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft, ist es ja ganz egal, was ich mache. Der »bürgerlichen Gesellschaft« ist es auch schnuppe ob ich lebe oder verhungere, gut: so greife ich zu und nehme die Stelle, die mir wenigstens Brot und eine Existenz bietet. Zum Glück sind die Wirtsleute – Paula ist noch da ... ich muß sie doch nächstens mal wieder aufsuchen! – relativ anständige Menschen, die ihr, was das Trinken anbelangt, wenigstens nichts Unmenschliches zumuten. Paula ist auch so beliebt bei den Gästen, daß man es sehr übel vermerken würde, wenn sie sich veränderte. Dieses süße kleine Mädchen liefert bis jetzt noch den Beweis, daß man Kellnerin und doch anständig sein kann. Vielleicht ist es ja auch ihre Erziehung und ihre Bildung, die ihr einen stärkeren Rückhalt gibt. Sie hat ihre große Herzenstäuschung anscheinend überwunden, – anscheinend – manchmal merkt man es ihr aber doch an, daß noch nicht alles stimmt und ihre stete gleichmäßige Heiterkeit nur eine Maske ist. Tapferes, kleines Mädel! ... Als ob so eine, die trotz ihrer weichlichen Erziehung[128] mutig den Daseinskampf aufnimmt, nicht tausendmal besser wäre, als solch ein nichtsnutziges höheres Töchterlein, das dem lieben Herrgott seine Tage stiehlt und nichts besseres kann, als höchstens mal zu Wohltätigkeitszwecken mimen und tanzen.
Wenn ich viel Geld hätte, wäre es mein Ideal in Berlin ein Restaurant mit weiblicher Bedienung zu eröffnen, nur um den Berlinern mal zu zeigen, wie ein Kellnerinnen-Restaurant aussehen muß. Ich würde darauf sehen, nur junge, ordentliche, hübsche Mädchen zu engagieren, gegen ein anständiges Gehalt und einen kleinen Prozentsatz des Umsatzes. Das letztere, um ihr Interesse am Geschäft wach zu halten, denn ich weiß aus Erfahrung, daß eine ganz glatte Besoldung ohne jegliche Interessen des Personals nicht empfehlenswert ist. Aber die Trinkgelder würde ich abschaffen. Ich würde natürlich darauf halten, daß die Mädchen freundlich und zuvorkommend bedienen, aber ich würde sie gegen Unverschämtheiten seitens der Gäste in Schutz nehmen. Und vor allem würde ich betreffs des Mittrinkens keinen Zwang ausüben. Ich würde überhaupt viele Neuerungen einführen, es müßte eine Sache sein, die ganz auf der Höhe steht. Da fällt mir ein, daß ich die Idee dem Onkel Lautbach mal unterbreiten könnte. Das wäre noch so was und würde sich auch sicher rentieren. – Ach ja, es waren keine schönen Jahre, Gott hab sie selig. Gut, daß ich über die hinweg bin.
* * *
Der große Tag des Umzugs bei Heinrichs ist vorüber. Die Lotte ist natürlich in Ohnmacht vor Schreck gefallen, als der Möbelwagen vorfährt und die Leute die Möbel holen. Taub gegen das Zureden ihres Gatten, depeschierte sie schleunigst an Mama und die ließ denn[129] auch die Hochzeit im Stich und kam selben Abend wieder zurückgedampft. Heinrichs war wohlweislich in die neue Wohnung retiriert, und da überfielen ihn nun die Weiber und müssen ihm gehörig zugesetzt haben, denn er kam noch spät ganz schlapp und kleinlaut zu mir und meinte, ob er nicht doch etwas zu kraß mit diesem Gewaltstreich vorgegangen sei. Schwiegermutter hatte Lottchen wieder mit nach Hause genommen, und sie wollte sich scheiden lassen usw. und dabei sah er mich ganz vorwurfsvoll an ...
Das hat man nun davon! Aber ist das nicht immer so? Nur um Gottes willen sich nicht in Eheangelegenheiten mischen. Das ist, als ob man eine Hand zwischen Tür und Angel steckt und die Tür schnappt zu: man klemmt sich. Ich wurde dann auch kurz angebunden.
»Mein lieber Herr Heinrichs,« sagte ich, »es gibt Männer, die irrtümlich im Standesamtsregister als solche eingetragen sind, sie sind in Wirklichkeit Weiber. Und solche Weib-Männer, solche personifizierte Mampe Halb und Halb bedürfen der höheren Direktive, für die ist eine energische Schwiegermutter-Vormundschaft ganz und durchaus das Richtige. Wenn Sie ohne Schwiegermama nicht existieren können, dann kehren Sie in Gottes Namen reumütig zurück. Ich habe Ihnen meinen Rat ja nicht aufgedrängt, verstehen Sie?«
Nachher, als er so geknickt und duckig wie ein geprügelter Hund dasaß, tat er mir ja doch leid und ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn noch weiter anzuschnauzen und tröstete ihn.
»Wenn ich nur wüßte, ob Lottchen doch noch zur Vernunft kommt –«
»Sind Sie ganz ruhig. Die kommt ganz von alleine zu Ihnen,« sagte ich, und meine Zuversicht schien ihn etwas aufzurichten.[130]
Ich glaube in dieser Hinsicht auch meiner Sache sicher zu sein. Lottchen wird schon von selbst den Weg in ihr neues Heim finden und mir schließlich noch dankbar sein, daß sie durch meine Initiative zu einer eigenen Häuslichkeit gekommen ist. Wenn sie sich nur erst mal ausgemault hat.
Herrn Lautbach habe ich meinen Vorschlag betreffs des neuen Restaurants unterbreitet und ich war etwas erstaunt, als er mir entgegnete, daß er schon seit einiger Zeit daran sei, ein solches Projekt zu erwägen ... Allerdings müsse es etwas Neues, Verblüffendes sein. Dann zog er ein großes Paket Briefe hervor und gab sie mir: lauter Antworten auf Heiratsannoncen im Tageblatt und Lokalanzeiger. Ich muß gestehen, diese Briefe amüsierten und verwunderten mich gleichzeitig.
Die Annonce war so abgefaßt: »Vornehmer gebildeter Herr von stattlichem, angenehmen Äußeren, Fünfziger, hohes Einkommen, wünscht sich mit einer vermögenden Dame gleichen Alters zu verheiraten. Gefl. Offerten usw.«
Man sollte wirklich nicht glauben, was für Unmasse Briefe, und von welchen Damen da eingegangen waren. Meist von Witwen und unverheirateten Damen in den vierziger Jahren. Und jede drückte gleich ihren Wert in Ziffern daneben aus. Sie fühlten sich alle vereinsamt und sehnten sich nach Anschluß – Damen mit zwölf und fünfzehntausend Mark Renten, Besitzerinnen von Villen in Halensee und Reinickendorf, drei und vierfache Hausbesitzerinnen, Generals- und Geheime Regierungsratstöchter, eine ganze Blütenlese von heiratstollen Geldsäcken und betitelten Kandidatinnen.
Gibt das nicht eigentlich zu denken? Es ist doch nicht anzunehmen, daß diese Frauen, die sich hier anbieten, alle absolut schief und bucklig und nachthäßlich oder sonstwie mit körperlichen Defekten behaftet sind. Man sollte meinen, daß die auch auf anderen normalem[131] Wege zu 'nem Mann kommen könnten. Und weshalb wollen die Weiber in den Jahren, die so viel Moos haben, überhaupt à tout prix heiraten?
Ganz einfach: diese feinen Damen, die so schnippisch und spöttisch und von oben auf unsereinen herabsehen und sich moralisch eiffelturmhoch über uns stellen, sind in Wirklichkeit keine Bohne besser. Ihre moralische Verachtung ist in Wirklichkeit der grüne Neid, daß wir es so viel besser haben als sie, die ihre Empfindungen und Wünsche und Sehnsüchte luftdicht in die äußere Form der »Anständigkeit« und Ehrbarkeit verkapseln müssen, während wir frisch und fröhlich, ganz sans gêne und unverhohlen die niedrig hängenden Früchte vom Baum pflücken, die wir haben möchten. Es ist damit, wie mit dem Fuchs und den saueren Trauben, haben möchten sie sie schon, aber weil der strenge Kodex der gesellschaftlichen Vorschriften und der bürgerlichen Moral ihnen den Genuß verbietet – sind sie zu sauer – –
Ich will hier nicht von mir persönlich reden. Ich selbst bin niemals für Geld freiwillig zu haben gewesen. Aber ich rechne mir das nicht als Verdienst oder Vorzug an. Ich bin eben ein bißchen kritisch in der Liebe und such mir immer nur die Männer aus, die mir gefallen. Aber ich bin auch weit davon entfernt, die Mädchen und Kolleginnen, die es anders machen, zu verachten.
Gott bewahre! Worin besteht denn der Unterschied zwischen denen und diesen feinen Damen, die sich auf Zeitungsannoncen hin den Männern offerieren, wie die Bauern ihr Vieh bei einem Submissionsausschreiben der Volksküche? Da bezahlen die Männer die Liebe, und hier die Frauen: käufliche Liebe auf beiden Seiten.
Eine reiche Frau von vierzig Jahren und noch älter braucht sich nicht vereinsamt zu fühlen. Wenn sie sonst ein nettes Wesen hat, wird sie überall Anschluß finden, und für ihr Geld kann sie sich den schönsten Lebensinhalt[132] schaffen, den es in der Welt gibt: sie kann Nächstenliebe und Christenpflicht in praktischer Form üben. Ob der Zeitungsgatte ihrem »vereinsamten« Leben nun einen besonderen Inhalt geben wird, ist doch mehr als fraglich. Aber das erwartet sie ja auch gar nicht. Sie will nur den »Mann«. Das ist ja auch keine Schande, im Gegenteil ganz natürlich. Aber diese Damen sollen denn auch nicht so mies tun, wenn sie von unsereinem sprechen.
Lieber Himmel! Wenn ich eine reiche, unabhängige Frau wäre, täte ich sieben kleine Kinder adoptieren, und die müßten alle aus den gleichen armen, ruppigen Verhältnissen kommen, wie ich. Und dann würde ich alles daran setzen, diese armen, verkümmerten Geschöpfchen zu fröhlichen, zufriedenen Menschen zu erziehen. – Ich sage nicht: zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft. Das ist Unsinn. Fröhliche, zufriedene Menschen, sind auch immer gute Menschen und nützen der Gesellschaft ... hat man je einen fröhlichen Verbrecher gesehen? Und ich würde mir im übrigen keinen Zwang antun, und mir meine Freunde holen, wie es mir beliebte. Ich würde – Donnerwetter – Mir sollte niemand was vorschreiben und verbieten. Hier bin ich und so bin ich, und wem ich nicht passe, wie ich einmal bin, der soll mir aus dem Weg gehen. Ich baue mir mein eigenes Lebenshaus, und wenn das keine Steinmauern und keine vergitterten Fenster hat, wie die euren, wenn es statt dessen von luftigen Arkaden umgeben ist, die freien Ausblick gewähren, wem schert es etwas? Wer gibt mir etwas für ein Dasein voll unnatürlicher Qual einer mir gegen meinen persönlichen Wunsch und Willen oktroierten Enthaltsamkeit? Wer hat eure Sittengesetze geschrieben?
Die sind alle von Menschen gemacht. Von anderen Menschen. Vielleicht von Menschen, die wirklich die Überzeugung hatten, daß es gut und recht ist, die Natur[133] wie einen bissigen Köter an die Kette zu legen. Aber ich habe eine andere Überzeugung, nach der ich lebe und mich richte. Macht ihr was ihr wollt, ich mache wie ich es will. Aber mich einem wildfremden Menschen auf ein Inserat hin nachwerfen, würde ich nicht...
Herr Lautbach hat drei auf die engere Wahl genommen: eine fünfzigjährige Villenbesitzerin aus Halensee, eine Kunstschlosserswitwe vom Winterfeldtplatz und ein vierzigjähriges Fräulein aus der Rathenowerstraße. Und die will er nun der Reihe nach zu uns ins Café zum Rendezvous bestellen und ich soll dann mein Gutachten nachher mit abgeben. Ich nehme die Sache durchaus ernst und werde die Augen gut aufknöpfen.
Wenn die Sache mit dem Restaurant etwas wird, engagiert Lautbach mich für das Büfett und er wird mich auch bei der Einrichtung zu Rate ziehen. Ich hab ja genügend Fachkenntnisse und ich meine so: man summiert seine Erfahrungen und nimmt von allem das Beste; die praktischen Einrichtungen der amerikanischen, süddeutschen, französischen und nordischen Restaurants in ein Ganzes vereinigt. Das Ding wollen wir schon machen.
Ich mag den Lautbach wirklich gern. Er ist natürlich ein ganz gerissener Kunde und im Grunde ein genialer Gauner, aber durch sein Wesen geht ein großer Zug. Mit Kleinlichkeiten würde er sich nie abgeben. Und das gefällt mir.
* * *
Frédéric schimpft. Ich soll nicht so viel kohlen, sondern bei meinen Erlebnissen bleiben. Aus meinem Durcheinander würde ja kein Mensch klug ... »Dann werden Sie eben dumm,« sagte ich, »glauben Sie nicht, daß es eine ebenso große Kunst ist, die Klugen dumm, als die Dummen klug zu machen.« Er wurde wütend[134] und fragte, ob ich ihn etwa verhahnepampeln wollte. Da wurde ich giftig und schmiß ihm das Manuskript vor die Füße. »Schreiben Sie meinetwegen Ihre eigenen Memoiren,« rief ich. »Ich rühre keine Feder mehr an. Zum Glück habe ich mein Brot und brauch nicht uff die paar Verlegergroschen zu lauern.« Da hat er denn klein beigegeben und schön gebeten. »Sehen Sie, Fräulein Mieze,« sagte er, »das ist ja Ihr eigenstes Interesse. Denken Sie mal, wenn Sie berühmt würden. Was das für 'ne Reklame für Sie wäre. Alle Welt würde ins Café oder ins Restaurant stürmen, um die literarische Büfettiere kennen zu lernen, und Ihr Wirt müßte Ihnen das Gehalt verdreifachen.« Na ja, darin hat er ja recht; ganz hübsch wär's ja. »Aber ich mach's wie ich will,« sagte ich. »Na, man wird doch wohl noch sagen dürfen, wie so und wie denn, die technischen Kunstgriffe des schriftstellerischen Schaffens sind Ihnen doch böhmische Dörfer, Mieze.«
»Ach was, Technik,« sagte ich. »Ich pfeif auf Technik. Ich schreibe nur Wahrheiten, Tatsachen und was ich so bei mir denke.« Damit war's abgetan.
Es ist mir wirklich nicht möglich, alles so der Reihe nach zu erzählen. Das fällt mir immer erst nach und nach ein. Also vier Jahre lang war ich bald hier, bald dort herum als Kellnerin. Ich dachte manchmal daran, wieder nach Amerika zurückzugehen, verwarf den Gedanken aber immer wieder. Die Stellen als Stewardessen auf den Dampfschiffen hängen auch nicht jederzeit auf den Türklinken. Nach Jonas ist die Reise weit und dann hatte ich auch nicht mehr rechte Lust zurück. Auf der Straße findet man dort auch kein Geld.
Das aber sag ich noch mal und schreibe es nieder, um es festzunageln für alle Welt: das Los der Kellnerin ist heutzutage elender als das der Prostituierten. Und wenn sich Menschenfreunde und Soziologen einmal damit[135] beschäftigen wollten, dieser Menschenklasse zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen, würden sie ein großes Werk tun. Die Prostitution schafft so leicht keiner aus der Welt, da nützen weder strenge polizeiliche Maßregeln noch sonst was dazu, und die Leute sollen ihre Finger davon lassen. Aber wie die Ärzte heutzutage nicht das Fieber bekämpfen, sondern dies nur als Erscheinung einer Krankheit betrachten und der Ursache zu Leibe gehen, sollten die Soziologen auch den Ursachen der Prostitution nachforschen und diese möglichst zu vernichten suchen. Und da wäre die erste Handhabe geboten, wenn man es durchsetzen könnte, daß die Wirte es ihren Kellnerinnen nicht erlauben dürften, sich Getränke von den Gästen bezahlen zu lassen.
Ich halte diese ganze Schreiberei für eine faule Marotte vom Herrn Frédéric, denn wieso sollten fremde Leute sich für die Lebensschicksale der armen Mieze Biedenbach interessieren? Wenn ich meine Nachtruhe, die ich so nötig gebrauche, hergebe um Bogen auf Bogen voll zu schreiben, so geschieht das, weil ich im stillen hoffe, meinen unglücklichen Leidensgefährtinnen vielleicht (!) einen Dienst damit erweisen zu können.
Übrigens muß ich in diesen Tagen mal an Paula telephonieren, was sie macht, wie es ihr geht. –
In den vier Jahren hatte ich mir zweiundzwanzighundert Mark ersparen können. Sparsam bin ich; das ist eine meiner wenigen Tugenden, deshalb will ich sie extra registrieren. Allein das langsame Anwachsen meines Sparguthabens machte mir wenig Freude. Mir graute vor der Zukunft. Ich war manchmal ganz kaput, so daß ich gar keinen Spaß am Leben mehr hatte. Ich merkte, daß ich mächtig dabei abfiel.
Sehen Sie, die Anti-Alkoholbewegung müssen wir, die wir vom Geschäft sind, so viel als möglich bekämpfen. Denn wohin sollte es gehen, wenn die Menschen alle plötzlich[136] nur mehr Brauselimonade und Herrnhuterbier und Pomril trinken wollten? Na und soweit sie ins Uferlose geht, findet sie auch bei mir persönlich keine Gegenliebe. Das wäre ja noch schöner, wenn man in froher Gesellschaft kein Glas Wein oder Bier mehr trinken dürfte. Wozu hätte der liebe Gott denn überhaupt die Trauben und den Hopfen wachsen lassen, wenn man nichts mit ihnen anzufangen wüßte. Aber das muß ich ja sagen: viel für sich hat die Bewegung, sofern sie den Mißbrauch des Alkohols aufs Korn nimmt. O, der Alkohol ist ein Satan. Er mergelt das Mark aus den Knochen, macht schlaff und träge. Ich weiß, daß das schon tausendmal festgestellt ist und es überflüssig ist, die längst bekannte Tatsache hier noch einmal festzunageln.
Wenn ich anfangen wollte Beispiele anzuführen, würde ich überhaupt nicht fertig.
Ich hatte in der Zeit viele Verhältnisse. Sie wechselten mit den Stellen. Gewöhnlich war es der Büfettier oder der Oberkellner, ausnahmsweise nur einer der Gäste. Das ist auch eine unmittelbare Folge des vielen Trinkens, daß man nicht allein auf seinen zwei Füßen stehen kann, sondern fortwährend einen Partner haben muß. Es gibt sich alles so ganz von selber. Allgemein heißt es, daß der Typ der süddeutschen Kellnerin ein besserer, anständigerer sein soll als der norddeutsche, aber das ist doch Unsinn. Hier wie dort ist alles dasselbe. Ich war und bin nicht gut auf die Süddeutschen zu sprechen, weil mir ein paarmal eine solche Kollegin ins Gehege gekommen ist. Gerade zu jener Zeit, als die Enttäuschung mit Pachelle mir noch in den Gliedern lag, machte mir eine Bayerin einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn ich war damals wie im Fieber, und wenn ich mal auf Stunden zur Besinnung kam, war ich wie zerschlagen und manchmal direkt lebenssatt, so daß ich Lust gehabt hätte, mich zu vergiften, und in solcher Gemütsverfassung sah[137] ich den einzigen Rettungsweg in einer ordentlichen, soliden Heirat.
Ignaz Gültz hieß er und war Oberkellner, Norddeutscher von Geburt und aus guter Familie. Sein Vater war Oberlehrer. Er hatte Theologie studieren sollen, war aber im ersten Universitätssemester so ins Bummeln gekommen, daß ihm die Gottesgelehrtheit zuwider wurde und er abschwenkte. Mag ja sonst noch manches vorgekommen sein, was er für sich behielt, genug, mit seiner Familie hatte er sich ganz überworfen, und daß er dies und jenes gewesen, Klavierspieler im Tingel-Tangel, Schreiber, Küfer, Bierkutscher und schließlich Kellner. In dem letzten Beruf hatte er sich herausgearbeitet. Er hatte alles Zeug dazu, ein hübsches, fast imponierendes Äußeres, und Bildung und Sprachkenntnisse und ein nettes gewandtes Wesen. Wenn er nur nicht so getrunken hätte! Was hat der Mensch für Geld verdient! In zehn Jahren hätte er so viel beisammen gehabt, um sich ein Hotel kaufen zu können. Aber der Spritteufel verzehrte alles. Tagsüber, im Geschäft hielt er sich ja meistens, aber von zehn Uhr abends an, war er nicht mehr zu gebrauchen. Dabei hielten die Gäste so viel von ihm, daß der Wirt ihn nicht wegzuschicken wagte.
Wir waren uns bald einig. Ich hoffte bestimmt, als seine Frau etwas aus ihm zu machen, und er sah es auch ein, daß ich es gut mit ihm meinte, und daß es kein schlechtes Geschäft war, mit mir eine gesetzlich festgelegte Kompagnonschaft auf Lebensdauer abzuschließen.
Tief im Grunde seiner Seele erkannte er sein Elend ja selber, er war ja so klug und er hielt was auf sich, ja, er war direkt eitel und sehr durchdrungen von seiner Bedeutung als Persönlichkeit. In Berlin hatte er in einer feinen Weinstube des Westens eine Anzahl hochgestellter Herren bedient, und sich so in ihr Vertrauen hineingeschmuggelt, daß sie ihn zu allerlei diskreten Missionen[138] und Geschäftchen benutzten. Ich hätte es ja für Renommisterei gehalten, wenn ich nicht selber die Briefe gelesen hätte, die er noch von diesem und jenem aufbewahrt hatte. Besonders Einem, der noch heute eine große Rolle im öffentlichen Leben spielt, war Ignaz so etwas wie die rechte Hand gewesen. Der hatte ihn auch als Kammerdiener haben wollen und ein paar Monate hat Ignaz es in der Stelle ausgehalten, aber dann hat er in seiner Angeduseltheit einmal eine kolossale Dummheit gemacht.
Die betreffende Exzellenz unterhielt nämlich Beziehungen zu einer Dame der Gesellschaft, und Ignaz spielte Postillon d'amour und einmal, als er einen Brief zu befördern hatte, trifft er unterwegs einen alten Bekannten und segelt mit ihm in eine Destille und pumpt sich so voll Alkohol, daß er seinen Auftrag ganz vergißt und den Brief auch noch zu allem Malheur verliert. Und wie es dann immer so geht, hat der Teufel auch noch seine Hand im Spiel, daß gerade so'n verflixter Journalist von einem Montagsblatt den Wisch in die Hände bekommt. Dem war das natürlich ein gefundenes Fressen und gleich los drauf und die Chose veröffentlicht. Resultat natürlich großer Skandal, Scheidungsprozeß und die Exzellenz über Bord, – wie man sagt, dicht vor dem Ministerportefeuille; Ignaz aber natürlich geschaßt – – Also wie gesagt, mein Ignaz hatte seine Schicksale, er war oft am Aufstieg, aber der Suff warf ihn immer wieder zurück und herum.
Er hatte keinen Pfennig Erspartes, aber weil er ein tüchtiger Mensch war, wollte ich es mit ihm versuchen, und er schien auch auf mich zu hören.
Aber da kam eine Münchnerin in die Quere. Gott mag wissen, was er an dem Fratz mit ihren Schielaugen für einen Narren gefressen hatte. Sie hatte 'ne Nase wie 'ne Gurke, und 'n Teint wie ein faules Ei, und verschiedene[139] Zahnlücken im Mund, aber trotzdem gelang es diesem häßlichen Weib, mich bei Ignaz auszustechen. Eines Tages waren die beiden durchgebrannt. Was mich anbelangt, so habe ich ihm keine Träne nachgeweint, aber als ich ihn vor kaum einem Jahre in Berlin als Landstreicher wiederfand, ist es mir doch nahe gegangen. Die letzten beiden Jahre war er ganz im Tran gewesen, hatte zweimal Delirium gehabt, und dann setzte das Drama dieses verfehlten Lebens an: existenzlos, obdachlos ... Hunger, Elend und über alles der Fuseldunst der Schnapsflasche ... Also wie gesagt, ich hatte das Kellnerinnenleben satt. Ich wußte, daß ich so ziemlich auf dem Grunde angelangt war.
In dieser Zeit kam ein Brief aus Hamburg, daß Tante Schlappkohl sehr krank sei, und nach mir verlangt. Ich besann mich keine zehn Minuten und reiste am andern Tag schon ab.
Tante Schlappkohl war nierenkrank und lag sozusagen schon in den letzten Zügen, als ich dort anlangte. Der sonst so proppere Haushalt war total versaut, weil die alte Frau doch in letzter Zeit nichts mehr machen konnte, und meine Anwesenheit war in mehr als einer Hinsicht kein Luxus. Heute noch ist es mir ein angenehmes, befriedigendes Gefühl, daß ich meine alte, treue Freundin – – der beste Mensch, den ich im Leben gehabt habe! – in ihren letzten Tagen pflegen und mich so etwas dankbar zeigen konnte.
Sie hatte allerlei Schrullen und Eigenheiten in ihrer Krankheit. Sie lag im Bett mit einer schwarzseidenen Mantille um, und einer großen baumwollenen Schürze umgebunden. Weder der Doktor noch die Schwester durften sie berühren. Zu Fußende ihres Bettes hatte ein Katzenehepaar, der Kater Michel und die Katze Wieschen – sein Lager. Und vierzehn Tage vor Tantens Tode bekam Wieschen Junge, fünf Stück, und das ganze[140] Wochenbett wurde in Tantens Bett zu Fußende abgehalten. Eine nette Sauce. Trotz des Ernstes der Krankheit konnte sich der Doktor kaum das Lachen verbeißen, wenn er die wunderliche Patientin und das Katzenidyll betrachtete.
In den letzten vierzehn Tagen kam auch der Pastor jeden Tag. Sie wollte durchaus nichts von ihm wissen, aber er erzwang sich den Zutritt zu ihr und ich konnte es nicht hindern. Und es gelang ihm richtig, sie zum Zuhören zu bewegen und Einfluß auf sie zu gewinnen, so daß sie auf ihrem Ende von einer entsetzlichen Angst vor dem Tod und dem Jenseits erfaßt wurde. O, ich war wütend, und am liebsten hätte ich dem Pfaffen, der mit seinen Ermahnungen und Bußpredigten die arme Kranke quälte und beunruhigte, die Tür gewiesen.
In den langen, schlaflosen Nächten, wenn sie sich in trockner Fieberglut mit hochrotem Kopf umherwarf, saß die Angst vor der Hölle und der ewigen Verdammnis wie ein Gespenst auf ihrer röchelnden Brust. Diese arme, gute, einfältige Frau, die niemals einem Tier, geschweige denn einem Menschen, was zuleide getan hatte, marterte sich mit dem Gedanken, daß doch vielleicht irgendeine blutigrote Todsünde wider den heiligen Geist ihr den Eintritt zum Paradies versperren könnte, und weder Zureden noch Vorstellungen konnten ihr diese Angst vertreiben.
Es war manchmal schrecklich anzuhören. Eben glaubte ich sie eingeschlafen, dann fuhr sie wie irr empor: »Du – Mieze – – Es war doch eine schwere Versündigung, weißt du –?« »Was denn, Tante?« »Ach du weißt nicht. Damals, als wir noch mit Schuhwaren auf die Märkte fuhren. Und wenn ich die langen Stiefel heimlich verkaufte und das Geld einsteckte, und mir 'n echtes Tuch dafür kaufte, weil Jakob doch nix davon wissen sollte. Sechzig Mark kurant und alles Schmuh ...«[141]
»Und daß der Sekretär Witte jahrelang immer drei Mark fürs Sohlen zahlen mußte, und die andere Kundschaft man zwei Mark achtzig ...«
»Ob sie das oben auch wissen – – Und zwei Jahre zu wenig Steuern angegeben? – – Und gelogen, als die Schulzen mich wegen der Schimpferei zu Zeuge haben will, und ich sag', ich hab nix gehört, weil ich doch solche Manschetten vors Gericht hab, und hab doch was gehört – –«
So ging es die ganzen Nächte. Furchtbar. Bis in ihre letzte Stunde verfolgte sie die Qual der Jenseitsfurcht.
Ich kann seitdem die Pfaffen nicht leiden. Wenn ein Kranker nach ihnen verlangt – gut, dann mögen sie kommen. Aber sich ungebeten Kranken aufdrängen und die todmüde Seele aufpeitschen mit düsteren Wahnvorstellungen, ist geradezu ein Verbrechen.
Tante Schlappkohl wäre ohne geistlichen Beistand sanft und still über die Brücke der Todesstunde geschritten; so aber, unter schwarzer Assitenz, wurde der Übergang zu einem wilden Kampf zwischen Körper und Seele. Dafür hielt der Herr Pastor an ihrem Sarg denn aber auch eine schöne Rede, in der er ausführte, daß die »harte Seele dieser Toten« sich in elfter Stunde losgerungen von der Sünde der Verstocktheit und »bußfertig« und »versöhnt« heimgegangen sei.
Na – ich sage gar nichts dazu. Aber ich habe, während ich davon schreibe, einen galligen Geschmack im Munde, und muß ausspucken, um, ihn loszuwerden. – –
Tante Schlappkohl hatte ein Testament gemacht, in dem ihr alter Geselle Detlefs und ich zu Universalerben eingesetzt waren. Vermögen war nicht da, aber auch keine Schulden, und das Haus hypothekenfrei.
Wir einigten uns, daß Detlefs das Haus und Geschäft behielt und mir fünftausend Mark auszahlte. Als wir[142] nach dieser Seite hin schon schlüssig waren, rückte Detlefs mit dem Vorschlag heraus, daß wir zusammen bleiben und uns heiraten.
Im ersten Augenblick schien mir die Idee nicht mal so übel. Wie gesagt, hatte ich das Kellnerinnenleben bis dahinaus satt, und eine gute solide Heirat mit Zubehör einer geordneten Häuslichkeit und sicheren Existenzverhältnissen, war ja egal das, was ich mir wünschte. Wenn der gute alte Detlefs nur nicht so total verschustert gewesen wäre! Mir spukten noch Roger Pachelles gepflegte Hände und rosenrote Wäsche im Kopf herum, und der Gedanke, mit einem Mann zusammen zu leben, dessen Hände schwarz von Pechdraht waren, und in dessen Dickschädel außer dem Verständnis für Schäfte und Sohlen und Lederpreisen kein Interesse vorhanden war, schien mir so entsetzlich, daß ich dann gleich raschweg nein sagte. Eigentlich ja dumm, denn der nüchterne, gutherzige Detlefs wäre eine ganz andere Partie gewesen als der versoffene Gültz, und den schwarzen Fingern wäre mit Seife und Soda schließlich beizukommen gewesen, auch glaube ich, daß es für das Glück der Ehe doch schon vorteilhafter ist, wenn der Mann ein gutes Schaf, als wie ein gerissener Kunde ist. Aber ich mochte nicht. Punktum.
Ich dachte nun, da ich es nicht mehr so ganz nötig hatte, mich um eine Stelle als Büfettiere zu bewerben.
Die Büfettiere verdient 75 bis 150 Mark monatlich bei freier Station, ist also bei weitem nicht so gut gestellt als wie eine tüchtige Kellnerin. Aber dafür ist sie, wenigstens nach ihrem eigenen Dafürhalten, was die soziale Stellung anbelangt, der Kellnerin eine Halslänge voraus, einen Kopf größer. Und vor allem fällt die verflixte Sauferei fort. Wenn sie auch mal gelegentlich aufgefordert wird, ein Glas mitzustippen, so kommt das doch gar nicht in Betracht zu den Anforderungen, die in[143] dieser Hinsicht an die bedienende Kellnerin gestellt werden.
Ich mußte mich noch eine Zeitlang in Hamburg aufhalten, weil Detlefs das Geld gleich flüssig machen und mir auszahlen wollte. In der Zeit fiel mir eines Tages ein Inserat in die Augen, in welchem ein gebildetes, durchaus anständiges Mädchen zur Bedienung in einer vornehmen Weinstube gesucht wurde.
Anständig und gebildet? Anständig – na ja, das kennt man. Der Begriff ist dehnbar und relativ. Aber eine gebildete Kellnerin! Der Wortlaut schien mir so kurios, daß ich darauf losging, um mir die Sache anzuschauen.
Es war ein feines, etwas verstecktes Lokal in der Börsengegend, das seine bestimmten Stammgäste hatte. Der Eingang war wie der eines Privathauses und für Uneingeweihte nicht mal leicht findbar. Die Lokalitäten waren wie vornehme Speisezimmer in herrschaftlichen Häusern eingerichtet; rote dicke Smyrnateppiche auf dem Boden, die Möbel flämisch Eiche, und alles sehr gemütlich und behaglich.
Die Inhaberin war eine Frau Clara Bischoff, eine noch junge, sehr elegante Dame. Im ersten Augenblick, als ich sie sah, traute ich dem Frieden nicht; ich habe noch von Buenos-Aires her ein unüberwindliches Mißtrauen gegen seidenrauschende und brillantenbesetzte Wirtinnen. Aber ich hatte mich doch geirrt; sie war eine ganz nette, verständige und vor allem sehr geschäftskluge Frau, die ihren Vorteil zu nehmen wußte, aber auch jedem das Seine ließ, und mit der man im allgemeinen gut auskommen konnte.
Ich gefiel ihr und sie engagierte mich sofort gegen eine Monatsgage von hundertfünfzig Mark.
»Ich kann nicht alle und jede als Bedienung gebrauchen,« sagte sie (die Bezeichnung Kellnerin vermied[144] sie sorgfältig; sie war sehr stolz, offenbar ging es ihr wider den Strich eine Kellnerinnenwirtschaft zu haben), »die jungen Mädchen müssen eine gewisse Bildung, jedenfalls ein ausgesprochenes Taktgefühl besitzen, sie müssen diskret bedienen; liebenswürdig zu plaudern verstehen, wenn sie dazu aufgefordert werden, niemals aber eine Unterhaltung mit den Gästen provozieren, – die Herren kommen zu uns um zu speisen, und nicht zu techtelmechteln. Sobald ich bemerke, daß eines der Mädchen aufdringlich kokettiert, fliegt sie hinaus. Was meine Leute außerhalb des Geschäfts machen, ist dagegen nicht meine Sache und kümmert mich nicht.« Und so war es. Die nicht sehr großen Räume waren zur Frühstücks- und Dinerzeit immer besetzt, fast lauter Stammgäste, ältere Herren so zwischen vierzig und sechzig, Börsenmatadore, für die die feinsten Leckerbissen und die auserlesensten Weine eben gut genug waren, wie die reichen Hamburger ja überhaupt große Schlemmer sind. Das muß ich sagen, die Frau Bischoff verstand ihre Sache, und kannte ihre Gäste und wußte ihnen um den Bart zu gehen, ohne sich dabei etwas zu vergeben, jeden nach seiner besonderen Art, so daß ein jeder sich ganz besonders von der liebenswürdigen Wirten ausgezeichnet fühlte. Sie hatte so das Vertrauen ihrer Gäste für sich, daß die Herren alles mit ihr besprachen und sie daher wahrscheinlich mehr von den Geschäften ihrer Gäste wußte, als deren Frauen. Sie heuchelte ein so intensives Interesse an all dem Börsenkram, den Kaffee- und Kardemompreisen, den Russen und verschiedenen Anleihen, daß wohl jeder einzelne überzeugt war, sie ginge ganz in seinen Angelegenheiten auf; sie hatte ihren eigenen Börsenagenten, der ihr vor Börsenschluß telephonisch einen kurzen konzentrierten Bericht erstattete und wenn die Herren dann kamen, trat sie ihnen je nach Hausse und Baisse der speziellen Interessen entgegen, entweder ein strahlendes[145] Lächeln aufgeschminkt oder mit niedergeschlagener Miene, ganz geknoken. Und das gefiel den alten Herren. Wenn sie ihr massives Diner eingenommen hatten, wischten sie sich den Mund und schmunzelten: ein hervorragendes Essen. Und eine feine, kluge, scharmante, angenehme Frau, die Bischoff –
Darin lag aber auch das ganze Geheimnis ihres Erfolges und nicht etwa in Schlechtigkeiten, wie man sie ihr nachreden wollte. Fräulein Resi, die Büfettiere, die sich nicht besonders mit ihr stand, behauptete zwar, Frau Bischoff verstände selbst nicht die Bohne vom Geschäft, aber ich meine, sie verstand das Geschäft besser als fünfhundert Schankwirtinnen gewöhnlichen Schlages und ich habe manches von ihr gelernt. Die Männer, die doch das Kontingent der Wirtshausbesucher stellen, sind im Grunde wie kleine Kinder, sie wollen gern ein bißchen verhätschelt werden und wollen wissen, daß man ihrer Person eine nicht geringe Wichtigkeit beimißt, und diese schwache Seite verstand unsere Frau auszunutzen. Jeder Gast wurde von ihr in das Bewußtsein eingelullt, daß er der einzige sei, dessen Behagen und Wohlbefinden ihr wahrhaft am Herzen liege, und daß gerade sein Ausbleiben sie tatsächlich zur Verzweiflung bringen würde. Aber nichts weiter. Dafür sorgte schon der Herr Konsul Brenkmann, der als Kapitalist hinter dem Unternehmen stand und mit Frau Bischoff sehr befreundet war. Er hatte ein sehr herrisches Wesen und wir kuschten alle, wenn er das Lokal betrat; alle vier Wochen flog der Manager heraus, weil der Herr Konsul sich einbildete, daß Madame, die in der Wahl ihrer Leute einen guten Geschmack bewies, was sich ja am deutlichsten bei meinem sofortigen Engagement zeigte – und immer bildschöne Menschen wählte, mit dem Manager karessierte. Auch das war eine ganz falsche Voraussetzung, denn dazu war sie viel zu klug und hochmütig.[146]
Fräulein Resi hatte freilich immer etwas hinter dem Rücken der Frau Bischoff zu räsonieren. Es kam nämlich so: Resis Verehrer, ein junger Kaufmann, kam jeden Abend zu uns. Für gewöhnlich war bei uns um zehn Uhr Schluß, aber dieser Herr kam immer erst um halb zehn und blieb dann geschlagene zwei Stunden sitzen. Einmal paßte ein Kunde, der ein Schnitzel oder ein Beefstück verzehrte, und eine halbe Flasche Mosel dazu trank, Frau Bischoff überhaupt nicht besonders, und zweitens war ihr die lange Herumsitzerei von dem Mann nicht genehm, und das hatte sie Resi zu verstehen gegeben. Und seitdem war ihr die Resi nicht grün, und suchte ihr zu schaden, wo sie nur konnte.
Der Konsul war verheiratet und wohnte in Pöseldorf, und weil er sehr oft zu uns kam, machte Resi sich ihren Reim darauf und schrieb eines Tages der Frau Konsul einen anonymen Brief. Ihre Klaue war aber so unleserlich, daß der Postbote anstatt Frau Konsul, Frau Kornelius Brenkmann herauszifferte, – die wohnte nämlich auch in Pöseldorf und war zum Pech ein fürchterlich eifersüchtiges Weib, und wie nun der Brief kam, war natürlich Feuer im Dach und sie lief gleich davon und zum Rechtsanwalt, um die Scheidungsklage anzuhängen, und ein paar Tage drauf war Termin beim Friedensrichter. Na, da ist der Herr Kornelius denn natürlich fast auf den Rücken gefallen, über all die Schandtaten, die ihm angehängt wurden, und hat hoch und heilig beteuert, daß er eine Frau Bischoff weder dem Namen noch dem Ansehen nach kenne. Natürlich glaubte seine holde Gattin ihm nicht und der Richter schlug endlich vor, Frau Bischoff herzubitten, um sie mit Herrn Kornelius zu konfrontieren. Das geschah denn auch, und dann stellte es sich heraus, daß die beiden Angeschuldigten einander noch nie gesehen hatten, und das Ehepaar ging versöhnt nach Hause.[147]
Ich habe Frau Bischoff nie so herzlich lachen hören, wie an dem Tag, als sie von diesem denkwürdigen Termin heimkehrte. Sonst lachte sie selten und höchstens nur, wenn einer der Gäste einen Witz oder ein Anekdötchen mit mehr oder minder geistreicher Pointe erzählte, und das gehörte zum Geschäft. Sonst lag immer etwas Dunkles auf ihrer Stirn und über ihren Augen. Sie war keine glückliche Frau.
* * *
Von den Heinrichs höre und sehe ich doch nichts mehr; sein Ausbleiben ist mir ordentlich unheimlich ... Max Ilscher war gestern wieder da, der ist jetzt ganz voll von dem Streik der Metallarbeiter, an dem er ja auch beteiligt ist. Er zwar persönlich streikt nicht, aber seine ganzen Interessen und Sympathien gehören doch den Arbeitern. Ich für meine Person bin der Ansicht, daß mit der Streikerei nicht viel aufgeschüttelt wird, aber der Ilscher sagt: »Streik muß sein, wenn nicht anderes damit bezweckt wird, als die trägen Säfte in der Masse der Arbeitenden mal aufzurütteln, zu stärken und in Fluß zu bringen. Er selbst hat wenig Hoffnung auf einen für die Arbeiter glücklichen Ausgang. Ein reicher Herr in Berlin, der Dr. A., hat eine Million Mark in die Streikkasse gegeben. Aber es soll verschwiegen bleiben. Warum weiß ich nicht ...« Wenn ich reich wäre, und eine so hochherzige Gabe zu einem edlen Zweck stiften könnte, würde ich mich auch nicht schämen, meinen Namen dafür herzugeben. Denn die Sympathien jedes guten Menschen müssen doch auf Seiten der Arbeiter stehen, wenigstens nach meiner Meinung. Leider macht auch dieses eine Milliönchen den Kohl nicht fett.
Zweimal hatte ich eine von Onkel Lautbachs Heiratskandidatinnen oben. Zuerst das Fräulein aus der Rathenowerstraße, eine gemütliche alte Tante von zwei Meter[148] Leibesumfang und eine dreifache Fettpolstergarnitur unter dem rundlichen Kinn; offenbar sehr dumm und sehr gutmütig. Die zweite war die Villenbesitzerin aus Halensee, jugendlich und kokett herausgeputzt, sehr knochig, in den hellgrauen Augen was Falsches, Giftiges.
Die als Chefeuse ... Danke ergebenst! Herr Lautbach war ganz meiner Ansicht und hat sie gleich schießen lassen. Die war noch mit dreihunderttausend zu teuer. Nun haben wir uns noch mal die dritte herbestellt.
Vorige Woche bekam ich auch einen Brief von meinem russischen Freund aus der Mandschurei, und gerade als ob – sie's geahnt hätte – und zum Trotz käme, war Madame Therese tags darauf mit zwei Freundinnen abends bei uns. Die Drei saßen in einer Ecke und pafften Zigaretten, daß die ganze Nische voll Rauch hing und medisierten über eine vierte Freundin, die sich einen Brillantring gekauft und bar bezahlt hatte.
»Zu dumm,« sagte die eine »hat man je etwas so Unschickes und Trotteliges gehört, daß eine Frau hingeht und in einem Juwelierladen – nicht einmal Gelegenheit! – einen Brillantring gegen Barzahlungkauft! Ich verstehe so etwas einfach nicht. Als anständige Frau läßt man sich Brillantringe schenken, oder wenn man sie nicht geschenkt bekommt und sie sozusagen als Geschäftsrequisiten gebraucht, kauft man sie auf Abzahlung. Sich Brillantringe bar zu kaufen, ist direkt unsolide und unanständig.«
»Und läßt tief blicken!« ergänzte die zweite weise, und Madame Therese nickte; offenbar war dies auch ihre Ansicht.
Es ist wirklich zum Schießen, was diese Frauenzimmer für eine eigentümliche Logik in puncto Moral haben. Ich habe es, glaube ich, schon mal niedergeschrieben, daß ich die Halbseidenen nicht leiden kann. Wer aus Liebe oder Temperament oder meinetwegen aus[149] Not »sündigt«, um das schöne Wort anzuwenden .... meinswegen. Aber diese faulen, nichtsnutzigen Weiber, die sich nur hergeben, um ein behagliches Leben führen zu können, sind nach meiner Meinung unter der Kanone schlecht. Da ist mir eine ehrliche Reinseidene tausendmal lieber. Dabei muß ich doch mal wieder auf das Tagebuch der Verlorenen zurückgreifen. Es ist merkwürdig, daß sich die Leute darüber gar nicht beruhigen können und immer noch darüber hin und her streiten. Neulich behauptete hier im Lokal auch so 'n Menschenkenner aus dem ff, daß es Thymiane überhaupt nicht gäbe. Ich wollte mich nicht mit ihm in ein Disput einlassen, aber da hätte ich ihm doch heimleuchten können.
Ich habe in meiner Erinnerung mehrere, die auch Thymiane hätten sein können. Zum Beispiel die kleine blasse Grete, die immer ins Apoll kam und die gar nicht recht voran kommen konnte, obgleich sie hübscher war als manche andere, die ein kleines Vermögen von Brillanten an sich trägt. Das kam, weil sie immer eine Dilettantin in ihrem Beruf blieb; von dem, was eine sorgfältige Erziehung und die Jugendjahre in den festgefügten Familienkreis des gut bürgerlichen Hauses, dem sie entstammte, in ihr an natürlichem Schamgefühl und an Anständigkeit hineingelegt hatten, waren die Wurzeln stecken geblieben und ließen sich durch allen überwuchernden Leichtsinn nicht ersticken.
Sie war eine Geheimratstochter und hatte sich jung von einem Schreiber ihres Vaters verführen lassen, war dann von ihrer Familie verstoßen und ganz auf den Hund gekommen. Das Leben und das Elend hatten sie in ein paar Jahren aufgerieben, und fünf Monate, nachdem ich sie kennen lernte, starb sie im Spital, kaum 22 Jahre alt. Ich habe sie dort ein paarmal noch besucht, weil sie mir leid tat. Auf einem Tischchen, neben ihrem Sterbebett lag ein von ihrer Hand geschriebenes Gedicht, das[150] nachher in Zeitungen abgedruckt wurde, und weil es so ergreifend schön ist und es so recht zum Ausdruck bringt, wie sehr diese Mädel oft innerlich unter ihrem traurigen Gewerbe leiden, habe ich es aufgehoben und schreibe es hier ab:
Prächtiger Schnee.
O wie schön, wie schön,
Wenn aus den grauen Höh'n
In dichtem Gewimmel
Hernieder vom Himmel
Sanft und still,
Wohin sie will,
Weit und breit auf Dach und Gasse
Sich niederdrückt die dichte Masse.
Die weiße Flocke
Dort netzt eine Locke,
Da küßt eine Wange,
Sei nur nicht bange;
Im Himmel droben,
Von Engeln gewoben
Ist rein ihr Gewand,
Ohn' irdischen Tand.
Haucht der Wind hinein,
Drängen sich Reih'n an Reih'n
Auf leichten Schwingen,
In weiten Ringen,
Dicht geschart, lose gepaart,
Fröhlich tanzend, flüchtig eilend,
Keinen Augenblick verweilend.
Wie lacht entgegen
Dem weißen Regen
Das Auge des Knaben;
Sie kommen und traben
Schlitten auf Schlitten
Gar lustig geritten,
Mädchen hintan
Auf gleitender Bahn. –
Straßen ein und aus,
Freude in Saus und Braus,[151]
In fröhlichem Necken,
In Furcht und Schrecken,
Alt und Jung in Schlich und Sprung
Zittern, zappeln, tasten, schnaufen.
Eifern, treiben, drängen, laufen,
Und jetzt das Gleißen
Des zierlichen, weißen
Gestöbers des feinen,
Des engelreinen.
Wo ist es geblieben?
Zertreten, zerrieben,
Kotiger Schlamm,
Was vom Himmel kam!
Wie diese Flocke rein war ich einmal;
So sank von Fall zu Fall bis auf den Grund
Ich auch, zertreten nun und todeswund.
Ich nippte, schlürfte, endlich trank ich aus
Den Taumelkelch bis zu der Hefen Graus;
Für einen Bissen Brot ein feiles Weib,
Verkauft, verloren nun an Seel' und Leib.
Ich hatte einst der Flocke reines Weiß,
Der Unschuld Zier, der Stirne Ehrenpreis.
Wo find' ich noch der Schwestern trautes Paar,
Das Mutterherz, den Kranz im gold'nen Haar?!
Verloren mir und euch und ohne Gott,
Auf offner Straße jeder Dirne Spott,
Dem Leben Feind und vor dem Tod erblaßt,
Gespenst den Toten, Lebenden verhaßt.
Und siehe da, die Flocke, des Himmels weißes Kind,
Läßt sich auf Sünder nieder, so freundlich und so lind!
O Sünderin, verzage du nicht in deinem Weh',
In deinem Fall zertreten, wie dort in Schlamm der Schnee,
Für dich stieg ja hernieder, das weiße Gotteslamm,
Und hat für dich geblutet, am harten Kreuzesstamm.
Ist es denn wahr, daß ferne sein Ohr mein Ach vernahm,
Und bis in meine Tiefen sein Blut hernieder kam?
– So will ich ihn ergreifen in meiner tiefen Not,
Dann wird wie Schnees Weiße die Schuld, die blutig rot.
[152]
Ist so eine, die solche Gedanken hat, nicht zehntausendmal besser, als solche Therese? Aber so eine kommt leicht wieder hoch, wer sich aber so tief im Morast verrannt hat, wie die arme Grete, kommt nie wieder hervor. Die Gesellschaft mit ihrer famosen Moral, findet immer wieder Mittel sie hinabzustoßen, und hätte sie sich noch so mühevoll herausgearbeitet. Da las ich erst gestern eine Notiz in einer Lokalzeitung, das diese Manie, den Unglücklichen immer wieder einen Fußtritt zu geben, richtig beleuchtet:
»Gestern wurde ein erst kürzlich aus sittenpolizeilicher Kontrolle entlassenes Mädchen als choleraverdächtig in die Isolierbaracke geliefert ...«
Herrjeses!!! Wenn sie denn schon aus der Kontrolle entlassen war, also mit andern Worten den ehrlichen Vorsatz, anständig zu werden, hatte, muß denn das nochmal extra in der Zeitung festgenagelt werden? Was hat die Tatsache, daß sie unter Kontrolle stand, mit der Tatsache, daß sie choleraverdächtig war, zu tun? Hat so ein Skribent, der für zehn Pfennig die Zeile seine Neuigkeit ablädt, denn gar keine Umgedanken, daß mit solchen verflixten vier Worten eventuell ein ganzes Menschenschicksal vernichtet und wieder in Schmach und Nacht hinabgestoßen wird!
Ich will nun annehmen, sie hätte einen Mann gefunden, der sie wieder ehrlich machen will, und seine Angehörigen und Bekannte wissen nichts von der Vergangenheit seiner Braut. Sie wissen aber, daß diese Braut als choleraverdächtig in die Baracke kam, und nun erscheint solche Notiz und enthüllt alles ... Wenn schon für die Sache an sich kein Kraut gewachsen ist, kann der einmal über das Drama einer Vergangenheit gefallene Vorhang nicht wenigstens luftdicht gesenkt bleiben? Müßte nicht ein solch böswilliges Heraufbeschwören[153] des Gewesenen unter einen Paragraph des Strafgesetzbuches fallen? Ach, es ist ekelhaft ...
* * *
Das Jahr in Hamburg war ein sehr gutes für mich, und ich wäre vielleicht noch dort, wenn sich die Verhältnisse nicht verschoben hätten. Das kam nämlich so:
Die Frau Bischoff hatte zwei kleine Mädchen bei sich, eines war das ihre, ein niedliches Ding von vier Jahren, und das andere gehörte einer verstorbenen Freundin von ihr, und war acht Jahre alt, ein ganz entzückendes Wesen, aber so zart, daß man fürchten müßte, es zerbräche, wenn man es anfaßte. Das Klärchen, so hieß die Kleine – Frau Bischoff war ihre Patin – hinkte ein wenig und war immer krank, obgleich kein Doktor sagen konnte, was ihr fehlte.
Dieses Kind, das von Frau Bischoff mehr verhätschelt wurde, als ihr eigenes, bildete einen immerwährenden Zankapfel zwischen ihr und dem Konsul. Denn der Konsul vergötterte dieses Kind und hatte die fixe Idee, daß Frau Bischoff es gegen das Kleine zurücksetzte. Und darüber war immer Verdruß, denn es war ein ungerechter Verdacht, aber es gab deshalb öfters Szenen. Ich hatte schon nach den ersten Monaten so das Vertrauen unserer Frau gewonnen, daß sie mir eine Kammer in ihrer Wohnung im dritten Stock zur Verfügung stellte, so daß ich keine Miete bezahlen brauchte. Wofür ich ihr denn allerhand Gefälligkeiten erwies. Unsere Frau hatte nämlich ihre Schwächen, und da ich diese herausgefunden hatte, war ich ihr bald unentbehrlich. Sie ließ sich gern wie eine vornehme Dame bedienen, schlief meist bis zehn, halb elf und dann zog ich sie an und machte sie soweit zurecht, daß ich sie um elf der Friseuse abliefern konnte. Und dabei klagte sie mir zuweilen ihr Leid, wenn es[154] abends vorher wieder einmal eine Szene gegeben hatte, d.h. sie sprach sich nie direkt darüber aus, aber ich erhielt als Niederschlag allerlei lehrreiche Schlußfolgerungen vorgebetet, in denen zum Teil viel Wahres lag und die ich mir deshalb gut notiert habe.
»Wenn ich zehn Jahre zurück könnte, würde ich katholisch werden, nur um in ein Kloster gehen zu können,« sagte sie. »Ich weiß gar nicht, was die Menschen immer gegen die Klöster haben. Ich finde diesen weißen Klosterfrieden der Nonnen himmlisch. Mag sein, daß es auf die Dauer etwas eintönig wird, und daß sich ein temperamentvolles Weib manchmal etwas unbehaglich dabei fühlt, aber was ist das gegen das Elend, in das man durch die Männer kommt ...«
»Ach du liebes Herrgottchen! Wenn ich Ihnen einen Rat geben soll, Mieze, dann beginnen Sie nie ein Verhältnis mit einem Mann, den Sie lieben. Ehen und Verhältnisse soll man nur mit Männern eingehen, bei denen man ruhig bleibt und die man gegebenenfalls kaltblütig verabschieden kann. Sonst ist das Unglück da ...«
Eines Morgens war sie ganz außer sich, sie sah überwacht und verweint aus und erzählte mir, daß der Konsul ihr wieder Vorwürfe gemacht habe, daß Klärchen nicht die richtige Pflege hätte. Wenn es nicht anders würde, täte er das Kind zu seiner Frau bringen (sie hatten nämlich keine Kinder). Ich sagte: »Ich an Ihrer Stelle würde ihm das Klärchen lassen, Frau Bischoff! Sie haben von dem fremden Kind doch nichts als Ärger und Mühe!« Aber davon wollte sie nichts hören und sagte, daß sie sich lieber mitsamt den beiden Kindern vergiften werde, als daß sie das Kind ihrer verstorbenen Freundin ausliefere. Sie war sehr erregt.
»Wenn diese Quälerei kein Ende nimmt, werfe ich eines Tages alles hin und gehe mit den Kindern davon,« sagte sie. »Ich habe ja ein Haus in Thüringen, in dem[155] ich einstweilen bleiben kann,« (sie war nämlich noch mit ihrem Mann in Scheidung, und dieses Haus, das ihm gehörte, war ihr vom Gericht als Aufenthaltsort zugewiesen) »und wenn ich da nicht mehr bleiben kann, ziehe ich nach Frankfurt oder Wien oder sonstwo hin in eine große Stadt, wo mich niemand kennt, und wenn ich mir da in einem Hinterhaus fünf Treppen hoch eine Kammer und eine Küche miete und mich mit den Kindern mit Waschen und Plätten ernähren soll, so bin ich doch tausendmal glücklicher als bei diesem miesen Leben.«
Ich gestattete mir den Einwand, daß eine so tüchtige und kluge Frau wie Frau Bischoff sicher noch andere Erwerbszweige findet, als wie Waschen und Bügeln, und konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Denn unsere Madame hatte eine rasende Vorliebe für seidene Strümpfe und Pariser Batistwäsche und luxuriöse Parfüms und die Vorstellung, sie in einem Frankfurter Hinterhaus fünf Treppen hoch waschen und bügeln zu sehen, war einigermaßen komisch. Die Sache war auch nicht so ängstlich, denn der Inhalt von Frau Bischoffs Schmuckkassette war nicht von Pappe und reichte, in Bar umgewandelt, meiner Ansicht nach hin, ihr mitsamt den beiden Mädelchen ein sorgenfreies, wenn auch nicht von Spitzen und Seiden durchrieseltes Leben zu schaffen.
Aber sie tat mir bei alledem doch leid, denn man sah, daß sie litt und sich unglücklich fühlte und mit sich selber unzufrieden war. Wie und warum entzieht sich meiner Kenntnis. Nur soviel erfuhr ich, daß diese Weinstube vor Jahren von ihr gegründet wurde, dann in andere Hände übergegangen war, und daß sie sie erst vor einem halben Jahr wieder übernommen hatte, – dem Konsul zuliebe, der die kleine Kläre gern in seiner unmittelbaren Nähe haben wollte. Frau Bischoff hätte bestimmt auch in einer eleganten Etage wohnen und die Hände in den Schoß legen und sich nur bedienen lassen können, aber[156] dazu war sie zu stolz; und dadurch war sie mir sympathisch.
Im Sommer war sie mit den Kindern acht Wochen in Ostende und während der Zeit, wo es im Geschäft ziemlich still war, vertrat ich sie, und es ging alles in gewohnter Weise weiter.
Anfang Dezember kamen sie zurück. Die kleine Kläre hatte sich an der See gar nicht erholt. Das Kind war wie ein Engel so weiß, so still, so sanft, so fügsam und liebenswürdig, daß man unwillkürlich, wenn man sie beobachtete, sich sagen mußte: die ist nur in einer andern Welt zu Hause. Die hätte, wenn sie alt geworden wäre, nicht in das robuste Leben hineingepaßt, denn wer hier vorwärts will, muß kräftige Ellenbogen und eine gehörige Portion Egoismus haben.
Ende September wurde Klärchen so krank, daß sie im Bett bleiben mußte. Der Konsul ist in dieser Zeit fast nicht mehr aus der Wohnung gekommen, aber so rührend und fast ergreifend seine Liebe zu dem Kinde war, so abstoßend war sein Benehmen gegen das kleine Töchterchen der Frau Bischoff. Ich verstehe einfach nicht, wie ein Mann in den Jahren des Herrn Konsul, und überhaupt ein erwachsener Mensch, sich dermaßen gehässig gegen ein kleines, dummes, unschuldiges Kind stellen kann. Er haßte das Kind, weil es rotbäckig und fröhlich umhertollte, während Kläre still, wie ein Engelchen mit gebrochenen Flügeln im Bettchen ruhte; er haßte es seiner Gesundheit, seiner kindlichen Fröhlichkeit, und wohl überhaupt seiner Existenz wegen und fuhr es an, wo er es sah, und stieß es beiseite, wie 'n Stück Holz. Frau Bischoff wagte anscheinend nichts zu sagen, aber ich bemerkte oft, wie sie die Zähne zusammenbiß und sich verfärbte. Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben, wo sie den Mann liebte, aber zu der Zeit fürchtete sie ihn und haßte ihn von ganzer Seele, das ist sicher.[157]
Vierzehn Tage dämmerte die arme kleine Kläre noch so hin und dann schlief sie eines Nachts still und sanft hinüber.
Es waren fürchterliche Tage. Die Frau Bischoff wich nicht von der kleinen Leiche, sie schloß sich mit ihr ein, und des Nachts irrte sie durch die Wohnung wie ein Gespenst, so daß mir, die ich doch wahrhaftig nicht zu den ängstlichen Gemütern gehöre, ganz grauselig wurde, so unheimlich war das. Sie war in den Tagen um viele Jahre gealtert und geradezu häßlich geworden, und dabei zeigte es sich doch am deutlichsten, wie sehr sie an dem Kind gehangen hatte. Sie kümmerte sich um nichts mehr, sie saß den ganzen Tag stumm und blaß am Fenster, und starrte auf die Straße und wenn man sie anredete, fuhr sie wie aus tiefem Schlaf empor und starrte einen ganz abwesend an und man mußte seine Frage drei-, viermal wiederholen, ehe sie antwortete. Sie ging auch nicht mehr hinunter in die Wirtschaft, und die Herren, die an sie gewöhnt waren, wurden zuletzt ungeduldig und ungnädig ... Mein Himmel – speisen konnte man schließlich genau so gut bei Ehmke oder, Pfordte oder sonstwo, aber wenn man es doch gewöhnt ist beim Käse und Dessert mit einer angenehmen Frau über Indigo und Russen und Industrie zu plaudern, ihr nebenbei den neuesten Börsenkalauer zu offerieren und mit ihr zu lachen und zu scherzen, dann entbehrt man diese annehmliche und verdauliche Gewohnheit aufs schmerzlichste, und es ist – zumal wenn man das nötige Kleingeld hat, dafür große Preise zu zahlen, geradezu eine – hm – ja gerade heraus gesagt: eine Unverschämtheit von so einer Wirtin, jedenfalls eine Anmaßung ohne gleichen, sich auf Kosten ihrer Gäste den privaten Luxus eines Empfindungslebens zu gestatten und sich demselben hinzugeben. Es dauerte auch gar nicht lange, bis die Herren dieser Ansicht nachdrücklich Worte liehen.[158] Man hatte in punkto Takt und Rücksicht seine Schuldigkeit getan: zahlreiche kostbare Blumenspenden und zwanzig Equipagen hinter dem kleinen Sarg. Und man war nicht intolerant und gönnte der Frau gerne zwei, drei Tage – meinswegen auch acht – um mit sich fertig zu werden und sich zu erholen. Aber im Grunde war doch auch mit einem so armseligen kleinen Kinderleben nicht so furchtbar viel aufgeschüttelt, daß darunter die Laune und die Gewohnheit und Verdauung von so und so vielen börsengewaltigen Persönlichkeiten leiden mußte.
»Ist denn Frau Bischoff immer noch nicht sichtbar?«
»Hat Frau Bischoff sich denn definitiv ins Privatleben zurückgezogen?«
»Haben Sie jetzt dauernd hier Prokura, Fräulein Marie?« »Mich dünkt, Frau Bischoff hätte jetzt lange genug geweint! Sie dürfte sich mal wieder blicken lassen. Wie lange dauert noch die Trauer? Man geht vorläufig anderswo speisen und spricht nach Weihnachten mal wieder vor – –«
»Ich wundere mich – eine so tüchtige Geschäftsfrau wie Frau Bischoff, und so lange vom Posten – –«
Herr Reeder Willer strich seinen langen, schönen, weißen Vollbart: »Ich habe vor vier Jahren meinen einzigen Sohn in Japan verloren. Er verunglückte beim Baden. Es war eine schwere Post: aber sollte ich deshalb zu Hause sitzen und den Kopf hängen lassen? Ich muß doch ins Kontor. Arbeit ist der beste Trost. Die Sentiments soll man Privatleuten überlassen, Rentnern und alten Jungfern. Geschäftsleute haben keine Zeit zu dergleichen.«
»Übrigens ist es doch eine Erleichterung für Frau Bischoff,« sagte Makler Rotmann, »ich weiß es von Doktor Licht – die Kleine war schwer herzleidend und wäre doch[159] nicht alt geworden. Solch ein schwaches Kind ist am besten aufgehoben, wenn es seine Leiden über ist.«
»Sie ist doch sonst nicht so sentimental veranlagt,« sagte Bankier Lüps, »Herrgott nochmal wenn sie an einer kleinen Krabbe in der Kinderstube denn partout nicht genug hat ... Sie ist ja noch jung und braucht die Hoffnung nicht aufzugeben. – Wenn das ihr größtes Leid ist, dem wäre eventuell doch abzuhelfen –«
Da waren die Herren im Fahrwasser, und ein fauler Witz folgte dem andern. Ich aber stand abseits und spürte ein deutliches Kribbeln in den Fingern, diesen »feinen« Herren für ihre unglaublichen Roheiten nach der Reihe, eins, zwei, drei, in die Visage zu schlagen, daß ihnen die Zähne hinter den wohlgepflegten Voll- und Schnurrbärten wackeln müßten. Ich dachte unwillkürlich an die Rede von Dirken Hannemann, daß die Laster und die Roheit und die Brutalität immer nur am üppigsten da gedeihen, wo es den Menschen gut geht, mehr und stärker als in den Regionen der Mühseligen und Beladenen. Recht hatte er, hundertmal recht. Das wohlgespickte Portefeuille in der Jackettasche gab diesen ehrwürdigen, hochangesehenen Herren ein so wunderbares, moralisches Sicherheitsgefühl, daß sie gewiß höchlichst erstaunt gewesen wären, wenn man die Art und Weise, mit der sie ein wehrloses Weib, das ihnen wahrhaftig keine Ursache gegeben hatte, verächtlich von ihr zu denken, in den Schmutz ihrer gemeinen Redensarten zogen, als eine Nichtswürdigkeit bezeichnet hätte – – Denn ich bin groß und du bist klein! – – – Wir haben Geld und du hast keins! Was du doch hast, hast du von uns, durch uns! Wir sind hochgeachtete, ehrenwerte, vornehme Bürger!! Du bist im besten Fall eine höhere Art von dienstbarer Geist.
Wir sind ja so gut zu dir! So gut! So wohlwollend! Wir bringen dir unser Geld. Wenn wir sehr guter Laune[160] sind, schenken wir dir sogar ein Trinkgeld obendrein. Und so taktvoll! Wir essen mit dir ein Zwillingsmandelpaar und bringen dir andern Tags als Angebinde eine Brillantbrosche, oder eine goldene Halskette! Immer nobel! Immer zartfühlend! Immer Kavalier! Trinkgelder im Etui! Und hast nichts anderes dafür zu tun, als darauf zu achten, daß der Rotwein richtig temperiert und der Sekt gut frappiert ist, und wir gut besorgt sind. Und uns freundlich anzublicken, und still zu halten und verständnisvoll zu lächeln, wenn wir dich mit dem Kot unserer hundsgemeinen Börsenzoten bewerfen ...
Daß hinter der glatten, lächelnden Stirn solcher Wirtin Gedanken hausen und in ihrer Brust ein Herz oder gar eine Seele wohnen könnte, ist eine lächerliche, durch keinerlei Beweise begründete Annahme.
Herz und Seele und Gedanken sind doch nur die Vorrechte einer Dame!
Du bist doch keine Dame, liebes Kind! Um Himmels willen, du wirst doch nicht solche größenwahnsinnigen Ideen haben. Schlag dir das aus dem Kopf, liebe Maus!
Unsere Frauen und Töchter sind Damen. Sie haben Seele und Gedanken, und das ist ihr gutes Recht. In manchen Fällen haben sie freilich auch keins von beiden, sondern sind saudumm, daß man Scheunentore mit ihnen einrennen kann, und verstehen nichts, als sich zu putzen und zu amüsieren, und ihre Unterhaltung gleicht eher dem blöden Geschnatter der berühmten Kapitolsretterinnen, als einem verständigen Gespräch, aber dafür sind sie doch Damen; denn sie gehören zu uns, ihre Wiege stand in einem angesehenen Bürgerhaus, ihr Lebensweg liegt so schön glatt und sauber und übersichtlich hinter ihnen, sie brauchten nie um das schmutzige Geld zu arbeiten, – sie – ach das verstehst du ja doch nicht, Schatz. – – Du bist eine liebe, nette[161] Frau, die in die Welt paßt, aber eine Dame, die man beleidigen kann, der man weh tun kann mit plumpen Späßen und anzüglichen Reden – es tut uns leid, aber solche Dame bist du nicht! – Nimm's nicht tragisch, Herzchen, es ist viel lustiger so und viel bequemer, und für dich viel vorteilhafter. Denn wenn du eine Dame wärst, kämen wir nicht zu dir. Daß du dich wie eine Dame kleidest und benimmst, und wie eine gebildete Frau sprichst, das erhöht unser ästhetisches Behagen, aber Gott sei Dank wissen wir doch, daß das alles nur täuschende Imitation ist. Wenn man mit einer Dame spricht, – muß man sich, – natürlich bildlich – in Frack und Handschuhe zwängen, aber in der Unterhaltung mit einer Frau, wie du es bist, wirft man die unbequemen Kleidungsstücke ab, und spricht sozusagen in Hemdärmeln. Und das ist das Angenehme – – – –
Ich bitte den künftigen Leser meiner Memoiren um Verzeihung, wenn ich meine Feder zuweilen versehentlich anstatt in Tinte in Galle tauche. Aber ich kann nicht anders.
Wie ich dabei stand und die Gemeinheiten anhörte, lief alles blau in mir an vor verhaltener Wut.
Frau Bischoff ging mich im Grunde nichts an. Sie war eine gütige und umgängliche Chefeuse, sonst stand sie mir nicht näher. Aber an dem Abend empfand ich die schnodderigen Redensarten der Herren wie Peitschenschläge ins eigene Gesicht.
Wirtin oder Kellnerin – im Grunde dasselbe. Verachtet sind sie beide. Vielleicht war die Bischoff früher selber einmal Kellnerin, aus distinguierten Kreisen pflegen sich keine Wirtinnen zu rekrutieren, aber ist ja auch alles egal. Tatsache ist, daß man sie nicht für voll rechnet. Und wenn man ihnen auch nicht offiziell die bürgerlichen Rechte abspricht, man sieht doch auf sie herab. Die Frauen anderer Berufsklassen rümpfen die[162] Nase über sie, und die Männer behandeln sie wie verkappte Dirnen.
Als ich am Abend heraufkam, erzählte ich Frau Bischoff Wort für Wort, was unten gesprochen war. Nicht aus Schadenfreude, um sie zu kränken, sondern weil ich es für meine Pflicht hielt. Ich hatte sie schon vorher mal erinnert, daß es wohl Zeit sei, wieder mal ein Korsett anzuziehen und sich ein schickes Trauerkleid zu bestellen, und sich unten nur mal sehen lassen, aber sie hatte getan, als ob sie mich nicht verstände. Wie ich ihr das nun erzählte, was die Herren sagten, und daß schon einige Stammgäste ausblieben, nickte sie und sagte: »Sie haben recht, Marie. Ich will mich zusammennehmen und von morgen an wieder auf dem Posten sein. Sie sollen nicht sagen, daß ich das Geschäft zuletzt vernachlässigt hätte. Es ist ohnehin bald vorbei. Am Tage nach Kläres Beerdigung habe ich meinem Agenten Auftrag gegeben, mir einen Nachfolger zu suchen. Und es hat sich glücklicherweise gleich eine passende Persönlichkeit gefunden, nächste Woche kommt er zur Besichtigung. Der Mann hat Vermögen und kann auch gleich antreten.«
»Und der Herr Konsul?« fragte ich.
Da wurde sie dunkelrot und gleich drauf quittegelb. »Der soll wohl mit dem Tausch einverstanden sein – das wäre ja noch schöner! Ich bin doch nicht seine Angestellte hier.« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen und ihre Stimme verquoll in heißen Tönen, und in dem Bestreben, sie zu trösten, sagte ich natürlich das Dümmste, was ich in dem Fall sagen konnte: »Nun, wo Klärchen tot ist, wird ja auch alles besser werden. Nun findet doch der Herr Konsul keine Ursache mehr, sich aufzuregen ...«
»Nein,« sagte sie hart. »Da ist Schluß. Der Herr Konsul reist demnächst mit seiner Frau auf drei Monate[163] an die Riviera. Ehe sie zurückkommen, bin ich längst über alle Berge. Am Morgen nach Kläres Sterbenacht sind wir miteinander fertig geworden. Er warf mir vor, ich sei schuld an dem frühen Tod des Kindes. Es sei mir im Weg gewesen, und ich hätte absichtlich und konsequent dem Kinde eine ganz ungeeignete Pflege zuteil werden lassen. Daß ich auf seinen Wunsch, den Herbst und Winter mit den Kindern im Süden zu leben, nicht reagierte, war so gut wie Mord an der kleinen Kläre. Natürlich. Ich bin so eine Megäre, die es zuwege bringt, ein kleines, unschuldiges Kind absichtlich und kaltblütig abzumurksen – – –«
Wir waren in ihrem Schlafzimmer und sie zog sich aus und warf ein Kleidungsstück nach dem andern mit wütender Vehemenz an die Wand. »Wenn ich nur erst alles hinter mir habe! Erst dies und dann meine Freiheit! Dann bin ich tot und verschollen für alle. Ich werde mir selber mein Mausoleum bauen und die Türe hinter mir zuschlagen und niemand von dem Gesindel kommt mir wieder über die Schwelle, weder Mann noch Frau. Ich will nichts, als daß man mich in Ruhe läßt. Und ich habe überhaupt nur zwei Wünsche mehr: nämlich, daß meinem Kinde einst ein ruhigeres Leben als mir zuteil wird und zum zweiten, daß sich mir nur ein einziges Mal Gelegenheit böte, dieser Gesellschaft die Wahrheit zu geigen und ihnen zu sagen, wie ich sie all' die Zeit gehaßt und verachtet habe ...«
* * *
Am andern Morgen um elf Uhr stand unsere Frau wirklich in einer eleganten schwarzen Toilette vor dem Spiegel und schminkte sich die Tränenspuren und die Runen des Leids aus dem Gesicht, das momentan wieder glatt und weich und jung wie ehedem ausschaute. Und wie sie ein paar Stunden später unten wieder heiter und[164] lächelnd und offensichtlich strahlend gelaunt zwischen den Gästen umherging, fragte ich mich selbst erstaunt, was nun Verstellung war, die Trauer oder die fröhliche Stimmung, die ihre Züge und ihre Augen jetzt wiederstrahlten. Ich wurde ganz irre dadurch, denn es schien mir ganz ausgeschlossen, daß eins von den beiden Gesichtern, sowohl das schmerzdurchwühlte, tränenüberströmte der verflossenen Tage, als das freundliche, lachende, dem die schwarze, etwas ausgeschnittene Krepptoilette ein so hübsches Relief gab, unecht sein konnte.
Es traf sich gerade, daß einer von unseren Stammgästen, der Bankier L., an dem Tage ein großes Geschäft gemacht hatte. Sein Haus hatte Aktien für ein Terrainunternehmen, ich glaube die Gründung eines neuen Nordseebades – aufgelegt und die waren wohl gegen seine geheime Befürchtung – an einem Tage reißend überzeichnet, und deshalb war Herr Lüps so hervorragend guter Laune, daß er an diesem Abend seine Freunde um sich an seinem Tische versammelte und die besten französischen Rotweinsorten, die wir im Keller hatten, auffahren ließ, Bordeaux zu dreißig und vierzig Mark die Flasche –, wie die Hamburger, besonders die älteren, wenn sie sich etwas Gutes antun wollen, selten Sekt trinken, sondern meistens die großen vornehmen Rotfranzosen, die in ihrer stillen Tiefe viel mehr Glut und Feuer haben, als der prickelnde, fahrige Allerweltsfreudenmann Champagner.
Etwas weiter hin auf den Abend kam auch ein reicher Amerikaner, der zu unseren Stammgästen gehörte, mit ein paar anderen Herren, und die tranken im Gegensatz zu den Hamburgern viel Sekt und so geschah es, daß an diesem Abend, statt des ruhig behaglichen Tones, der sonst bei uns herrschte, und der unserem Lokal einen gewissen soliden Privathauscharakter verlieh, sich eine merkwürdig animierte, geräuschvolle Stimmung bemerkbar[165] machte. Unsere Frau war auch ganz verändert. Sonst lehnte sie die Einladung der Herren, mit ihnen zu trinken, immer freundlich aber bestimmt ab, und war darin so konsequent, daß die Herren es schon gar nicht anders wußten; außerdem hatte ihr der Arzt alle alkoholhaltigen Getränke verboten; sie genoß an Flüssigkeit nichts als Tee und Sodawaser, aber an diesem Abend trank sie lustig drauf los, Champagner und Rotwein, und pendelte lachend zwischen den Tischen hin und her und gab ihren Senf zu der Unterhaltung bei.
Und wie immer der Teufel in solchen Sachen seine Hand im Spiele hat, muß gerade an dem Abend der Konsul kommen. Der ging nur durch das Lokal, warf einen flüchtigen Blick über die Anwesenden und sah unsere Frau an, und seine Stirn war wie transparent, daß man die Gedanken dahinter ablas, die das leichte verächtliche Zucken unter dem blonden Schnurrbart illustrierte: »Na ja, da sieht man's, was du für eine bist! ... Das ist deine Trauer, so ernst ist die gemeint –« Und dann ist er, ohne erst Platz zu nehmen, wieder hinaus. Und wie er weg ist, tritt unsere Frau gerade ans Büfett und nimmt eine Bordeauxflasche, die die Büfettiere ihr hinüberreicht, um mit einer Serviette den Staub abzuwischen, und ich stand daneben, die Flasche in Empfang zu nehmen, und in dem Moment begegneten unsere Blicke einander. Da sah ich in ihrem plötzlich ganz verzerrtem Gesicht und in ihren heißen unruhigen Augen dasselbe, was ich so oft empfunden habe, als ein ganz instinktives Gefühl ohne unmittelbare Veranlassung, aber dessen Wurzeln tief hinein in die innerste Seele ranken, und von dem es dann und wann wie ein krasser, rascher Trieb emporschießt: der Haß auf die Reichen, die bis zum Vernichtungsdrang gesteigerte Wut auf diese Geldmenschen, für die der Arme nichts ist, als ein Popanz, eine Sache, über die man beliebig verfügt.[166]
Frau Bischoff war als Inhaberin der Weinstube meine Herrin, aber in dem Augenblick fühlte ich mich wie am verflossenen Abend eins mit ihr: wir gehören beide zu der Gilde der Ausgestoßenen, Verachteten, und auch ihre Züge waren durchsichtig. In den finsteren Augen und den hart herabgezogenen Mundwinkeln stand ein böser Gedanke, während sie mir die Flasche aufs Tablett stellte: Möchte sie der Schlag daran rühren – – diese Bande! Einer bei dem andern.
Weit nach Mitternacht blieb man sitzen. Dann endlich wurde ein Tisch nach dem andern leer. Frau Bischoff schüttelte jedem einzelnen, der sich von ihr verabschiedete, freundschaftlich die dargebotene Hand und behauptete, daß sie sich unendlich gefreut habe, und die Herren versicherten ihrerseits, daß sie seit langem keinen so gemütlichen Abend verlebt hätten, und meinten, Frau Bischoff könne doch stolz darauf sein, daß man sie so sehr entbehrt hätte, die letzten Wochen. Es sei gar nicht mehr behaglich gewesen – – sie sei allein die Seele der Wirtschaft. Und der Kornhändler Praesch aus der Katharinenstraße fügte lächelnd hinzu, er käme Dienstag wieder, und sie möchte bis dahin ihren Wunschzettel für Weihnachten perfekt haben, er fahre nämlich am Mittwoch zum Einkaufen nach Berlin. Der Herr Reeder Willers erbat sich dasselbe, er machte die Einkaufsfahrt mit. Das war so Usance und eine kleine vergnügliche Ausspannung für die Hamburger Herren, dieser Weihnachtsausflug nach Berlin, um für das Frauchen und die lieben Kinder einzukaufen, eine so allerliebste Zerstreuung und ein so idealer Vorwand für den löblichen Zweck, sich die Berliner Nachtluft wieder einmal um die Ohren zu schlagen.
»Also gute Nacht – –« »Gute Nacht meine Herren.«
– »Auf Wiedersehen, schöne Frau.« – »Auf Wiedersehen Herr Willers – – –«[167]
Als die Tür hinter dem letzten Gast zuschnappte, murmelte unsere Frau etwas, das nicht nach einem Segenswunsch klang, und dann setzte sie sich auf eins der Sofas und sah zu, wie wir aufräumten, während der Groom die Gashähne ausdrehte, so daß bald eine leichte Dämmerung in dem noch von dem Duft der feinen Importzigarren und des Weines erfüllten Raum herrschte.
Zwanzig Minuten später waren wir beide allein im Lokal und ich fragte meine Chefeuse, ob sie denn nicht hinaufgehen wollte. Sie sagte: Ich bin so todmüde, daß ich keinen Fuß um den andern setzen mag und am liebsten die Nacht hier so sitzen bliebe. Mich graut, die drei Treppen hinaufzusteigen.
Ich sagte nichts, aber wie sie mich ansah, mag es ihr zum Bewußtsein gekommen sein, daß ich vorhin ihre Gedanken erraten hatte und sie begann mit verschränkten Armen, zurückgelehnt, den Kopf an die rote Plüschrückwand gedrückt, sich wie öfters vor mir etwas auszukramen.
»Ja, ja, Marie,« sagte sie, »das mag Ihnen wohl wunderlich vorkommen, daß ich in Wirklichkeit gar wenig freundschaftliche Gefühle und Sympathien für unsere Gäste hege. Aber ich kann nicht anders. Ob Sie das verstehn, weiß ich nicht, aber wenn Sie es heute noch nicht begreifen, wird vielleicht doch einmal eine Zeit kommen, wo Sie es ganz gut verstehen –«
»Ich verstehe es schon heute,« sagte ich.
»Die meisten Leute würden mich eine schlechte und undankbare Person nennen,« fuhr sie fort, »und so obenhin hätten sie ja nicht unrecht. Die Herren behandeln mich ja sehr freundlich und sind sehr zuvorkommend und aufmerksam zu mir. Aber ich sage Ihnen, ich will mich lieber kurz und rücksichtslos und unhöflich, ja meinetwegen grob behandelt sehen, als dieses fortwährende – vielleicht unabsichtliche – aber doch sehr merkbare[168] Betonen meiner gesellschaftlichen Minderwertigkeit. – Diese Leute rechnen einen alle nicht für voll und das empört mich. Was in aller Welt habe ich jemals einem von diesen für Ursache gegeben, mir auch nur ein Atom der Achtung zu verweigern, die sie den ihnen gesellschaftlich gleichgestellten Damen zu schulden glauben –?
Kann mir jemand nachsagen, daß ich mich wie eine leichtfertige Person betragen hätte, oder daß jemals ein zweifelhaftes oder gemeines Wort aus meinem Munde gekommen wäre? Oder habe ich einen Menschen um einen Pfennig übervorteilt oder mir sonst eine unehrenhafte Handlung zuschulden kommen lassen? Niemals.
Wenn ich mit meinen Gästen irgendwo an dritten Orten, im Zoologischen Garten, oder im Theaterfoyer oder im Sommer auf einem Elbe- oder Alsterdampfer zusammentreffe und sie sind in Gesellschaft ihrer Damen, dann sind sie meistens so freundlich mich ihren Damen vorzustellen, wohlgemerkt – mich. Wenn ich eine Dame der Gesellschaft wäre, würde es nicht mehr als in der Ordnung sein, daß sie mir, der Fremden – ihre Angehörigen vorstellen. Aber natürlich – – Eine, die so viele Stufen niedriger auf der sozialen Sprossenleiter rangiert –!
Und wenn sie mich hier so leger und intim betiteln – ›Frau Kläre‹, ›Teuerste Freundin!‹, ›Schöne Frau‹, anstatt mich schlichtweg bei meinem Namen zu nennen, möchte ich ihnen jedesmal eine Ohrfeige geben. Bin ich nicht dasselbe wie sie? Wieso bin ich ihre ›teure Freundin‹ und ihre ›schöne Frau?‹ – Hm? Mein Verhältnis zu ihnen ist dasselbe und kein anderes als das jedes Verkäufers und Abnehmers. Sie arbeiten ja auch für Geld in ihren Kontoren und Lagerräumen! – –
Ja, aber sie verdienen Hunderte und Tausende, wo mein Verdienst nach Einern und Zehnern rechnet.[169] Das ist schon ein verdammter Unterschied. Und dann bin ich eine Frau!! – – Eine Frau, die Geld verdient, ist eigentlich an sich schon ein minderwertiges Wesen – Sie verliert von ihrem ›Schmelz und Duft‹ dadurch. Den holden Zauber echter Weiblichkeit kann nur eine gänzlich von dem Schmutz des Alltags und Erwerbslebens unberührte Frau besitzen. So wie denen ihre Weiber, die keinen Finger in kalt Wasser zu tunken brauchen, und die sich so wohlfeil für die Kunst und alles Schöne und Edle begeistern können!! Nun gar eine Wirtin – da kann doch nichts Rechtes hinter stecken. Eine anständige Frau übernimmt doch kein öffentliches Lokal auf eigene Rechnung.
Daß eine alleinstehende Frau, die für ihre Familie zu sorgen hat, eben nehmen muß, was sich ihr bietet und ihr eine Existenz garantiert, daran denken sie natürlich nicht, diese Völker!«
Sie klopfte mit der Fußspitze nervös auf den Teppich und ich nickte, obwohl mir gerade diese Kleinigkeiten, die sie anführte, nicht so sehr wesentlich schienen. Andrerseits verstand ich, daß gerade diese Bagatellen sie verletzten, denn sie war bei aller Güte, wie schon erwähnt, ein sehr hochmütiges Weib. Was sie sagte, war doch im großen ganzen dasselbe, was ich abends zuvor selbst bei mir gedacht hatte. »Wenn ich ein Mann wäre und mich am politischen Leben beteiligte, würde ich Anarchist sein,« sprach sie weiter, »die Sozialdemokratie wäre mir viel zu laff. Was sind diese Arbeiter für furchtbar bescheidene Menschen! Daß sie wie jedes andere Geschöpf aus Fleisch, Geist und Blut und Knochen zusammengesetzt, ein volles Leben verlangen können, Freiheit des Auslebens in unbeschränktem Maße, das fällt ihnen gar nicht ein. Sie verlangen nur ein bißchen von allem: ein wenig mehr Lohn, ein bißchen mehr Freiheit, sie kommen mir in ihrer Gesamtheit vor wie ein Elefant,[170] der in seiner tappigen Einfalt es sich selber nicht bewußt ist, wie ein Fußtritt von ihm den Ameisenhaufen nebenan zermalmen könnte. Aber das haben schon klügere Leute vor uns erkannt und erörtert, und haben gelehrte Bücher darüber geschrieben und große Reden gehalten, und deshalb ist unsere Philosophie über die große soziale Wahrheit überflüssig, Marie, und wir wollen nun doch schlafen gehen.«
* * *
Zwischen Weihnachten und Neujahr wurde der Verkauf perfekt und gleich nach Neujahr übernahm der neue Wirt das Lokal. Von den Gästen, denen Frau Bischoff ihren Nachfolger vorstellte, wurde der Mann ziemlich reserviert begrüßt.
»Es war ein faux pas für dieses Lokal einen Wirt zu wählen. Hier hinein gehört eine Frau,« sagten die Herren übelgelaunt, »eine nette verständige Frau, nicht allzu jung und nicht zu alt, eine schicke angenehme Frau, mit der man ein vernünftiges Wort reden kann.«
Die Frau des Wirtes kam denn auch bald zum Vorschein, eine dicke, behäbige Person, ein ganz ungebildetes, ordinäres Weib, mit der sich niemand von den Gästen in eine Unterhaltung einließ.
Frau Bischoff reiste einige Tage später in grauer Morgenfrühe mit ihrer kleinen Tochter und deren Kinderfrau ab. Sie hatte sich von niemand verabschiedet und sich auch meine Begleitung zur Bahn verbeten.
Sie war sehr traurig und sagte, daß sie nie mehr nach Hamburg zurückkehren werde, es sei denn auf höchstens einen halben Tag, um Kläres Grab aufzusuchen. Sie konnte kaum sprechen, als sie mir an der Droschke Adieu sagte.
Ich habe sie nie wiedergesehen. Ein paar Karten habe ich noch von Thüringen aus von ihr. Was später[171] aus ihr geworden ist, und wo sie geblieben ist, weiß ich nicht.
In unserem Geschäft aber ging nach ihrer Abreise allmählich eine große Veränderung vor.
Unseren alten Stammgästen behagte es nicht mehr ...
Einer prägte einmal ein richtiges Wort: »Berliner Weißbierstubenatmosphäre –« Es zeigte sich, daß der brillante Gang des Geschäfts doch viel an Frau Bischoffs Persönlichkeit gehangen hatte. Einer nach dem andern von den alten Stammgästen blieb fort. Dafür kamen andere Gäste, mehr kleinbürgerliche Bierphilister .... Herr Trinius, der neue Wirt, begann neben dem Wein auch echte Biere auszuschenken. Die Speisekarte, auf der statt Delikatessen und feinen französischen Gerichten nunmehr Schnitzel und Kasseler dominierten, zeigte immer mehr den Typ einer gewöhnlichen Bierhauskarte. Damit änderte sich auch unsere Stellung. Ich hatte früher immer darüber gelacht, aber jetzt fing ich an einzusehen, daß zwischen der »Junge-Mädchen-Bedienung«, die Frau Bischoff immer betonte, und der Kellnerinnenwirtschaft doch ein verflixter Unterschied ist.
Die Herren, die früher zu uns kamen, hatten doch immer die »jungen Mädchen« in uns respektiert und sich keine Freiheiten, geschweige denn Frechheiten gegen uns herausgenommen. Die hatten immer nur nach Frau Bischoff gerufen und uns ziemlich wie Luft behandelt, aber die Leute, die uns jetzt besuchten, behandelten uns wie richtige Kellnerinnen. Eine Kollegin von mir, eine holsteinische Lehrerstochter, die direkt aus dem Elternhaus zu Frau Bischoff gekommen war, ließ es sich nicht so gefallen, und als eines Abends trotz ihres Protestes einer der Gäste allzu handgreiflich gegen sie wurde, machte sie es ebenso und gab dem Frechling eine kräftige Backpfeife. Darob natürlich großer Skandal und die nächste Folge, daß Herr Trinius uns kündigte. Er wolle[172] überhaupt die Weiberwirtschaft abschaffen und reelle Kellner dafür anstellen. Wir waren nicht allzu geknickt über die Entlassung; bei den neuen Wirtsleuten hatten wir es nicht so gut wie früher. Zumal der Trinius, der sich nach den Auskünften, die er erhalten, enttäuscht sah, und sich von Frau Bischoff hineingelegt glaubte, immer verdrießlich war, seine Frau uns den ganzen Tag schikanierte und schimpfte, auch das Essen ziemlich mies wurde, und sich, wie gesagt, die ganzen Verhältnisse verschoben hatten.
Am 1. März machte ich wieder nach Berlin.
* * *
Ich hatte ja nun Geld und konnte der Zukunft ruhig entgegensehen. Zunächst versuchte ich es nochmal, mir ein Büfett zu pachten. Aber ich hatte wieder kein Glück damit. Die Wirte wollen zu viel verdienen. Die Tonne Bier, die sie für zwanzig Mark aus der Brauerei beziehen, muß man mit fünfundfünfzig bis sechzig Mark von ihnen kaufen. Bei raschem und vorsichtigem Ausschank bringt man siebzig bis achtzig Mark wieder heraus. Ist der Konsum groß, so lohnt es sich, aber in dem Lokal, wo ich war, lohnte es sich nicht. Ich zog es deshalb vor, wieder in Stellung zu gehen, und zwar nahm ich von nun an Stellungen als Büfettiere an. Da ich nun nicht mehr so ängstlich darauf zu sehen brauchte, verschlug und verschlägt es mir nicht, meine Stellen, wenn mir irgend etwas nicht paßt, rasch zu wechseln. Ich hatte deshalb in den letzten Jahren viele verschiedene Engagements. – – –
* * *
Ach was! Brauche ich immer noch von Vergangenem zu quasseln. Wo man täglich so viel erlebt. Die Hauptsachen habe ich ja jetzt erzählt. Ich dachte mir früher[173] immer so, was die Leute, die Romane schreiben, doch für furchtbar gescheite Menschen sein müssen. Aber ich glaube wirklich, es ist gar nicht so viel Kunst dabei. Wenn man die Augen nur offen hält, sieht man täglich dasselbe, was in den Romanen vorkommt.
Vor einigen Tagen – ich glaube, es war am Montag – bekam ich eine Rohrpostkarte von Paula. »Liebe Tante Mieze! Wenn Du Zeit hast, tritt doch mal gelegentlich bei mir vor. Oder schreibe mir, wenn Du frei bist. Vielleicht daß ich Dich dann mal bei Dir zu Hause besuchen kann. Ich möchte Dich so gern mal sehen und mit Dir sprechen. Deine Paula.«
Ich beguckte mir die Karte und dachte bei mir: »Nanu?!! Wo dran denn mit einmal die Sehnsucht? Ich will mich hängen lassen, wenn da nicht wieder was dahinter steckt ...« Und hab gar nicht recht Ruh gehabt, weil das Kind mir tatsächlich am Herzen liegt, und am Nachmittag nahm ich mir zwei Stunden frei und ging hin.
Wie sie mir da entgegentrat, bin ich zuerst sprachlos vor Schreck gewesen, so sah die aus. Kreideweiß und so – ich weiß nicht wie – ganz aus den Kleidern gefallen.
»Herrgott!! Paula! Kindlein! Was ist nur mit dir los,« sag ich endlich, »biste krank, oder haste irgend 'n Generalkummer –«
Na, es war zum Glück gerade ziemlich still in der Wirtschaft, da der Mittagsrummel vorüber und das Abendgeschäft noch nicht eingesetzt hatte, nur ein paar Spießbürger saßen hinter ihren Steinkrügen und lasen die Zeitung. Da zog mich die Paula in eine Ecke, wo wir ungestört sprechen konnten.
»Nee – krank bin ich nicht. Aber unglücklich, Tante Mieze. Ich halt's nicht länger aus. Ich muß in'n anderes Milieu. Ich gehe über kurz hier zugrunde.«[174]
»Nun?« sag ich. »Auf einmal? Du hattest dich doch schon ganz nett zurechtgefunden. Und nu mit 'n mal wieder 'ne Reaktion? Was ist dir denn wieder über den Weg gelaufen?«
»Nichts, nichts ...« sagte sie hastig und drehte die kleinen, süßen, weißen Hände nervös in- und durcheinander, und beginnt hastig und stoßweise ihr Leid zu klagen. Sie sei abends oder vielmehr nachts wie geschunden. Das halte kein Pferd dauernd aus. Wer das aus dem Publikum so wüßte. Da geht's los! »Paula, ein Beefsteak mit Spinat und ein Helles! ...« »Ein Beefsteak ohne Spinat ... ein kleines Münchener ...« »Einmal Kasseler ...« »Ich auch.« »Ein Pilsener – – aber 'n bißchen dalli, wenn ich bitten darf ...«
»Ein Beefsteak mit ... eins ohne ... zwei Kasseler, ein Helles, ein kleines Münchener, ein Pils ...«
»Ich ein Helles ...« »Also zwei Helle, ein kleines Münchner –«
»Aber ja! ... Bitte, 'n bißchen schleunig, Fräulein – –«
»Paula – lieber Engel, ich warte schon eine Stunde –«
»Bitte schön, was denn –«
»Nein, bitte sehr, erst hier bedienen, wir waren früher da! Herrgott ... ist das eine Bedienung – rasch, Fräulein!« »Bitte schön, was denn –« »Hier – nein – warten Sie mal.«
»Also Fräulein, mir inzwischen ein Ente mit Rotkraut und vor allem ein Pils ...« »Und mir eine – hm –« »Bitt schön, ich komme gleich zurück. Nur rasch die Bestellung am Büfett machen.« »Aber nein doch – so bleiben Sie doch – Sie – nein sowas! Wo ist denn der Wirt? Eine volle Stunde sitzt man hier und wartet, und jetzt läuft sie wieder fort –« »Fräulein!!«[175] »Himmelsakrament! – Na endlich –« »Bitt schön. Also was darf ich notieren?« »Ein – ein – ja was war's doch –« »Hier Fräulein! Eine Hammelkeule und ein Dunkles –« »Bitt schön –« »Und mir – na – da geben Sie schon mal – –« »Bitte Paula – zweimal Schnitzel mit Schoten und zwei Helle –« »Ein Hammel – ein Dunkles, zwei Schnitzel – zwei Helle –« »Bitt schön – haben der Herr gewählt –« »Ein – – – Ach! Hat der Mensch Worte! Rennt das Frauenzimmer wieder weg! Unverschämtheit ... Jetzt geh ich aber – da hört einfach alles auf! Anderthalb geschlagene Stunden schrei ich mir, nun die Lunge aus dem Hals –« »Also bitte –« »Na meinetwegen denn, Eisbein mit Kraut – –« »Na – und so drei bis vier Stunden, daß einem der Kopf schwirrt und die Beine fliegen, und man nicht mehr weiß, ist man noch 'n Mensch oder sonst was – – Du weißt es ja auch, dir brauche ich es ja nicht erst zu sagen.«
»Ja, gewiß, es ist ein furchtbar anstrengendes und aufreibendes Geschäft, kleine Paula,« sagte ich, »und wenn mancher solcher Ochse wüßte, wie's einem ist, würde er sich doch ein bißchen menagieren. Aber was will man?! Ruhig Blut behalten, ist die erste Bedingung bei unserm Beruf. Die Gäste mögen nervös werden, wir haben eben nicht das Recht Nerven zu haben! – nichts zu machen! Ich meine auch, für dich wäre es viel besser, du nähmst ein Büfett in einem kleinen Café ohne Nachtkonzession – oder noch besser in einer guten Konditorei. Du brauchst dich nicht so zu schinden. Für was? Doch viel lieber die paar Mark weniger im Monat – als sich so zu placken. Wollt's dir schon lang mal sagen. Soll ich mich mal unter der Hand umtun nach solcher Stelle für dich? ... Dann mußt du an deinen Freitagen auch mehr an die Luft gehen. Du siehst ja miserabel aus ...«[176]
»Ich hab seit drei Wochen an meinen Freitagen immer Vertretung genommen –«
»So! Warum denn?«
Sie sagte erst gar nichts. Bog das Köpfchen ein wenig seitwärts und legte die linke Hand auf die Augen. Ich dachte bei mir: »Na warte nur, du denkst, ich soll dir entgegenkommen, aber ich kann mich halten. Komm du zu mir, mein Kindchen.«
»Um die Arbeit allein ist's mir nicht leid,« fuhr mein niedlicher Schützling mit einem tiefen Aufseufzen auf. »Ach nein, daran gewöhnt man sich mit der Zeit, wenn's einem auch oftmals sauer fällt. Die erste Zeit ist doch die schlimmste. Da bin ich oft auf dem Bettrand sitzend, halb ausgekleidet hingefallen, eingeschlafen und erst gegen Morgen frierend aufgewacht. Und jetzt ist's manchmal nicht viel anders, nur daß man sich daran gewöhnt, und sich zusammennimmt und nicht zögert beim Auskleiden. – Ja, siehst du, das alles will ich gern mit in den Kauf nehmen, aber nur das ist ein so schreckliches, deprimierendes Gefühl, daß der Stand, dem man angehört, doch ein so verachteter ist. Da plagt und quält man sich den ganzen Tag, bemüht sich jeder billigen Aufforderung des Wirts und der Gäste zu genügen, ringt mit manchmal fast übermenschlicher Kraft die eigene körperliche Erschöpfung nieder, um den Leuten ein freundliches, frohes Gesicht zu zeigen, tut in jeder Weise seine Pflicht, läßt sich nach keiner Seite hin etwas Anstößiges zuschulden kommen und bleibt doch dabei die verachtete, in jedem besseren Kreis ›unmögliche‹ Kellnerin ... Das war die grausamste Prüfungsstation auf meinem Weg bis jetzt: wenn Bekannte hierher kamen. Diese höhnischen Blicke, das verletzende Übersehen und Nichtbeachten – o Gott, das ist ja gar nicht zu beschreiben, was ich darunter gelitten habe. – Einmal kam eine Freundin von Mama, eine Oberpostsekretärswitwe[177] hierher mit einem großen Lamento. Sie meinte, Mama würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie diese Schande erführe – – Und sie ließ es deutlich durchblicken, daß das mütterliche Blut doch wohl bestimmend auf mein Schicksal einwirke, trotz der guten Erziehung, die ich bei Mama genossen – –«
»Und das nahmst du so ruhig hin?« fragte ich.
Sie zuckte ein bißchen verlegen die Achseln. »Natürlich ist das Unsinn. Aber fang mal mit den Philistern an! Ich habe ihr meine Meinung gesagt. Wer von den guten Freunden und Bekannten hat mir eine Existenz verschafft, als ich sie suchte? Ach – überhaupt, was frag 'ich nach denen? Aber leugnen läßt sich's doch nicht, Mieze, – wenn's auch noch so ungerecht ist, aber es ist doch so, daß die Kellnerin ein Wesen ist, das jedermann geringschätzend behandeln zu dürfen glaubt. Wenn meine Mutter alles andere gewesen wäre –«
Da fiel ich ihr aber ins Wort, denn ich konnte und wollte es nicht hören, daß dieses einfältige Kind in seiner Dummheit – wenn auch unabsichtlich und nicht aus Bösem – seine tote Mutter herabsetzt. Und da habe ich ihr alles gesagt, was ich dachte, nämlich, daß ihre Pflegemutter oder »Mama«, wie sie sie nennt, gewiß eine gute Frau war, und viel an ihr getan hat, aber daß das doch nicht im entferntesten an die großen furchtbaren Opfer heranreicht, die die richtige Mutter ihrem Kinde brachte. Ich hab ihr das alles er zählt, wie ich ihre Mutter kennen lernte und wie ihr ganzes Sinnen und Trachten, Sehnen und Wünschen, Streben und Arbeiten nur einen Gegenstand und ein Ziel kannte, nämlich das Glück und den Frieden ihres Kindes.
Die Paula nickte nur zu allem, es machte ja gewiß Eindruck auf sie, aber ich merkte doch, daß sie nicht ganz bei der Sache war. Währenddem kamen zwei Kolleginnen von Paula, die Resi und die Lore hinzu, und als[178] sie hörten, wovon wir sprachen, stimmten sie Paula zu, und beklagten sich, daß in Norddeutschland, zumal in Berlin die Kellnerinnen so gar gering geachtet wären. Es sei ein geradezu verfehmter Stand. Das wollte ich nicht gelten lassen, und um den Mädeln eine andere und bessere Meinung beizubringen, suchte ich in meinem Gedächtnis nach dem, was ich von Frau Bischoff früher über diese Sachen gehört hatte. Ich sagte ihnen, daß der Beruf im eigentlichen Sinne ein anmutiger, echt weiblicher Beruf sei, viel weiblicher und angemessener als sämtliche anderen modernen Frauenberufe. Denn ist es nicht eine seit Jahrhunderten fixierte Tatsache, daß es die Aufgabe der Frau ist, Behagen und Frohsinn um sich zu verbreiten, den Gästen zu dienen und sich ihr Wohlbefinden angelegen sein lassen?! Rechnet in jeder guten Bürgerfamilie die Tochter des Hauses es sich nicht zur Freude, dem Gast eigenhändig die Erfrischung zu kredenzen? Gewiß, der Beruf an sich ist schön und liebenswürdig; es ist nur die Gemeinheit der Menschen und der Männer insbesondere, die ihn verunglimpfen durch den Schmutz ihrer eigenen niederen Gesinnung, und die nicht daran denken, daß sie sich selber verächtlich machen, indem sie die Kellnerin als verächtliche oder doch minderwertige Geschöpfe behandeln und beschimpfen. Sonst wird doch jeder Mann und jede Frau sich von einem freundlichen, anmutigen Mädchen lieber bedienen lassen, als von einem befrackten oder bekittelten Garçon, und in das Gasthaus der Zukunft, das Gasthaus der Reform, gehört unter allen Umständen die Kellnerin und nicht der Kellner.
Die drei Mädel in ihren kleidsamen oberbayerischen Gebirgstrachten hatten sich um mich herumgruppiert, die Resi saß auf der Tischkante und die Paula mir gegenüber auf dem Stuhl und Lore lehnte an der Wand, und sie nickten alle drei, und die Lore meinte, die Männer schimpfen darüber, daß die Weiber sich emanzipieren und[179] sie allmählich aus allen Berufsarten, die ihnen – den Männern – früher allein gehörten, hinausdrängen. Die Frau gehört ins Haus, sagen sie. Wenn aber die Frau wirklich ihre Tätigkeit innerhalb des ihr auch von jenen strengen Richtern abgezirkelten Kreises hält und einen Beruf ergreift, der ihr als Frau »liegt«, dann schimpfen sie auch und verekeln ihr den Beruf durch Verachtung.
»Wenn sie noch wenigstens Unterschiede machten,« sagte Resi, »die Kellnerinnen in den Bordellwirtschaften mit den roten Laternen verdienen ja auch schließlich eine schnippische Beurteilung, aber uns anständigen Kellnerinnen in honetten Lokalen müßte man doch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber die Leute generalisieren gleich. Weil sich eine gewisse Sorte von ›Kellnerinnen‹ dirnenhaft aufführt, deshalb verallgemeinert man sofort und betrachtet sämtliche Kellnerinnen als Pack.«
Daran hatte sie sehr recht, wie überhaupt diese Lore und Resi zwei sehr intelligente Mädchen sind, mit denen ich mich noch gern eine Weile unterhalten hätte. Sie wurden aber gleich darauf durch Kundschaft in Anspruch genommen und nun machte ich mich geradeswegs an meine kleine Paula, denn ich hatte nicht mehr lange Zeit für Introduktionen ... »Na, nun man heraus mit der Sprache,« sagte ich. »Wann hast du ihn kennen gelernt, und was bietet er dir für Aussichten und was ist es überhaupt für'n Schafskopf, daß er dir deinen mühsam erkämpften Frieden wieder zusammenreißt und dich unzufrieden und unglücklich macht?«
Da wird sie rot und kriegt Tränen in die Augen.
»Ach, liebe, süße einzige Tante Mieze! Ich bin so schlecht! Ich glaube wirklich, ich bin eine ganz charakterlose Person, ganz gesinnungslos –«
»Na ja, so fängt es immer an. MoraIlscher Schüttelfrost und allerlei holde Delirien ...«[180]
»Nein, nein, es ist wirklich nicht hübsch. Ich komme mir so – so klein vor ...«
»Hm ...«
»Ja,« sagte sie, »damals glaubte ich, ich müßte sterben und könnte niemals mehr glücklich werden –«
»Von wegen dem gebrochenen Herzen, nicht wahr? Ja. Kind, das ist eine ganz veraltete Krankheit, die mal vor hundert Jahren zu des alten Herrn Goethe Zeiten grassierte, wie der seinen jungen Werther, was übrigens 'n recht sentimentaler Grasaffe gewesen sein muß, schrieb. Heute stirbt daran kein Mensch mehr, man hat jetzt die Mittel dagegen entdeckt: Gift mit Gift vertreiben. Eine Liebe ist der anderen wert, meine Kleine. So hab' ich's auch immer gemacht, wenn mein Herz mal wieder 'n Knacks weg hatte. Nach dem Blonden den Schwarzen, und nach dem Schwarzen den Roten, das ist das beste Pflaster um den Sprung luftdicht zu verkleistern ...«
»Ach, du bist immer spaßhaft, Miezel,« sagte sie, »aber mir ist nicht lustig zumute. Ich war damals wirklich am Verzweifeln. Und noch die ganze Zeit. Aber wenn ich es so bedenke: auch der Schmerz ist etwas Heiliges und in dem Bewußtsein zu leiden, unglücklich zu sein, liegt ein gewisses wehmütiges stolzes Glück, das ich nicht hätte missen mögen. Und jetzt schäme ich mich innerlich, daß es fort ist – daß ich nicht mehr leide – daß ich im Gegenteil wieder hoffe und an einen anderen denke und ihn lieb habe – es ist eigentlich so falsch – so haltlos –«
»Larifari –« sagte ich ärgerlich, »freu dich doch. Der König ist tot, es lebe der König –! Es ist doch einfach selbstverständlich und Natursache –«
»Nein,« sagte sie, »das ist es nicht. Ich habe viele Bücher gelesen, und in allen war von einer großen, heiligen Liebe, die durch das Leben wie ein roter Faden geht, die Rede, und wenn die nicht zum Ziel kommt, nachher[181] ist's aus und vorbei damit. Wenn ich denke, daß eins dieser Helden oder Heldinnen, deren Schicksale ich miterlebte, nach ein paar Monaten quittierte und von einer neuen Liebe erfüllt gewesen wäre – wie hätte ich das Buch an die Wand gepfeffert, und mich voll Abscheu und Widerwillen von solcher Gesinnungslosigkeit abgewendet –«
»Ja, das ist eben das Unglück, daß so viele solcher unwahren Bücher in die Welt gesetzt werden,« sagte ich, »da schreiben die Leute drauf los, ohne Sinn und Verstand, und denken nicht daran, daß sie mit ihren saccharinsüßen literarischen Wassersuppen jungen Leuten, die, weil sie keine Erfahrung haben, – also auch kein selbständiges Urteil besitzen, – gründlich den intellektuellen Magen versauen, so daß sie moralische Leibschmerzen bekommen und nachher die gute nahrhafte Kraft des realen Lebens nicht mehr vertragen. Das ist ja alles Sums, Paulchen. Die Liebe ist gewiß was Großes und Heiliges, aber soviel ich mit meinem kurzen Verstand beurteilen kann, ist sie um so größer und heiliger, je elastischer und anpassungsvermögender sie sich gibt. Die Liebe ist kein absolut abstrakter Begriff, wenigstens nicht die Liebe zum Mann, sie ist etwas körperliches, ich möchte sagen, so was wie der sechste Sinn. Na und ebenso wenig wie ich dauernd den Geschmack verliere, weil ich mir mal den Mund an einer heißen Suppe verbrühte, ebenso wenig vergeht die Fähigkeit zu lieben, weil ich mir einmal bei solcher Liebe die Finger verbrannte. Das wär ja noch mal schöner, sich mit einer Liebe gleich zu verausgaben, da müßt' man höllisch gefühlsarm sein. Und wer an einer Liebe zugrunde geht, der hat eben 'n Gehirnknacks, oder das arme Herzkämmerchen ist so eng und so baufällig, daß eben nichts mehr hineingeht und es gleich zusammenfällt, weil 'n neuer Mieter aus Gesundheitsrücksichten nicht einziehen mag und kann.«[182]
»So,« sagte Paula, »und was verstehst du unter Treue?« »Ja,« sag ich, »das ist eine zweite Sache. Solange man liebt, ist man auch treu. Aber immer nur dem, den man liebt. Liebe und Treue sind wie die siamesischen Zwillinge. Von einander getrennt sind sie beide tot.«
»Du hast furchtbar materialistische Anschauungen,« sagte Paula gedrückt. »Ich träumte immer von einer Liebe, die nicht nur über den Tod, sondern auch über die Untreue des anderen hinweglebt ...«
»Als gesunder Mensch soll man überhaupt nicht träumen, sondern leben, wach sein, mein Kind! Und solange man jung ist – und die Jugend dauert sehr lange! – soll man sich freuen und fröhlich drauflos lieben, und ob das Fazit schließlich die Heirat oder eine bessere Erkenntnis ist, das ist eine gänzliche und schnuppige Nebensache. Die Hauptsache ist, daß der Betreffende ein anständiger Kerl ist, der dich zu schätzen weiß. Gerade weil du so tapfer und unerschrocken zugegriffen hast, und nicht so 'n Rindvieh, wie dein Verflossener, für dessen Verlust du dem Schicksal meiner Ansicht nach nicht dankbar genug sein kannst. Also wer ist der Jetzige? –«
Da erzählte sie mir die Geschichte.
Arzt ist er und an der Unfallstation angestellt. Seit ein paar Monaten kommt er in die Wirtschaft. So haben sie sich kennen gelernt, – da er sich natürlich immer in Paulas Revier setzt, und beim Bedienen lernt man ja schließlich jeden Menschen kennen, der sich nicht ganz als bis obenhin zugeknöpfter Stockfisch erkennbar macht. Und daß sich ein Mensch von sechs- oder siebenundzwanzig Jahren bei dieser Gelegenheit in meine Paula verliebt – oder richtiger ausgedrückt, verlieben muß – ist so folgerichtig, daß ich es beinahe als Naturnotwendigkeit bezeichnen möchte. Sie ist zu lieb. – Er sieht auch gut aus – sie trägt seine Photographie unterm[183] Brustlatz, Gott ja, Schnurrbart, nette Augen, welliges Haar – was sagt einem so 'n Zifferblatt denn Großes, und die Schilderung eines verliebten Mädchens ist wie ein Gedicht, da reimt sich alles, und es funkelt und klingt nur so von Sonne und Wonne. Auf beides ist nicht viel zu geben.
Nun aber scheint dieser junge Mensch – Doktor Walter Rothahn –, also dieser Doktor Rothahn es ja wirklich ehrlich mit der Paula zu meinen, und sie haben sich allen Ernstes untereinander verlobt. Leider hat die Geschichte einen Haken. Der Doktor hat nämlich noch eine Tante, die Mutterstelle an ihm vertritt, eine sehr reiche Dame, die im Geheimratsviertel, ich glaube in der Matthäikirchstraße wohnt. Diese – eine Frau Oberlandesgerichtsrat – ist als eine sehr wohltätige Dame bekannt. Weil sie nichts anderes zu tun hat, beschäftigt sie sich sehr viel mit der Lösung sozialer Probleme. Sie ist eine eifrige Förderin der antialkoholistischen Bewegung, bekämpft die Säuglingssterblichkeit, befürwortet die Rechte der unehelichen Mütter, und ist die Vorsitzende eines Magdalenenvereins, der sich die schöne und lobenswerte Aufgabe gestellt hat, gefallenen Mädchen die Rückkehr in ein geordnetes Leben zu erleichtern. Sie wendet viel Geld, ihren großen Überschuß an Zeit und einen erheblichen Fleiß und guten Willen an alle diese Dinge, reist auch nach auswärts und hält Vorträge, kurz, geht ganz in ihren anerkennenswerten Bestrebungen auf. Diese selbst kinderlose Dame ist eine Mutter-Schwester vom Walter Rothahn, und hat ihn, da seine Eltern früh gestorben sind und er selber keinen Pfennig Vermögen hat, ganz erzogen, so daß er ihr so ziemlich alles verdankt, wie er denn auch noch zurzeit einigermaßen abhängig von ihr ist. Denn die Unfallstation ist ein magerer Posten für einen jungen Mediziner, und kommt eigentlich nur als Probeexempel und Durchgangsstation in Betracht.[184]
Die Tante soll denn auch große Pläne für ihren Neffen haben, will aber nicht, daß er sich schon jetzt niederläßt. Was sie davon hat, weiß man nicht. Tatsächlich hat ein unbekannter junger Arzt ohne Konnexionen und Mittel in Berlin auch die besten Aussichten eines ehrenhaften Hungertodes zu sterben.
Also ohne Tantens Konsens ist hier für unser Pärchen schlechterdings nichts zu machen.
Da hat sich der junge Mann in seinem verliebten Dusel denn hinreißen lassen, alles der Tante zu sagen – Hat vielleicht im Hintergrunde seiner Gefühlskonfusion die unklare Vorstellung gehabt, daß diese vortreffliche Dame mit ihrem großen Herzen und ihrer Menschenliebe ohne weiteres die Arme öffnen würde, um solch ein armes, heimatloses und verwaistes Mädchen, das sich brav und rechtschaffen in schwerer Arbeit sein Brot verdient, nachdem es eine gute Erziehung genossen hat, als Tochter willkommen zu heißen ...
O schöner Wahn und heilige Einfalt! Ich hätte ihm voraussagen können, wie er damit abschnitt. Ich kenne die Sorte. Theorie und Praxis sind bei denen zwei verflucht extreme Begriffe.
Also Tante ist vorerst kühl bis ans Herz hinan und dann die obligate Frage: »Aus welcher Familie!« Woher? Wo jetzt? Na, dann hat das Wort »Kellnerin« wie eine Granate eingeschlagen. Nie und nimmer! Zum Teufel all die schönen sozialen Ideen und Theorien. Gewiß, man kann Magdalenen retten und uneheliche Mütter protegieren, aber immer dreihundert Meter vom Leibe. Man kann Geld und Fleiß und Zeit an alle die hübschen Dinge wenden – aber die Feuerprobe auf die Echtheit der Gesinnung am eigenen Leibe darf nicht kommen ... Nichts zu machen!
Sie hat dem Neffen dann nur liebevoll geraten, das Verhältnis zu der Kellnerin schleunigst zu lösen und ihr[185] nicht wieder unter die Augen zu treten, bevor er reinen Tisch gemacht hätte.
Na und nun? Sie sind beide kreuzunglücklich und fest entschlossen, nicht voneinander zu lassen, und wenn sie noch sieben Jahre warten müssen, solange bis er eine Praxis hat, die ihm das Heiraten gestattet. Die Kleine ist vollends wie zerschmettert. Sie hat bisher so hingelebt, stark in ihrem inneren Trotz gegen die Gesellschaft, die ihr Feind war, sie fühlte sich frei und mutig, und nun kommt dieser Schlag und plötzlich empfindet sie die niedere Bewertung ihrer Stellung mit qualvoller Wucht, und wie Eva, als sie den Apfel der Erkenntnis aß, ob ihrer Nacktheit, beginnt sie sich ihres Erwerbes zu schämen, bis zur Vernichtung zu schämen, und mochte wieder hinaus, und die Palissaden, die die »Gesellschaft« von diesen Kreisen trennt, und über die sie mit kühnem Salto hinwegsetzte, heimlich wieder erklimmen und still zurückgleiten in den Garten eines bürgerlichen, wohlgelittenen Mädchenberufes.
Ach du armes kleines Kaninchen.
Sieben Jahre heimlicher Brautstand ... das, was mir auf den Lippen lag, sprach ich nicht aus. Ich fühlte, es war nicht angezeigt, es war frivol, obgleich es sicher nicht böse gemeint war. Ich bereute plötzlich schon das, was ich schon vorher gesagt hatte.
Mir sprudelt das so heraus. Ich kann mich nicht anders machen, als ich bin. Ich habe diese Anschauungen. Ob Ehe oder Brautstand oder Verhältnis – mir ist alles egal. Für mich ist die Liebe nur Freude und Vergnügen und keine Pflichtsache. Ich bin in dieser Luft groß geworden, hab sie immerzu eingeatmet, sie ist mir mit all ihren Bazillen ins Blut gegangen und ich brauche nun diese Bestandteile um zu leben.
Die Dinge sind doch immer nur so, wie man sie betrachtet. Ich habe das Leben, so hart es mich manchmal[186] anpackte, immer auf die leichte Achsel genommen. Ich habe zuweilen ernste, zornige, ja bittere Gedanken, aber wenn mich die Freude anlächelt – lächele ich wieder.
Aber dieses Mädchen ist von anderer Art als ich. Sie ist in reiner Luft groß geworden. Sie hat noch Ideale. Sie glaubt noch an das Gute, an Treue. Man soll ihr den Glauben lassen.
Mir wurde plötzlich weich und warm ums Herz. Ich dachte, daß, wenn ich mit sechzehn Jahren ein Kind bekommen hätte, mir nun auch schon eine erwachsene Tochter gehören könnte. Noch ist sie rein und unschuldig und unverdorben, die kleine Paula. Noch hat sie keiner gepflückt. Mich täuscht das nicht. Ich sehe es an ihren ruhigen, unbefangenen Augen, an den weichen Zügen um den Mund, an den zarten, vom Kinn zum Hals abfallenden Linien. Ich habe es hundert und hundertmal beobachtet: in einer Stunde ist das alles zum Teufel. Alles! – –
Und sieben Jahre. Mein armes Kind – es ist nicht mehr wie früher, als du noch ein Heim hattest und hinter dir und um dich die Gesellschaft, die dich umfaßte und stützte ... Wenn du jetzt abends von deinem Schatz begleitet nach Hause gehst – todmüd und doch aufgeregt von dem Lärm, der Musik, dem Dunst, dem Rauch, der Hitze, die Nerven zum Springen gespannt, aufgepeitscht und gereizt von der anstrengenden Arbeit und dem unvermeidlichen Alkoholgenuß – denn ganz kommt sie an dieser Klippe auch nicht vorüber – und in den Adern das junge warme Blut, das einem unerbittlichen Naturgesetz zufolge zu dem Mann an seiner Seite drängt ... mein armes Kindchen – du stehst nicht mehr lange gerade. – Wenn ich dich nach acht Tagen wiedersehe – – – Ob deine Augen dann noch so klar und still blicken? – – Ob das Mündchen noch so[187] weich und rein in der Kinnpartie eingebettet liegt wie sonst? – – –
Ich war plötzlich still geworden. Ich schämte mich – Ich schämte mich, daß ich dem Kind den Leichtsinn gepredigt hatte.
Wie kann ich Paula mit demselben Maße messen, wie mich! An mir ist nichts mehr zu verderben. Aber sie ist nicht für solches Leben des gedanken- und skrupellosen Genusses geschaffen, sie gehört in einen stillen, geschützten Herdwinkel des Lebens. Gott gebe ihn ihr!
Eine fromme Phrase, die aus meinem Mund wie eine Gotteslästerung klingt. Aber sie ist es nicht. Naturen wie die Paulas treiben nicht wie ich, mit kräftigen Armstößen fröhlich auf der Oberfläche des Lebens dahin ... Sie erreichen entweder das Land ihrer Sehnsucht oder sie gehen zugrunde.
»Sieben Jahre wäre etwas lange,« sagte ich.
Ja, meinte sie, sie hätte auch schon gedacht, wie man etwas schneller zum Ziel komme. Sie wüßten noch nicht, vielleicht hänge ihr Bräutigam die ganze medizinische Wissenschaft an den Nagel und ergriffe einen anderen Beruf. Zum Beispiel täte er sehr schöne Feuilletons und Geschichten schreiben. Neulich wieder hatte er dreißig Mark für einen Aufsatz bekommen, den er an einem Nachmittag geschrieben habe, ein andermal sogar hundert Mark für eine Novelle.
»Um Gottes willen nicht,« sagte ich erschrocken. Sie sah mich erstaunt an und hielt es offenbar meiner Dummheit zugute, daß ich nicht starr vor Bewunderung war und sofort zustimmte, und sie setzte mir eifrig die traurige Wahrheit auseinander, daß an die Erlangung einer einträglichen Praxis gar nicht zu denken wäre, heutzutage, wo es geradezu eine Misere mit dem Ärztestand sei.
»Was sagst du denn überhaupt zu dem allem, Mieze?«[188] sagte sie. »Du bist ja plötzlich ganz verstimmt und verstummt ...«
»Ich muß mir das erst durchdenken,« sagte ich. Und dann bin ich dran gegangen und habe ihr den unsinnigen Gedanken, jetzt wieder eine Familienstellung anzunehmen, aus dem Kopf geredet. Das sind ja die reinen Lohnsklaven, diese Stützen und Bonnen. Und daß Tante Oberlandesgerichtsrat durch einen solchen Berufswechsel zu größerer Milde gestimmt würde, glaube ich in die Hand nicht. Was ich dachte, aber nicht sagte, ist das, daß sie überhaupt schwerlich eine anständige Stellung dieser Art findet. Die Tatsache, daß sie zurzeit Kellnerin ist, versperrt ihr dazu den Weg. Ich rechnete ihr aber vor, wieviel sie sich gegenwärtig ersparen kann und daß das doch alles ihrem künftigen Haushalt zugute kommt, und das leuchtete ihr ein, denn zurzeit legt sie monatlich fast zweihundert Mark beiseite.
Mir war das Herz ordentlich schwer, als ich von ihr wegging. Ich hatte ihr versprochen, bald mal wieder ran zu kommen, und das will ich auch.
Wenn der Mann bloß nicht die Eselei begeht und seinen Beruf im Stich läßt. Das ist das dümmste, was jemand tun kann. Das habe ich schon einmal erlebt an einem ganz analogen Fall.
Das war nämlich eine Kollegin von mir, die Liselotte, und die machte beim Bedienen die Bekanntschaft eines Referendars, der auch den Doktortitel hatte und kurz vorm Assessor stand. Arm war er auch, Sohn einer Beamtenwitwe, die ihre paar Ersparnisse auf sein Studium verwendet hatte. Nun hat der Mann ein großes Vortragstalent gehabt; er konnte sämtliche populäre Schauspieler kopieren und wenn er abends 'n bißchen animiert war und etwas zum Besten gab, brüllte das ganze Lokal vor Vergnügen und die Leute überboten sich in Schmeicheleien und Prophezeiungen über eine[189] große Zukunft, wenn er zur Bühne ginge. Wie er nun mit Liselotte anbendelte, kriegt er's auch mit 'm Mal in den Kopf, daß es zu lange dauere mit ihnen beiden. Denn die Liselotte war eine Gerissene und wollte geheiratet sein, die »Frau Doktor« spukte ihr im Giebelstübchen und sie hat sich ohne standesamtlichen Zivilversorgungsschein auf nichts einlassen wollen. Also gut, mein Herr Referendar bricht seine Karriere ab ... er war ja von allen Seiten zugeredet, das Geld müsse ihm scheffelweise zufliegen ... Gut, sie heirateten ins Blaue hinein. Es gelingt ihm auch ein verhältnismäßig gut bezahltes Engagement an einer der damals gerade üppig florierenden Überbrettlbühnen zu finden, knapp ein Jahr währte die Herrlichkeit, dann ging's reißend bergab. Zuerst Provinzschmiere, dann zurück nach Berlin, Tingeltangel in der Chausseestraße, verzweifelte Anstrengungen wieder hoch zu kommen, immer noch »Kunstideale« und immer neue Enttäuschungen. Inzwischen ist er an den Suff gekommen und verlumpte immer mehr. Die Liselotte – das soll nur gut sein – ist dann wieder wacker mit eingesprungen, hat wieder eine Stelle als Kellnerin angenommen und den Mann mit durchgeschleppt, aber es war ja doch ein miserables Leben, Unzufriedenheit auf beiden Seiten, gegenseitige Vorwürfe, Qual, Verzweiflung und Erbitterung hüben und drüben. Eines Abends zogen sie ihn tot aus dem Kanal. Ob er in der Besoffenheit hineingeraten ist oder ob ein lichter Moment der Erkenntnis ihn hineinführte – wer weiß. Liselotte ist noch heute als Kellnerin hier beschäftigt. Sie hatten ihr den teuer erkauften Titel als Spitznamen angehängt: Frau Doktor ... Ein Ende mit Schrecken.[190]
* * *
Mein kleiner Frédéric läßt sich nicht mehr sehen. Ich hab 'n das alles nicht nach 'n Kopp gemacht. Es sollte das eine soziale Sache werden, sagt er, und ich hätt 'n das alles verzettelt, so daß es nur lauter Episoden wären, und dann hätt' er mir doch auch streng verboten, Betrachtungen anzustellen usw. Ich soll mir für das Ding nur 'n Drucker suchen. Werd' ich auch schon. Ganz egal, jetzt, wo ich gerade im Gang bin, schreib ich noch weiter. Er ist seit vierzehn Tagen nicht mehr dagewesen. Sonntag traf ich ihn mit 'n Fräulein im Grunewaldcafé; das ist ja der ganze Witz, der poussiert und hat jetzt keine Zeit für meine literarische Erstgeburt. Undank ist der Welt Lohn.
Das habe ich heute wieder mal erfahren.
Also ich höre und sehe nichts mehr von den Heinrichs, und wie ich so bin, mache ich mir nachgerade Gedanken darüber. Er ist mir ordentlich nachgegangen. Was kann man denn wissen, was so 'n rückenmarkloser Mensch in seinem zerrissenen Gemütszustand und seiner Eheverlassenheit anstellt. Wenn Lottchen dauernd schnappt, kriegen sie ihn bald mürbe, das hab ich ja längst eingesehen. Nun hat er aber da die Wohnung auf 'n Hals. Lieber Himmel, ich hab allerhand schreckhafte Vorstellungen gehabt, und hielt's nicht mehr aus und schrieb ihm vorgestern abend ein paar Worte:
Lieber Freund!
Was machen Sie? Warum sieht man Sie gar nicht mehr? Ich fürchte, Sie könnten krank sein. Hat Lottchen noch nicht Vernunft angenommen? Beruhigen Sie durch eine Zeile Ihre Ihnen treu ergebene
Marie Biedenbach.
»Well«, sagt der Engländer. Was geschieht? Heute früh kommt ein Brief aus Friedenau. Was enthält das Kuvert? Meinen Brief! Und darunter zwei Zeilen:
[191]
Mein Fräulein!
Lassen Sie gefälligst meinen Mann in Ruh! Wenn Sie fortfahren, ihn zu belästigen und unseren Frieden zu stören, zeige ich Sie der Polizei an.
Frau Charlotte Heinrichs.
Wie gefällt dir das? Hat man Worte? Hat man Worte!! Wer hat der Frau Charlotte das hübsche eigene Heim verschafft, hm? Wem hat sie es zu verdanken, wenn sie nun endlich eine richtige Haus- und Ehefrau ist? Mir!! Und anstatt mir dafür dankbar zu sein, zeigt sie mich der Polizei an. Es ist zum Schießen, wenn's nur nicht so schafsdämlich ärgerlich wäre.
Jeses Maria!! Mir soll nur mal wieder so 'n mißvergnügter Pantoffelfritze über den Weg laufen. Der fliegt aber – nicht auf die Friedrichstraße – nee, gleich über die Passage weg in die Linden, und wenn ich in Schwung bin, direkt in 'n Schloßgraben, damit er sich abkühlt ... So. Damit ist für mich diese Angelegenheit erledigt. –
Onkel Lautbach heiratet jetzt die Dicke aus der Rathenowerstraße. Die Kunstschlosserswitwe vom Winterfeldplatz gefiel uns gar nicht, und dann war auch die Erkundigung, die Lautbach eingezogen hatte, etwas mau ausgefallen. Das Haus hat einen dicken Posten Hypotheken und im übrigen wußte man in puncto des nervus rerum nicht recht was Genaues. Daraufhin wollte unser Onkel keinen Reinfall riskieren.
Die Dicke hat ein solides Kapitalvermögen, ist sehr dumm und gutmütig und vor Heiratsdolligkeit halb närrisch. Das paßt dem Alten. Ich bin überzeugt, daß sie auch keine schlechten Tage bei ihm kriegt. Er ist zwar ein großer Kujon und Filou, aber er hat bei alledem einige echt kavaliermäßige Züge, und ich glaube nicht, daß er es fertig brächte, eine Frau auszuplündern[192] und sie dann schlecht zu behandeln. Nun, so gemein ist er nicht. Auf illegitime Liebeswege wird er auch kaum mehr gehen, und wenn sich doch noch ein verspäteter Johannistrieb bei ihm bemerkbar machen sollte, wird er es schon einrichten, daß seine Frau nichts davon merkt. Was man aber nicht weiß, kränkt einen auch nicht, und ist so gut, wie nicht geschehen. Na, und was kann so 'ne Tante sich denn auch Besseres für ihren Mammon kaufen, als 'n netten, anständigen Mann, an dem sie schließlich doch 'nen Halt hat. Also die Chose geht jetzt sehr fix voran. Das Aufgebot ist, glaube ich, schon bestellt.
Im übrigen kann die Frau oder vielmehr das schon etwas sehr seniore Fräulein von Glück sagen, daß sie es noch so getroffen hat. Sie hätte bei ihrer Schreiberei auf die Annonce auch gehörig hereinfliegen können. In der Zeitung wird ja jeden zweiten Tag ein Heiratsschwindelfall festgenagelt. Ich habe selbst mal so 'n Fall erlebt, als ich noch bei H. in der Elsasserstraße bediente. Die Episode fällt in die Zeit, der ich mich nicht gern erinnere, weil meine Existenz damals sozusagen auf Null stand. Die Wirtschaft war nicht ganz Animierkneipe letzter Nummer, aber das, was dann kommt. Jedenfalls bestand auch unsere Aufgabe darin, den verehrten Gästen zum Besten des Wirts möglichst die Geldstücke aus dem Portemonnaie zu ziehen, und wer mit einer schweren Tasche voll Geld hereinkam, konnte versichert sein, daß er den Rückweg um vieles erleichtert antrat.
Was uns Kellnerinnen anbelangt, waren wir den ganzen Tag und die ganze Nacht in einer Art – Rausch – nein – das ist nicht der richtige Ausdruck – in einer Art Alkoholbetäubung. In jener Stellung habe ich während meiner Kellnerinnenlaufbahn den Rekord im Trinken geschlagen. Wenn ich hier festnageln wollte, was ich damals nach dieser Seite hin leistete, würde es mir kaum[193] jemand glauben, und da es mir überdies keine große Genugtuung bereitet, davon zu sprechen, schweige ich lieber. Wir waren dort zu vieren und es war einigermaßen merkwürdig, daß unter uns keine war, die sich in dieser Existenz wohlfühlte, und wenn auch keine ihre Empfindungen in Worte kleidete, so wußte doch jede von uns Bescheid, wie es in der anderen aussah.
In den drei miteinander verbundenen Wirtsstuben herrschte stets ein gewaltiger Klimbim, der sich in der verschwiegenen »Privat«-Hinterstube weit über die Polizeistunde, manchmal bis zum hellen Morgen ausdehnte. Aber es kam doch auch öfter vor, daß das Lokal mal eine Stunde leer war. Dann gönnte der Klavierspieler seinen hageren Händen, die sonst unermüdlich die Tasten verhauten, Ruhe und nickte ein Weilchen, der Harfenist begab sich ans Büfett, hinter dem die hahnenbunt aufgetakelte Wirtin thronte, und stippte zur Erwärmung und Abkühlung abwechselnd Schnäpse und Selterwasser herunter, der Barde dröselte, das edle Haupt auf die Sofalehne gedrückt im trauten Halbschlurnmer, und wir Kellnerinnen hockten auf den Stühlen umher und wenn unsere Blicke einander trafen, dachte jede dasselbe: wenn man sich jetzt mal ausstrecken und schlafen könnte, achtundvierzig Stunden hintereinander, und aufwachen und sich umdrehen und weiter schlafen, daß nur einmal einem dieses verfluchte Gefühl des gänzlichen Erlahmens der Lebensgeister, dieses scheußliche Bewußtsein körperlicher Schachmattigkeit bis zur Grenze des Erträglichen verlassen wollte. Und das einzige, was unser mattes, grau umdüstertes Hirn mit ein bißchen Helle erfüllte und unseren müden Knochen die absolut nötige Haltkraft zum Aufrechtbleiben gab, war das vage Wörtlein »Hoffnung«: Es wird ja doch mal besser werden.
Ich für meine Person habe meine Hoffnung immer nur auf mich selber gesetzt. Habe nie daran gezweifelt,[194] daß die Kraft mir ein besseres Los zu schaffen einzig in mir selber liegt, und daß ich eines Tages den Weg zu einer besseren Existenz finden muß ... Aber meine Kolleginnen hofften alles Heil von einer Heirat oder von einem glänzenden Verhältnis.
Ach, es war gut, daß die »stillen« Stunden in der Wirtschaft nie lange währten, sonst wären wir bald mit unseren physischen und seelischen Kräften bankerott gewesen. So wie ein Gast die Wirtsstube betrat, war es wie im Dornröschenmärchen, als der Prinz das Prinzeßchen küßte: der Klavierspieler setzte sich in Positur, der Harfenist stürzte von Pomeranzen und Selter weg an seine Harfe, der Sänger fuhr mit einem Ruck von der Sofakante empor, schüttelte erst seine graue Mähne und dann seine Manschetten und griff nach den Noten, und während das vereinte Trio lärmend und schmetternd Tasten, Saiten und Lunge malträtierte, umtanzten wir den Ankömmling wie die Kinder Israels das goldene Kalb, wenn's auch in diesem Falle meist nur ein goldplattierter Schafskopf war. Manchmal verirrte sich freilich doch auch ein richtiges goldenes Kalb zu uns. Einmal ein junges, geschniegeltes Bürschchen von etwa einundzwanzig Jahren, Sohn eines millionenschweren Großindustriellen in Wien, der in Berlin das Bankfach erlernte und in einer großen bekannten Bank in der Behrenstraße als Volontär war. Er hatte es auf meine Kollegin Frieda besonders abgesehen, brachte ihr Blumen und Geschenke, machte ihr rasend den Hof und markierte den wahnsinnig Verliebten. Die Frieda ließ sich das natürlich nicht zweimal bieten, besonders da er Andeutungen machte, daß es ihm ernst sei, – trug stolz den fünf Zentimeter langen Marquisring von Brillanten, den er ihr als Verlobungsgeschenk gegeben hatte, auf dem Mittelfinger, und lebte und webte nur noch in Zukunftsträumen mit Zimbel- und Schalmeienbegleitung,[195] in dem ein Palast am Ring, eine Villa in Mödling, Theaterloge, Equipagen, märchenhafte Juwelen, wie im Kaleidoskop durcheinander rollten und schimmerten.
Was mich anbelangt – ich traute dem Frieden von Anfang an nicht recht. Das heißt, ich hielt es für Nonsens, daß der junge Mensch ernsthafte Heiratsgedanken hatte. Aber ich sagte auch nichts. Lieber Himmel, das beste im Leben ist nun doch 'n bißchen Traum und die goldene Hoffnung. Und wenn hinterher die Enttäuschung auch noch so groß und noch so bitter ist, so groß kann sie ja eigentlich gar nicht sein, daß sie den schimmernden Fleck, auf den die Hoffnung geschienen, ganz aufsaugt und auslöscht. Aber freilich kommt es doch auf die Art der Enttäuschung an. Wenn man sich etwas so schön vorgestellt und sich so intensiv darauf gefreut hat, und 's ist dann hinterher nichts damit, das tut ja weh, aber die Zeit heilt und tröstet und allmählich verblutet sich der Schmerz und die Wunde vernarbt, und das, was nachher bleibt ist nur eine Resignation, und noch später, wenn auch die zerfällt, steigt, wie die unsterbliche Seele aus dem Grabe, die verklärte Erinnerung an das, was war aus dem Herzen empor. Aber das alles setzt immer einen – wie soll ich mich ausdrücken – natürlichen Tod voraus, an dem das Gewesene gestorben ist, keine Raubmörder-Hinrichtung oder Spitzbuben-Strangulation, keine Gemeinheit als Schlußpunkt.
Also diese Liebschaft zwischen dem jungen Wiener und Frieda schien mir von vornherein so ein Ding, dessen realer Wert eben nur darin bestand, daß seine Quintessenz in der Zukunft einmal in Friedas Seele ein freundliche Erinnerungillumination aufgehen läßt, und daß damit dann die Kapitalsanlage von Traum und Hoffnung aufgelöst und verzinst wird.
Die Sache spielte knapp zwei Monate. Dann fiel[196] es mir auf, daß Friede plötzlich sehr niedergeschlagen und gedrückt, fast ein bißchen geänstigt aussah. Ihr Bräutigam sei krank, sagte sie, sie hatte ihn in acht Tagen nicht gesehen und gesprochen. Sie war ein lautes, freches Ding. Wer von uns ist nicht »frech«?! Das Leben und die Menschen und die Art, wie wir mit ihnen zu verkehren gezwungen sind und sie mit uns verkehren, machen uns so. Was sollte wohl aus einer Kellnerin werden, die auf den Mund gefallen ist, und die sanft und demütig und bescheiden und mit niedergeschlagenen Augen die Anrempeleien der lieben Gäste entgegennimmt. Nee, so wie man in den Wald ruft, kommt die Antwort, und wer durch will, muß eine dicke Haut und eine harte Stirn haben. Aber Frieda war plötzlich wie geknickt, sah aus wie die gekalkte Wand und ging herum, als wenn ihr plötzlich die Sprache ausgegangen war.
Ein paar Tage weiter platzte die Bombe, und kam alles an den Tag, was die Frieda in den letzten Tagen, wohl stumm in sich hineingefressen hatte an heimlicher vorahnender Angst.
Schwindel, alles Schwindel. Und die Frieda, das dämliche Ding, hatte ihm ihr Sparkassenbuch gegeben, weil ihr »Bräutigam« angeblich in momentaner Geldverlegenheit war, siebenhundertfünfundneunzig Mark, und hatte ihre Schmucksachen versetzt, inklusive den Brillantring, den sie von ihm geschenkt bekommen hatte, und dem Schuft das Geld und die Pfandscheine gegeben, und war natürlich alles zum Teufel und mein Leopold über alle Berge. Das dicke Ende kam aber noch nach. Es liefen nämlich ein geschlagenes Dutzend Anzeigen von ähnlichen Betrügereien bei der Polizei ein, und da stellte es sich heraus, daß Monsieur dasselbe Monöver in zwölf oder vierzehnfacher Auflage inszeniert hatte, meist datierten die Bekanntschaften von Heiratsannoncen her, die er erlassen und alle ohne Ausnahme waren hereingeflogen und[197] hatten Wolle lassen müssen. Der Brillantring, den er nach Frieda als Köder ausgeworfen hatte, war einer anderen Frau abgeschwindelt. Sie haben ihn dann nachher noch erwischt, und er war wirklich aus guter Familie, Sohn eines höheren Beamten in Wien, aber das ändert nichts an der Sache an sich, und keine der Betrogenen hat einen Pfennig zurückgekriegt. Friedas Schmucksachen hatte er – wahrscheinlich mit ihrem eigenen Gelde – vom Juden geholt und versilbert. Mir hätte sich die ziemlich alltägliche Geschichte wahrscheinlich nicht so unauslöschlich ins Gedächtnis geprägt, wenn sie nicht einen so furchtbar tragischen Abschluß gefunden hätte. Denn die Frieda konnte die Tatsache, daß sie so schändlich betrogen und hintergangen war, nicht überwinden; nicht zum letzten fraß auch der Grimm über den Verlust ihres mühsam ersparten kleinen Vermögens an ihr und sie wurde ganz tiefsinnig und deshalb fürs Geschäft unbrauchbar, weswegen der Wirt ihr kündigte. Eines Morgens kam sie nicht ins Geschäft und hatte auch keinen Bescheid geschickt. Abends ging ich in ihre Wohnung, um nach ihr zu sehen, und fand die Wirtin in großer Unruhe, weil Frieda noch den ganzen Tag nicht aus ihrer Stube gekommen war, sie hatte von innen abgeschlossen und gab auf kein Klopfen und Rufen Antwort. Ich veranlaßte die Frau, sofort zum Schlosser zu schicken und nach einer halben Stunde kam der Mann und brach die Tür auf. Zuerst sahen wir nur, daß niemand drin war, und alles war schön ordentlich aufgeräumt und das Bett sauber gemacht und nichts Ungewöhnliches zu entdecken, so daß ich schon meinte, die Frau hätte sich geirrt und Frieda wäre doch am Ende ausgegangen. Die Wirtin sah sich um und rief: »Sie muß doch hier sein, der Schlüssel war doch von innen abgedreht.« Und so war es, und wir suchten überall im Bett und unterm Bett und in den Ecken, und plötzlich[198] stößt die Frau einen fürchterlichen Schrei aus und reißt die angelehnte Tür des Kleiderschrankes auf und da hängt sie, im Schrank, an einem der Haken und natürlich schon lange tot; wie der Doktor nachher konstatierte, mußte der Tod schon seit elf Stunden eingetreten sein, so daß es in der Morgenfrühe geschehen ist. Was mag da für eine Nacht vorangegangen sein! O Gott, ich habe schon manchen Toten in meinem Leben gesehen, aber so was Grausiges wie den Anblick doch nicht vorher und nicht nachher; der verläßt mich niemals wieder und ich mag ihn gar nicht beschreiben, weil plötzlich wieder alles so lebendig in mir wird und die Erinnerung daran so gar schauerlich ist.
Immer, wenn ich eine Leiche sehe, muß ich denken, was ist der Mensch doch eigentlich im Grunde! Was unterscheidet ihn nur vom Tier?! Hier wie dort am Ende ein Kadaver. Wo ist das Menschliche nun geblieben, das was sie die Seele nennen. Ich bin nur ein einfaches Volksweib, und es fällt mir nicht ein über Dinge zu spintisieren, die ich nicht verstehe, aber es kommt doch ganz von selbst, daß man mal über so etwas nachdenkt. Schließlich ist man doch aus demselben Material angefertigt, wie die feinen und hochgebildeten Leute und besteht aus demselben Zweierlei, nämlich aus Körper und Seele. Wo bleibt das Menschliche aber, das Leben, frage ich. Gibt es wirklich einen Himmel und eine Hölle? Aber daran mag ich nicht glauben. Denn wenn es sich nun trifft, daß man im Leben blutarm und ganz enterbt vom Schicksal war, und nun, was doch gerade in diesem Fall so leicht möglich, ich möchte fast sagen – natürlich – ist, daß man von den Pfaden der bürgerlichen Tugend und des bürgerlichen Gesetzes abirrt, und etwas tut, das im vorgeschriebenen Bibelsinn als »böse« gilt, soll man da nach solchem verfluchten irdischen Hundeleben auch noch hinterher ewig in der[199] Hölle braten, während die reichen und glücklichen Menschen, denen das Gutsein so unendlich viel leichter gemacht ist, hübsche Laubenplätzchen im Paradies erstehen können?
Ich danke für solche Welteinrichtung. Wenn die schöpferische Urkraft nichts besseres konnte, als solche Ungerechtheiten, ist sie wahrhaftig nicht allweise zu nennen. Da wüßte ich selber mit einem bißchen einfältigen Verstand es noch besser zu machen. Ich würde alle Menschen zweimal geboren werden lassen, einmal in geordneten, angenehmen Verhältnissen und einmal als Kinder der Armut. Und müßten beidemal den ihnen durch ihre Geburt prädestinierten Lebenslauf durchmachen, einmal als reiche oder doch wohlhabende und sogenannte »bessere« Leute, und einmal als Proletarier. Und dann sollen die beide Lebensläufe zusammengestellt und alles »Gute« und »Böse« davon addiert werden, da würde sich's herausstellen, wie mancher von den Herrschaften, die von ihrer sicheren Feste aus, so tugendhaft und unantastbar über andere arme Schacher urteilen, es selber noch hundertmal schlimmer treiben, wenn sie in des anderen Haut oder vielmehr in seinen Kleidern steckten.
Na – Schwamm drüber. Es ist einmal so und wird nie anders in der Welt. Damit muß sich der Mensch abfinden.
Jeden Totensonntag besuche ich die Frieda und bringe ihr einen Kranz. Sie hat sonst keine Angehörigen, die sich um ihr letztes Domizil bekümmern. So wie ihr, wird es auch einmal mit mir sein. Ich glaube nicht, daß von meinen vielen Bekannten ein einziger noch übers Jahr nach meinem Todestag soviel an mich denkt, um mir 'nen Kranz zu bringen. Na, 's ist auch egal. Wenn man tot ist, ist man eben tot und gehört der Erde und dem Erdgetier.[200]
* * *
Ich hatte gestern meinen freien Abend und mich mit Ilscher verabredet, daß ich ihn um sieben am Brandenburger Tor treffe und er war pünktlich zur Stelle, und dann schlug er mir vor, ob ich nicht mit ihm mal auf einen Sprung mit zu seiner Schwester und seinem Schwager in der Seydelstraße kommen wolle. Die Schwester hatte Geburtstag, und da es ihnen gerade nicht zu gut geht, fürchtete er, sie könnte beleidigt sein, wenn er sich nicht mal sehen läßt. Ich sah nicht ein, weswegen ich nein sagen sollte und so gingen wir hin. Die Leute wohnen in einem Hinterhause, drei Treppen, Stube, Kammer und Küche, und es sieht soweit ganz ordentlich und nett bei ihnen aus, aber es lag ein merkbarer Druck auf dem Ehepaar, denn der Mann, der bei der A.E.-G. arbeitete, ist durch den Streik aus seiner Stelle gekommen und momentan ohne Verdienst. Aus der Streikkasse bekommen sie nun auch nichts mehr, und es ist nicht leicht, wieder gleich andere Arbeit zu kriegen.
Die Frau Wagner war sehr niedergeschlagen und bekümmert Sie sah mich groß an und betrachtete mich von Kopf zu Fuß und als der Ilscher nebenan mit seinem Schwager sprach, fragte sie mich, ob ich ihren Bruder zu heiraten gedenke. Ich sagte, wie's wahr ist, daß daran kein Gedanke sei; vorläufig wären wir nur gute Freunde, was sie aber einigermaßen skeptisch aufzunehmen schien.
»Na, ich kann Ihnen nur raten, Fräulein, sehn Sie sich vor,« sagte sie mit einem tiefen Aufseufzen, »das Heiraten ist keine leichte Sache. Zuerst läßt sich alles gut an. Wenn der Mann Arbeit hat und Familie noch nicht da ist. Aber wenn die Familie größer wird und die Sorgen kommen, tja – tja – – ach ja –«
»Ja, ja,« sagte ich, denn diese Belehrung erschloß mir keine neuen Wahrheiten und Weisheiten. Wagners haben drei Kinder, ein großes Mädchen von fünfzehn und[201] zwei Jungen von vierzehn und zwölfe. Wir waren in der kleinen propperen Küche, während sie selbst am Herd saß, den Ellenbogen auf die Platte und den Kopf in die Hand gestützt. Und dann, ehe wir's uns versahen, waren wir im Gespräch und sie im Zug, und bekam ich die ganze Leidensgeschichte der letzten Wochen zu hören: »Der Teufel soll den Streik holen,« sagte sie, »aber die Männer sind ja rein des Satans. Immer gleich mit 'm Kopf gegen die Wand an. Ich hab's gleich gesagt zu meinem Mann: Laß die Hände davon, Jakob. Nu ja, 's ist ja so. Jeder möcht sich gern 'n bißchen verbessern. Und in fünf Mark pro Tag mit Miete und Lebensunterhalt und drei heranwachsende Kinder sind nicht viel Ecken und Winkel, und man muß sich mächtig zusammennehmen, um damit durchzukommen. Aber es ging so. Unsereins ist ja aufs Entbehren und Entsagen geaicht Früher freilich hab ich's mir auch nicht träumen lassen, daß ich mal so rechnen muß. Ich hatte immer gute Stellen in reichen Herrschaftshäusern und ich war ein bißchen flatterig und oben hinaus, und obgleich ich gut verdiente – fünfunddreißig und vierzig Mark monatlich und viele Trinkgelder und Geschenke – hab ich mir doch nie etwas gespart. Wenn ich Stellen wechselte, war's immer nur die Liebe zum Verändern, die mich dazu trieb. Am längsten hielt ich bei der Frau Rat von Scholar aus, bei der war ich dreimal und dahin kommt jetzt nächsten Ersten unsere Hanne, es ist eine sehr gute Stelle –«
Ich horchte auf, denn von Scholar war der nämliche Name, den Paula uns neulich als Tante ihres Doktors genannt hatte, und fragte, wo die Dame wohnt, und siehe da, ich hatte mich nicht in meiner Vermutung geirrt, sie war es, die wohltätige Frau Oberlandesgerichtsrat in der Matthäikirchstraße.
Ich fragte nun vorsichtig, von hinten herum, was[202] das für eine Frau sei und da wurde Frau Wagner plötzlich ganz aufgekratzt und fing an wie toll zu lachen.
»Ja, die, ja, die,« sagte sie endlich, noch immer keuchend vor Lachen. »Die olle Schraube muß man zu drehen verstehen, da kann man bei der was herausholen. Nämlich sie hat ein Pläsier, was schon mehr eine Passion bei ihr ist, oder eigentlich sozusagen 'n Spleen. Sie will nämlich immer bessern und man kann ihr keinen größeren Spaß machen, als wenn man sich von ihr bessern läßt. Mich hat sie dreimal gebessert –«
Sie schluchzte vor Lachen.
»Ja, was haben Sie denn jedesmal angestellt?« fragte ich.
»Na, das war so: auf die Dauer wurde es mir da zu dov im Hause und wenn ich mal 'n paar Monate dagewesen war, schwankte ich – aus Liebe zur Abwechslung – wieder ab. Aber wenn ich dann inzwischen ein paar andere Stellen abgeklopft hatte und den Unterschied merkte, sehnte ich mich wieder nach den Fleischtöpfen der alten Scholar zurück, aber so ohne weiteres ging das natürlich nicht, denn ich kam jedesmal mit einem großen Krach weg. Und so hab ich denn jedesmal an sie erst geschrieben, daß es mir schlecht geht, und ich aus Not und durch schlechte Gesellschaft leider auf eine schiefe Bahn geraten bin, daß mir das Leben aber bis obenhin leid sei und ich gern wieder umkehrte, wenn sich mir nur die Gelegenheit, wieder eine ordentliche Stelle zu bekommen, biete usw. Auf den Schwindel biß sie jedesmal an und bestellte mich hin zu sich, wo ich der alten Dusselliese dann eine schwere Mordgeschichte von Ballsälen und Nachtcafés und von Luden und Gott weiß was erzählte. Das Ende vom Liede war jedesmal, daß sie mich unter vielen Verwarnungen wieder in Gnade aufnahm und ordentlich verpempelte vor lauter Freude und Wohlgefallen, soviel Spaß machte ihr das ›Retten‹.[203] Wenn sie ihre Brüder und Schwestern in Christo dann bei sich versammelte, wurde ich als in Freiheit dressierte Wildkatze feierlich vorgeführt, und Frau von Scholar erntete als Dompteuse einer solchen Bestie zur zahmen Hauskatze tausend Lobsprüche und Segenswünsche. Ich sage Ihnen, es ist zum Kugeln. Man kann die Frau um den Finger wickeln. Als dreimal Gerettete bin ich immer ihr Liebling gewesen und ich hab auch von ihr aus geheiratet und bin von ihr ausgesteuert worden. Leider verknallte ich mich bald darauf mit ihr. Sie kam nämlich in der ersten Zeit meiner Ehe immer noch zu mir, um zu inspizieren und das wurde mir schließlich doch über, und meinen Mann, dem ich den Jux erzählt hatte, giftete es auch, und da hab ich sie schließlich hinausgegrault.«
»Und doch kommt ihre Tochter dahin?« fragte ich, denn ich interessierte mich natürlich sehr für alle diese Einzelheiten um Paulas willen.
»Ja,« sagte die Frau mit einem Seufzer. »Ich wollte sie erst das Bügeln lernen lassen, aber jetzt, wo es bei uns so klemmt, kann da nix aus werden, und sie muß was verdienen. Da bin ich denn selbst zu der Frau Rätin und hab sie bei ihrer schwachen Seite gepackt und ihr erzählt, daß die Hanne mir ein bißchen zu bummeln anfängt und nicht gut tun will, und daß ich in meiner Verzweiflung darüber an Frau Rätin, die allein helfen kann, gedacht habe und so weiter – –«
»Wahrhaftig?« fragte ich, »macht die Kleine schon Dummheiten?«
»I wo! Denkt nich dran. Die ist so brav wie man sich nur ein Mädel wünschen kann. Aber ich muß das so einleiten, wissen Sie, sonst hätte sie den guten Platz nicht gekriegt, und dann hat sie da unter diesen Umständen auch eine ganz andere Stellung. Gerade weil ich sie als eine angehende Verlorene hingestellt habe, hätschelt[204] die Gnädige mit ihr herum, wie mit 'ner Puppe, ich kenne das –«
»Das muß ja 'ne gelungene Alte sein,« sagte ich. »Dann kennen Sie wohl auch ihren Neffen, den Doktor Rothahn –«
»Das Walterchen! Ob ich den kenne. Wegen dem bin ich das erstemal rausgeflogen. Ich hatt 'n wegen irgendeiner Flegelei eine Stunde in den Kohlenkeller gesperrt und nachher verklatschte er mich und die Alte spie Feuer und gab mir den Laufpaß. Sie hatte einen fürchterlichen Narren an dem Bengel gefressen. Er ist ja wohl hier in Berlin Doktor –«
»Ja, auf der Unfallstation. Und er hat Bekanntschaft mit einer Kellnerin und die Alte will es hintertreiben.«
Frau Wagner nickte. »Ja, das glaube ich. Mit dem Neffen will sie sicher hoch hinaus. Na, ich bin ja mal froh, daß ich Hanne da unter habe. Das Essen ist hochfein und auch sonst – wie gesagt – alles nicht übel. Daß die Alte 'ne kleine Schraube los hat, stört ja nicht weiter. Das haben diese Art Damen fast alle. Sie haben aber nix weiter zu tun, als allerhand Übergesottenheiten auszuspintisieren.«
Damit war dies Thema erledigt, aber ich beschloß bei mir, Frau Wagner mal wieder zu besuchen und auf diese Weise auf Umwegen etwas Fühlung mit der Tante Rätin zu erlangen, vielleicht daß es dem jungen Paar nützlich sein kann. Wir gingen dann in die Wohnstube, wo die Männer beisammen am Tische saßen und nach einer Weile kam Ilschers Schwägerin mit ihrer Mutter und mit seinem kleinen Mädchen und nachher die Großmutter Ilscher mit dem Jungen und dann noch ein Schwager mit einer Schwester von Ilscher. Die Schwägerin ist eine rothaarige, aufgedonnerte Person, fürchterlich affektiert und oben hinaus und das kleine, blasse, flachshaarige Mädchen, das so leicht wie 'n Flederwisch[205] ist, war mit allerhand billigen Fetzen aufgeputzt wie so 'n kleiner Leiermannsaffe. Die Leute betrachteten mich alle neugierig und etwas mißtrauisch. Die Schwägerin hatte drei Flaschen Rum mitgebracht und Zitronen und Zucker, und davon wurde Punsch gemacht, grauenhaftes Zeug, aber mit etwas gutem Willen brachte man es ja schließlich herunter. Zuerst saßen wir alle steil und steif wie Ölgötzen nebeneinander, aber nach einigen Gläsern wurden die Leute mitteilsamer. Die Männer redeten von ihrer Arbeit und dem Streik und dann über Politik, und die Frauen sprachen von ihren Kindern. Etwas weiter auf den Abend kam noch ein Mann, ein Freund von Wagner, der auch so aussah, wie 'n besserer Arbeiter und, wie ich nachher erfuhr, auch Werkmeister in einer Fabrik ist. Er setzte sich zwischen Max Ilscher und die Schwägerin Fräulein Lehmann; diese wurde von ihm herzlich begrüßt, was sie aber sehr reserviert erwiderte. Er scheint sehr gutmütig und kinderliebend, denn er hatte beide Taschen voll Bonbons, die er an die Kinder verteilte. Lulu Ilscher, die kleine Spitzmaus, bekam den Löwenanteil. »Sie hätt' eigentlich nix verdient,« sagte Fräulein Lehmann. »Sie hat schon heut von mir ihre Wichse gekriegt und ihr habe ich gedroht, ich werd's ihrem Pape sagen, aber danach fragt sie ja nix, weil sie ja ganz genau weiß, daß der ihr doch nix tut, es is 'n Elend, wenn man ganz allein für die Erziehung von so 'n schwer erziehlichen Kind aufzukommen hat und beim Vater gar nich 'n bißchen Unterstützung finden tut –«
»Ja, wenn's nach dir ginge, säßest du den ganzen lieben Dag auf das Kind zu verhauen,« rief die alte Lehmann giftig, »wenn ihr der Kopp nich steht, kloppt sie aufs Kind herum. Ick habe't ihr't weggerissen und ihr selbst 'ne Maulschelle gegeben. Mit so 'n mutterloset Waisenkind meint jeder, er kann duhn mit was er Lust hat –«[206]
»Na, du, sei du man bloß still! Wenn jemand was von Lulu hält, dann bin ich's. Ich meine, ich tat's beweisen. Wer zahlt das hohe Schulgeld für die höhere Töchterschule? Der Max etwa? Oder du? Und wer kleidet das Kind wie eine Prinzessin? Ja! Und dafür soll ich nicht mal das Recht haben, dem Mädel eine aufzupappen, wenn sie fünfundzwanzig verdient hätte –«
»Was hat sie denn gemacht?« sagte Ilscher.
»Ja, was hat sie gemacht! Nachgesessen ist sie in der Schule, drei Viertelstunden wegen Unartigkeit. Und noch runter gekommen, sechs Plätze, noch unter die Willmann ihre, die so dumm ist wie Haberstroh, und wo sich die Willmann immer dicke tut mit ihre Sophie –«
»Aber nachsitzen habe ich gemußt, weil ich zu spät gekommen bin und meine Schularbeit nich gemacht hatte,« rief die Kleine. »Und daran bist du schuld, Tante. Ich wollt' sie gestern machen, aber du hast mich nich lassen, weil wir zu Schramm sind, und is so spät geworden bei's Feuerwerk, und hast mich heute morgen erst um viertel vor neune geweckt –«
»Papperlapapp, freche Göre. Habe ich dir nich gesagt, du sollst sagen, du wärst gestern unwohl gewesen, und hätt's auch noch heute morgen Kopfschmerz gehabt? Sonst haben sie 'n Mundwerk wie so nich mehr, aber wenn sie's mal vernünftig auftuen sollen, sind sie wie vernagelt –«
»So, und wenn Fräulein Kinkel mich beim Windbeuteln erwischt, wie schon einmal, krieg ich 'n Tadel ins Zeugnis und muß 'ne volle Stunde nachbrummen, dat 's dasselbe in Grün,« schrie die kleine Maus.
»Man sollte die Kinder auch nicht zum Flunkern veranlassen,« erlaubte ich mir einzuwerfen.
»Na, wenn Sie mal Kinder haben, können Sie's ja anders damit halten,« sagte Fräulein Lehmann giftig. »Ich gratuliere der Stiefmutter, die die Lulu mal annimmt,[207] die wird ihr blaues Wunder erleben. Mein Schwager tippt sein Töchterchen ja nicht an – da mag sie ausgefressen haben was sie will –«
Max Ilscher, der bis dahin offenbar nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört hatte, wandte sich rasch um. »Nee – – –« sagte er, »wenn ich Sonntags nachmittags zu euch hinauskomme, will ich mich mit meinem Kind freuen, und mein kleines Stümpchen soll sich auf mich freuen und sich nicht fürchten. Bei den Besuchen will ich kein Knecht Rupprecht spielen, und die Unarten der ganzen Woche abstrafen. Wenn das Kind unartig ist, gebt ihm auf frischer Tat 'ne Dachtel, aber ich wäre dir dankbar, wenn du mich Sonntag nachmittags mit Lulus Sünden-Wochenregister verschonen wolltest, Ida.«
»Übrigens von wegen der Stiefmutter spreche ick ooch noch 'n Wort mit,« rief die alte Lehmann. »Meine Tochter ihr mutterloses Waisenkind kommt nich 'n zu ne Stiefmutter, so lang ick lebe, mal sicher nich –«
Ich lachte in mich hinein und dachte: Na, vor mir habt ihr lange Ruh. Der Werkmeister Vogel, der zuletzt gekommen war, sagte der jungen Lehmann allerlei Schmeichelhaftes, aber sie rückte etwas weg von ihm und rümpfte die Nase. Ich weiß nicht, das Mädchen ist mir furchtbar unsympathisch. Sie hat so was Falsches in den Augen.
Der Grog macht die Köpfe warm.
Die Männer debattierten noch immer hitzig über Politik.
»Da schlag eener lang hin!« rief der Wagner, »was hab ich von der Partei! Gibt sie mir Brot, wenn ich keens habe? Verschafft sie mir Arbeit, wenn ich meine Arbeit als guter Sozialdemokrat bei der Streikerei verloren hab, hm? Nee, keines! Lieber gar keene Partei als solche. Hilf dir selbst, dann hift dir Jott –«[208]
»Nee, Mensch, nu tu' mir doch 'n Jefallen,« sagte der Schwager. »Die Partei is doch nu keine Versorgungs- un Versicherungsanstalt gegen Unglücksfälle. Wo nischt is, is nischt zu holen. Wat 'n Wunder, die Partei is keine Schuld. Die Schuld liegt an den verfluchten faulen Verhältnissen. Wenn wir Arbeiter soviel verdienten, daß wir uns was sparen könnten, hätte eine Zeitlang Arbeitslosigkeit nichts so was Schreckgespenstiges –«
»Was das nur anbelangt, sparen kann ja jeder in guten Zeiten, aber man tut's nicht,« sagte Max Ilscher trocken.
Da fingen die Frauen aber mit an zu schreien und zu protestieren. Von was denn sparen, bei vier Mark täglich oder auch fünf, wenn's hoch kommt sechs –?
»Wenn ihr nun aber drei Mark fünfzig oder vier fünfzig hättet, müßtet ihr auch auskommen –«
»Fatzke,« rief Frau Wagner zornig. »Sparst du etwa bei deine sechs Mark pro Tag?« Und die andern fielen ein und redeten und schrien durcheinander, Männer und Frauen, daß das ganz undenkbar ist, die Miete und Essen und Kleidung und Feuerung und Schuhzeug und Beleuchtung, und die teuren Fleischpreise und noch sparen – –
»Es gibt aber genug, die noch weniger haben und müssen auch auskommen –«
»Wenn sie Hundefutter fressen und wie die Füchse kampieren – –«
»Gar nicht nötig. Wenn sie vier Tage in der Woche vegetarisch leben und nur dreimal Fleisch essen.«
»Müssen wir sowieso bei den Preisen –«
»Wenn wenigstens die Arbeit gerecht bewertet würde,« rief der Schwager Maurer und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser hopsten. »Sieh mal, das is, was mich immer fuchst, wenn ich darüber nachdenke.
Da schuftet man auf 'n Bau wie 'n Pferd, und die Handlanger[209] erst – – ich kann euch versichern, so 'n Kerl weiß abends wo er seine Knochen zusammensucht, und ist keine Stunde seines Lebens sicher, oben auf dem Gerüst, so zwischen Himmel und Erde bei die schwere Hantierung und da geht unten so 'n Baumeister einher und macht keinen Finger krumm und tut nichts als kommandieren und kriegt das Doppelte und noch mehr, wie wir, das is 'ne Schande – un wird nischt gerechnet, man is nich mehr wie 'n Tier, wie 'ne Null, wie ne Dreckschaufel. Arbeite, Kerl! Und halt's Maul un damit Punktum ...«
»Jawohl, und in dieser letzten Tatsache liegt der Kernpunkt und das, was der richtige Sozialdemokrat abgeschafft und geändert haben will,« sagte Max Ilscher. »Wir denkende Sozialisten sind durchschnittlich gar nicht solche Materialisten, als wie uns die byzantinische Presse hinstellen möchte. Wir sind eher Idealisten. Jedenfalls mehr Idealisten als die Bourgoisie mit ihrer geilen Moralphilosophie. Gewiß, wir wollen auch nach außen hin gern unsere Lage aufbessern, aber in erster Linie streben wir doch mehr abstraktere Dinge an. Wir wollen vor allem uns Achtung und Geltung verschaffen. Wir wollen nicht mehr der vierte Stand sein und von oben herab als minderwertige Kreaturen kampieren und wie Menschen vierter Ordnung behandelt werden. Was ist heute der Arbeiter? Nichts. Hinz und Kunz, die vor einem grünschnäbeligen Schreiber den Hut ziehen, und vor einem Jüngelchen mit blanken Knöppen und Epauletten zusammenknicken wie 'n Taschenmesser, halten es kaum der Mühe wert, den Gruß des Arbeiters mit einem Ticken an den Hutrand zu erwidern. Das sind unwürdige Zustände. Drüben in Amerika ist der Arbeiter, sofern er sich anständig beträgt, ein Gentleman wie jeder andere und als solcher geschätzt und geachtet. Warum kann es bei uns nicht ebenso sein? Was sollte aus einem[210] Staate, bei dem der arbeitende Stand ausgeschaltet wäre, wohl werden. Wir sind in unserer Gesamtheit das Fundament des Staates, wenn das Fundament schwankt, wackelt der Bau. Gut, mag er stürzen. Wenn man sich nur beim Wiederaufbau der Tatsache entsinnt, daß das Fundament da ist, um zu tragen und stützen, nicht um mit Füßen getreten zu werden –«
Die Männer nickten, aber ich glaube, sie hatten den Sinn nur halb verstanden. Die Kinder hatten inzwischen draußen in der Küche auch Grog getrunken und vollführten einen Heidenspektakel. Die Kleine von Ilscher kam mit hochroten Bäckchen hereingesaust und trieb allerhand Allotria. »Sie soll mal singen! Lulu soll was vortragen,« rief die alte Lehmann.
Und Lulu kletterte aufs Sopha und fing mit ihrer dünnen schrillen Kinderstimme das schöne Lied vom Manzanares aus Durchlaucht Radieschen an zu gröhlen:
Als ich eines Abends in der Bodega saß,
Und zum Malaga vergnügt 'ne Portion Kaviar aß,
Rauschte keck mit einem Mal, eine Dame ins Lokal,
Rotblond war ihr voller Schöpf, heiß stieg mir das Blut zu Kopf ...
Diese Dame setzte sich an meine Seite keck,
Trank mir meinen Wein und aß mir meinen Kaviar weg, usw.
Ich muß sagen, ich kann gewiß einen Posten vertragen, aber dieses freche Lied von der kleinen Lulu gesungen, wirkte furchtbar auf mich, direkt nervenzerreißend. Und wie sie es sang, genau so, wie sie es gehört hatte, jede zweideutige, zotige Stelle dreimal unterstrichen, wie eine dirnenhafte Bänkelsängerin in einem Tingeltangel der Chausseestraße und niemand außer dem Vater, der ihr zurief, sie soll aufhören, empfand die Schmach dieser Zote aus dem einfältigen Kindermund, die andern brüllten vor Lachen, aber Lulu hatte doch[211] genug Respekt vor dem Vater um abzubrechen, und das etwas harmlosere, wenn auch nicht gerade ganz kindliche Couplet aus »Berliner Luft«, »Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe« anzustimmen, das sie tadellos vom ersten bis zum letzten Vers herunterleierte.
Dem Werkmeister neben dem Fräulein Lehmann wurde offenbar auch heiß vom Rohgeist des stark spirituellen Getränkes und er fing an, deutlicher und in läppischer Manier seiner Nachbarin den Hof zu machen.
»'s geht doch nix über so 'n bißchen Familjenleben,« sagte er und gurrte wie 'n brünstiger Täuberich, was sich zum Schießen komisch ausnahm. »Mit meine zweihundertvierzig Mark in 'n Monat steh' ich mich besser als 'n Schulmeister, oder sonst 'n kleiner Beamter. Ich hab mich auch 'n netten Batzen gespart, über sechshundert Mark. Meine Frau kriegt es mal nicht schlecht bei mich – Was meinen Sie, Fräulein Ida – ob ich wohl bei einer anklopfen könnte.«
»Es kommt drauf an, aus welchen Verhältnissen Sie Ihre Frau holen, und welche Ansprüche sie macht,« versetzte Ida schnippisch.
»Wieso?!« sagte der Werkmeister, »natürlich werd' ich mir 'ne Frau aus mei'm Stand nehmen, eine, die zu mir paßt, und keine von Adel – –«
»Ida meint, es kommt druff an, welches Verhältnis Ihre Zukünftige hat,« rief die Maurerfrau anzüglich. Sie und Ilschers Schwägerin scheinen wie Feuer und Wasser zu stehen.
»Verhältnis?« sagte der Werkmeister verblüfft.
»Nu ja, es gibt so 'ne und solche – Was meenste Ida? –«
»Ich?« sagte das Fräulein und warf den Kopf in den Nacken. »Ich würde natürlich kehlen Arbeiter heiraten und mit zweihundertvierzig Mark monatlich wüßte ich mich nicht einzurichten –«[212]
»Na du! Sei man nich so!« meinte die Maurerfrau. »Wenn dich eener wollte –«
»Hoho! Meine Dochter hat schon 'n Stücker fünf Heiratskandidaten abgewimmelt,« rief die alte Lehmann. »Ick rate ihr ooch ab. Wozu? Wenn sie sich doch nich verbessern kann – heruntersteigen, un sich verschlechtern, wär sie 'n Narr. Wo sie jetzt dreihundert Mark kriegt und ganz vor sich alleene und keinen Finger in kalt Wasser, – und zum Frühjahr mietet er 'ne Wohnung mit Dampfheizung und Warmwasser und elektrisch Licht –«
»Ja, bloß 'n verfluchter Unterschied, ob sie 'ne ehrliche Arbeiterfrau is, die den Kopf gerade halten kann, oder 'ne ausgehaltene Schnepfe, der jedermann auf die Schleppe spuckt, und die die Augen nieder schlagen muß, vor 'n ordentlichen Menschen –«
Ida fuhr auf: »Was sagst du?« Und die Alte kreischte: »Meine Dochter willste beleidigen? Meine Dochter, was 'ne gebildete Dame is, und 'n Bräutigam hat, der ihr dreihundert Mark in 'n Monat gibt –«
Der Werkmeister pfiff durch die Zähne: »Oho! Aha! Dann kann man freilich nich an dippen. Dreihundert Meter – Donnerkeil nochmal – – Also 'n Breitjam mit Lackstiebeln –«
Ich kann den übrigen Wortwechsel nicht mehr wörtlich wiedergeben, es war wie allemal, wenn diese Leute eins über den Durst getrunken haben, wo sie dann jeden Pfiff von Selbstdisziplin verlieren, und roh und ausfallend werden. Denn dem Werkmeister, der, wie ich nachher hörte, sich schon länger um Ida Lehmann bemüht haben soll, war die unzweideutige Abweisung mächtig in den Kamm gefahren und seine ganze gurrende Täuberichzärtlichkeit verwandelte sich in einen rotwütigen Hahnenkoller. Von der Küche her drang Kindergeschrei und ich stand auf, um nach dem kleinen Volk zu gucken, und[213] ich hörte im Hinausgehen, daß Max Ilscher energisch für seine Schwägerin eintrat, und sie gegen die hämischen Sticheleien in Schutz nahm. »Die Privatverhältnisse meiner Schwägerin gehen Sie gar nichts an, Ruchvogel!« sagte er. »Jeder mag tun und lassen, was er für sich gut befindet. Ihnen hat Fräulein Lehmann sicher keine Rechenschaft abzulegen – –«
In der Küche standen die Jungen etwas vertattert um die kleine Lulu, die sich vorhin erbrochen hatte, und nun buchstäblich zusammengeknickt war. Ich nahm den kleinen Wurm auf meinen Schoß; sie war kreideweiß und schlotterte und kuschelte den kleinen, flachshaarigen Kopf an mich wie ein kleiner schläfriger Vogel.
»Wie heißt du denn?« stotterte sie.
»Tante Mieze, Mäuschen.«
»Na, dann halt mich man feste, Tante Mieze, ich fall, ich fall –«
»Nein, du bist bloß 'n bissel schwindlig, Lulumaus,« sagte ich. »Du fällst nicht, ich will dich schon festhalten.«
Frau Wagner kam auch herein und schimpfte auf ihr großes Mädchen, daß sie die Kinder nicht besser beaufsichtigt hatte, und setzte sich dann auf die Eimerbank und fing wieder an zu lamentieren. Vor vierzehn Tagen hatte sie ihre Uhr versetzt, und die Woche darauf ihre vier besten Tischtücher und ihren schwarzen Velvetrock, diese Woche kam der Sonntagsanzug von ihrem Mann an die Reihe ... Wie lange wird's dauern bis wir die Betten versetzen und auf Stroh schlafen müssen. Diese verfluchten Mannsleute mit ihren Streikereien ...
Ich hörte kaum nur die Hälfte von ihrem Wortschwall, denn das kleine, federleichte Kind an meiner Brust zog meine Gedanken ab und in eine andere Richtung. In der Dämmerung der uns von einer rötlich schwelenden Petroleumlampe erhellten Küche sah das[214] winzige, feinzügige Gesichtchen wie ein Gebilde aus Wachs aus. Das ganze Geschöpfchen ist in seiner libellenhaften, zerbrechlichen Zierlichkeit eine Puppe. Ach, ich liebe Kinder so leidenschaftlich. Ich wäre so glücklich, wenn ich ein Kind hätte. Aber ich werde selber wohl nie eins haben, denn wenn mir eins vom Schicksal bestimmt wäre, hätte ich's wohl schon lange, ich habe mich nie dagegen gewehrt. Aber das ist mein Wunsch und mein Wille: Wenn ich mir mal genug gespart habe, um mich selbständig machen zu können, hol ich mir solch ein kleines Wesen und zieh's mir auf. Und ich zieh's zum Guten; mein Kind soll die Lüge verabscheuen lernen, und soll nichts Gemeines, Anstößiges hören und sehen, und soll nichts von Schlägen und Schimpfworten wissen. Mit sich selbst und für sich selbst kann man machen, was man will, aber wenn einem ein solches unschuldiges Kind anvertraut ist, halte ich es für eine Gewissenssache, daß man in die kleine weiße Seelenschale nur das hineinlegt, was zum Glück und Frieden des künftigen Menschen dienlich ist, und das ist am letzten Ende doch nur das Gute, Reine, Rechte. Ich bin gewiß weit von Sentimentalität entfernt, aber ein kleines Kind stimmt mich immer weich. Ich denke dann an meine eigne trübe Kindheit. Im Grunde ist die arme kleine Lu trotz der unechten Korallen und der schreibunten Fetzen, mit denen sie sie verscheusalt haben, und obgleich sie gutes Essen und ihre Ordnung kriegt, nicht sogar viel besser dran wie ich es war.
Die Ida kam zornrot und weinend in die Küche gebremst. »Wenn ich das geahnt hätte, daß ich mich hier beschimpfen lassen muß, wäre ich nicht gekommen,« schluchzte sie, »aber das hat man davon, wenn man sich in solche Gesellschaft begibt. Ich bin ja nur Maxens wegen hergekommen, damit er nich hernach sagt, ich halt mich zu gut für seine Familie –«[215]
»Na du! Nu halt man die Luft an,« sagte die Wagner pikiert, »von wegen dessen. Wenn wir uns nich zu gut vor dir halten, mein Kind – Was du bist, sind wir noch alle Tage. Un dadrin hat Lene recht: wenn Ruchvogel dich haben will, tätest du klug, mit allen zehn Fingern zuzulangen –«
Die beiden Weiber kabbelten und keiften noch eine Weile miteinander; währenddem riß die alte Lehmann mir das Kind vom Schoß und zwängte das schlaftrunkene Dingelchen in seinen Mantel. Zehn Minuten weiter standen wir zu sieben auf dem Spittelmarkt und warteten auf die Elektrische. Ilscher beförderte zuerst seine Schwiegermutter, Schwägerin und die Kleine in einen Wagen.
»Adieu, Tante Mieze, auf Wiedersehn,« rief Lulu. Dann kam der Wagen, den die alte Frau Ilscher und den Jungen aufnahm. Dann gingen wir weiter.
»Na, da haben Sie ja heute abend die ganze heilige Familie gleich beieinander kennen gelernt,« sagte Ilscher. »Wie gefällt Ihnen mein kleines Mädchen?«
»Sie ist sehr niedlich,« sagte ich.
»Lulu ist mein Liebling,« sagte er. »Ich hänge unendlich an dem Kind, mehr wie an dem Jungen, sie ist ganz das Ebenbild ihrer Mutter, die im Wochenbett von ihr starb. Die war auch so'n kleiner Irrwisch, gerade so 'ne Hand voll, mit der man hätte Ball spielen können. Wenn ich sie nur da fort hätte, wenn mir nur jemand einen Rat wüßte, wie ich sie da weg und anderswo ordentlich unterbringe ...«
Ich sagte, daß ich die Tante Ida allerdings auch nicht gerade für eine vorzügliche Erzieherin halte. –
»Ach, der gebe ich noch am wenigsten schuld,« erwiderte er. »Der Mensch ist immer nur das, wozu er gemacht wird. Die Mutter ist der Satan, die ihre Kinder systematisch zu Dirnen abrichtet. Meine Frau[216] war siebzehn Jahre alt als wir heirateten, sie ging in die Fabrik und der Mutter war es nichts weniger als recht, als sie mich kennen lernte und mich nahm. Die hatte von vornherein andere Pläne mit ihren hübschen Töchtern, sie sollten ihr die Renten für ein bequemes, sorgenfreies Alter verschaffen. Bei meiner Lisel glückte ihr das nun nicht, wäre ihr ohnehin schwer gefallen, denn die inklinierte nicht nach dieser Seite, aber dennoch – wer weiß – sie war auch wiederum sehr willensschwach und Einflüssen zugänglich. Die Ida hat die Alte von vornherein darauf dressiert, die war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als die Mutter sie schon nach Halensee und Grünau auf die Tanzböden führte, und seitdem hatte sie immer Kavaliere an der Hand, die ihr Geschenke machten und sie besuchten, bis sie sich dann das ›feste Verhältnis‹ ankaperte ...«
Hier machte er eine kleine Pause und nahm den Hut ab und fuhr mit dem Taschentuch über die Stirn, und es schien mir, als ob er einen Seufzer verschluckte.
»Jawohl,« fuhr er fort, »und was wird aus meinem armen kleinen Mädel, wenn sie da bleibt?! Mit fünfzehn Jahren ist sie dasselbe wie ihre Tante Ida. Sie hört und sieht ja nichts anderes. Diese Megäre, das schlechte alte Weib richtet das unschuldige Kind ja förmlich dazu ab – – abgesehen davon, daß Mutter und Tochter in fortwährender Zwietracht leben und die wüstesten Schimpfworte den ganzen Tag hin und her fliegen, die das Kind ja natürlich alle anhört und auffängt, ist – wenn schon mal Einigkeit herrscht, von nichts anderem als von Gemeinheiten die Rede. Und ich muß das leiden – – Muß es leiden, und stillschweigend zu sehen wie mein armes kleines Mädchen moralisch und seelisch zugrunde gerichtet wird, und kann nur die Hand in der Tasche ballen und habe nicht die Macht, es den Weibern zu entreißen –«[217]
»Nanu?« sagte ich, »Sie nicht, als der Vater? Das wär ja noch mal schöner. Nach meiner Ansicht haben Sie nicht nur die Macht und das Recht, sondern ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Ihr Kind unter diesen Umständen in eine gesündere Atmosphäre zu bringen –«
»Ja, Sie haben gut reden, Fräulein Mieze,« sagte Ilscher gedrückt. »Müssen und sollen – – aber erst können vor Lachen. Wegholen kann ich sie da schon, aber wohin sie bringen? Meine alte Mutter hat genug mit dem Jungen zu tun, und da käme Lulu auch vom Regen in die Traufe. Dem Kind haftet schon viel zu viel von der Dreckluft da an; um das fest und energisch, aber nicht gewaltsam von ihr abzustreifen, müssen schon zwei weiche, zielbewußte Frauenhände zugreifen, die alten, zittrigen einer fünfundsiebzigjährigen Greisin bringen das nicht zuwege. Wo aber sonst hin mit ihr? Heiraten? Gewiß. Aber was dann mit meiner alten Mutter, die ganz von mir abhängt, anfangen? Meiner zweiten Frau mit den beiden Kindern auch noch eine alte, manchmal etwas sehr kniffliche Schwiegermutter mit in die Ehe bringen? Und mit sechs Mark pro Tag zwei Haushaltungen unterhalten? Dies ist so und das so, ich habe schon viel hin und her überlegt, aber ich weiß keinen Ausweg.«
»Sie haben ja vorhin den Frauen vorgerechnet, wie man mit noch weniger sparen kann und muß,« sagte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Wenn meine Frau heute noch lebte, hätten wir es geschafft und für meine alte Mutter auch noch Rat gewußt, aber so ist die Karre verfahren. Wenn ich mich zu einer zweiten Heirat entschließe, würde ich meiner Frau doch gerade keine Proletarierexistenz bieten wollen. Ach ja, das leidige Geld. Wenn man es hat, macht es nicht glücklich, aber wenn man es nicht hat, rennt man[218] sich an dem Manko den Schädel ein. Und da wundern sich die Leute, wenn unsereins Anarchist wird ... was ich nun übrigens doch nicht bin, dazu bin ich im Grunde doch zu ruhig und besonnen – – Ja – – ja –« er seufzte ein bißchen, »wer weiß? Vielleicht gewinn' ich noch mal das große Los oder mach eine Erfindung, die mir eine Summe einbringt – wenn's auch nur sechs- oder siebentausend Mark wären. Dann würde ich mir irgendein Geschäft kaufen, ja dann wollt' ich wissen, was ich täte – und dann – dann käm' ich zu Ihnen, Mieze, und bät' Sie, meine Frau und Lulus Mutter zu werden –«
»Sie würden an mir nicht viel haben,« sagte ich. Aber er meinte, das wüßte er besser. Er kenne sich schon aus in den Menschen, die er gern hätte, und wenn er die Kinder nicht gehabt hätte und noch ein lediger Mann wäre, würde er schon auf den allerersten Eindruck hin mir einen Heiratsantrag gemacht haben.
Ich antwortete nicht viel darauf, aber der gestrige Abend mit seinem Drum und Dran geht mir noch heute den ganzen geschlagenen Tag im Kopf herum. Und ich muß dabei an mein Sparkassenbuch, das nun schon einen Ansatz auf das neunte Tausend bekommen hat, denken, und daß es genügen würde, uns eine ganz selbständige Existenz zu gründen, und daß ich Max Ilscher mit seiner kleinen, süßen, nichtsnutzigen Lulu dann heiraten könnte.
Ach – ist ja Dummheit und Unsinn und es fällt mir nicht im Traum ein, mir solche Mucken in den Kopf zu setzen. Das arme kleine Mädelchen tut mir nur so furchtbar leid. Und wenn man's bedenkt, daß man's eigentlich in der Hand hat, ein so junges Menschenleben vielleicht in Bahnen zu lenken, die es zum Glück und zum Frieden führen, während es sich so, Gott weiß wohin, verliert – – Lieber Gott, ich denke viel zu viel an die Beiden. Ich möchte die kleine Lulu heiraten. Ich liebe sie noch mehr als ihren Vater. Männer gibt es[219] so viel in der Welt, aber ein fertiges Kind findet man nicht jeden Tag auf der Straße.
Still. Mieze ... Nur keine Sentiments. Das Sparkassenbuch ist doch das einzig Wahre.
* * *
Ich habe gestern gekündigt. Ich kann mich nicht mit dem Oberkellner vertragen. Immer hat er was zu querulieren. Dieser Schafskopp, der vom hellichten Tag ab nichts weiß. Es kam nun – – ach was, diese dämlichen Details alle zu notieren, ist ja zu langweilig. Ich hab mich durchschnittlich immer leidlich gut mit den männlichen Kollegen gestanden; sonst im allgemeinen herrschen keine solidarischen Gefühle zwischen Kellnern und Kellnerinnen. Wo sie zusammen arbeiten, sind sie – soweit sich keine Verhältnisse aus der gemeinsamen Wirksamkeit entwickeln – meist direkt verfeindet. Woher das kommt, kann ich nicht belegen. Es ist eine feststehende Erscheinung in der Naturgeschichte unseres Berufes wie die sprichwörtliche Feindschaft zwischen Katzen und Hunden.
Ich habe mir vorgenommen, hier nur Tatsachen zu konstatieren und deshalb will ich mich nicht von meinen persönlichen Empfindungen zu Ungerechtigkeiten hinreißen lassen. Es gibt unter den Kellnern eine große Menge von wirklich tüchtigen und ehrenwerten Leuten, die sich in verhältnismäßig kurzer Zeit zu achtbaren, sozialen Stellungen aufschwingen. Ich kenne eine ganze Reihe solcher ehemaliger Kellner, die von Haus aus keinen Pfennig Vermögen hatten und die heute gutsituierte Restaurateure und Hotelbesitzer sind, die sich buchstäblich durch Fleiß, Intelligenz und Energie heraufgearbeitet haben. Dabei muß ich besonders an den kleinen Ludwig Schmid denken, den ich damals auf der Ausstellung[220] kennen lernte. Er war in einer altberliner Weißbierstube und hätte sich zu gern an mich herangepirscht, aber ich mochte ihn nicht. Ich habe nie etwas für diese schmächtigen, brünetten Kerlchen mit dem Zigeunertyp übrig gehabt. Sein Vater war Bürstenbinder in einer kleinen, österreichischen Stadt und er hatte einen Haufen jüngerer Geschwister, und er erzählte mir immer treuherzig von seiner Familie, die er tapfer unterstützte. Gegen das Ende der Ausstellung machte er mir eine Liebeserklärung, aber ich mußte ihn – wegen Mangels an gegenseitigen Gefühlen – abweisen. Nachher hat mich's alsmal gereut, denn der Kleine hat überraschend schnell Karriere gemacht, wurde Oberkellner im Zentralhotel und nachher im Kaiserhof und ist heute Besitzer eines der vornehmsten Weinrestaurants des Westens. Ich bin ihm mehreremal begegnet, und er ist immer noch sehr freundlich zu mir, und ich glaube, wenn ich mich um eine Stelle als Büfettiere bei ihm bewürbe, würde er mich sofort annehmen. Aber das widersteht mir nun doch. Er hat übrigens ein armes Mädchen, eine kalte Mamsell vom Schultheiß, geheiratet.
Ja, gewiß sind viele ordentliche Leute unter den Kellnern, aber auch eine ganze Masse ausgeknobelter Spitzbuben, d.h. sie wären natürlich arg verwundert und beleidigt, wenn man ihnen das ins Gesicht sagte. Ich möchte sagen, der Durchschnittskellner hat seine eigene Moral, es geht ihm genau wie dem Kartenspieler, der das Bemogeln beileibe nicht mit Betrügen identisch hält, wenn ihm z.B. der Gast, der fünfundzwanzig Mark Zechrechnung bezahlt, zwei Zwanzigmarkstücke gibt und in Gedanken sagt: Geben Sie mir zwei Mark heraus, so wird er – der Durchschnittskellner – sich kaum bemüßigt fühlen, den Gast darauf aufmerksam zu machen, daß wahrscheinlich ein Irrtum vorliegt, da die Höhe des Trinkgeldes in keinem Verhältnis zu der Zeche oder vielmehr umgekehrt steht; er wird vielmehr schmunzelnd[221] das Zehnmarkstück in die Westentasche stecken. In dieser Hinsicht halte ich doch noch mehr von den Kellnerinnen. Sie sind durch die Bank reeller. Dies ist keine Überhebung (weil ich doch selbst zur Zunft gehöre), es ist eine Tatsache, die mir eine jahrelange Beobachtung bestätigte. Ich habe immer objektiv beobachtet und mein Urteil nie von Voreingenommenheiten trüben lassen.
Also jetzt heißt es, sich nach einer neuen Stelle umtun. Ich habe gar nicht recht Lust. Komisch, sonst war mir ein Platzwechsel immer interessant. Aber man wird ja wohl nachgerade alt und bequem und konservativer in seinen Gewohnheiten.
* * *
Ich habe in den letzten Tagen eingehender über meine Zukunft nachgedacht. Ich hätte eigentlich Lust, mal selber wieder was anzupacken. Aber kein Büfett, sondern was richtiges Eigenes. Das Zeug hätte ich schon dazu. Die Erfahrungen und das Geschick und für den Anfang auch die Mittel. Natürlich müßte ich einen Kapitalisten hinter mir haben. Ich dachte dabei zuerst an den alten Teescher, der in Hypotheken macht und der seine Nase überall dabei hat, wo in einer soliden Sache anständige Zinsen herauslangen. Er hat immer ein kleines Faible für mich gehabt, und ist mir überall nachgefolgt, auch hier trinkt er noch hin und wieder einen Schwarzen nachmittags bei uns und schwatzt ein Weilchen mit mir. Früher ließ er mal eine Bemerkung dieser Art fallen: »Sie gäben eine tüchtige Geschäftsfrau, Fräulein Mieze. Sie sollten sich mal um ein Lokal bemühen.« Damals hatte ich noch keine Lust, von der Ausstellung her saß mir noch der Schreck in den Knochen. Aber jetzt hätte ich Courage. Mein Gott, man ist in der Zeit auch um Jahre älter geworden und hat inzwischen Augen und Ohren[222] offen gehalten; ich will mich schon vorsehen und vor allem dafür einstehen, daß die Leute, die mir ihr Geld anvertrauen, keinen Pfennig Schaden leiden. Das weiß der alte Teescher auch und ich glaube, er würde auch gern bereit sein, mir ein paar Tausend Meter einzuschießen.
Aber nun habe ich ihn wahrscheinlich nicht mal nötig, denn gestern war mein Onkel Lautbach wieder hier und da sagte ich ihm so und so, daß ich doch lieber was Eigenes haben möchte, als mich abermals in eine abhängige Stellung begeben, wenn sie auch noch so glänzend bezahlt würde. Und das schien ihm ganz recht, denn er hat sein Projekt offenbar schon wieder in den Schornstein gehängt und tüftelt an neuen, welterschütternden Plänen. Er sagt, er hätte sich das Romanische Haus an der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche angesehen und gedacht, daß das Parterre sich für ein Restaurant eigne, sei aber doch davon abgekommen. Das ist, meines Erachtens nach, auch richtig, denn die Gegend da draußen am Zoo, so vornehm sie im übrigen sein mag, eignet sich doch nicht für 'n Restaurant großen Stils; sie ist zu abgelegen von den Theatern und Vergnügungslokalen. Wie wir nun so hin und her sprachen und ich die Bemerkung fallen ließ, daß es mir nur noch an dem erforderlichen Kapital für was Ordentliches fehlte, sagte er sofort: »Aber Fräulein Mieze, dafür bin ich doch da, und wenn ich auch andere Dinge im Kopf und im Auge habe, bin ich doch nicht abgeneigt, auch als stiller Kompagnon an Ihrem Unternehmen mich zu beteiligen. Wenn wir nur erst wissen wie und wo – das übrige werde ich schon befummeln. Ich will sogar mit ins Risiko treten –«
»Nein, nein,« sagte ich, »dann kommen Sie nachher und reden mir drein und machen mir Vorschriften und dann bin ich doch schließlich nur Ihre erste Angestellte.[223] Ich will aber alles nach meinem Gusto und nach meinen Ideen machen und keine andere Verpflichtung auf mich nehmen, als daß ich für das geliehene Kapital prompt meine fünf Prozent Zinsen bezahle ...«
Herr Lautbach lachte. »Ganz richtig, Fräulein Mieze! Selbst ist der Mann und stolz lieb ich den Spanier. So war's auch nicht gemeint. Andrerseits sollten Sie den Rat und die Stütze eines alten ausgekochten und mit allen Hunden gehetzten Praktikers, wie ich einer bin, auch nicht gering achten. Ich will mich aller Einrede enthalten, aber gerade weil ich das Vertrauen zu Ihnen habe, daß Sie Ihre Sache machen, möchte ich mich aktiv beteiligen. Überlegen Sie sich das mal.«
Ich versprach, mir es richtig zu überlegen und wenn ich es richtig bedenke, ist der Vorschlag nicht mal so übel. Lautbach sagt mir, daß er das Geld zu jeder Stunde flüssig hätte, seine Zukünftige – Donnerstag über vierzehn Tagen heiraten sie – hat ihm schon vierzigtausend Mark für seine geschäftlichen Unternehmungen bar übergeben. So 'n Rhinozeros! Ich meine natürlich die alte Schraube, weil sie sie gibt, nicht meinen Freund, daß er sie – das heißt die vierzigtausend – nimmt. Hat das Weib 'n Sauglück, daß sie so 'n ehrlichen Menschen findet wie Onkel Lautbach. Ich meine so, wenn's umgekehrt gewesen wäre, könnte man die Frau nicht bedauern, denn solche Vertrauensseligkeit oder vielmehr solche Dummheit verdient ihre Strafe, das heißt ja einen Menschen direkt in Versuchung führen. Gott behüte mich.
Ich werde mich jetzt mal nach einem geeigneten Lokal umsehen. Am liebsten mache ich ein ganz neues Ding auf. Die Konzession krieg ich als unbescholtene Person ohne Schwierigkeit. Gott sei Dank, daß man sich wenigstens noch seine offizielle Tugend heilgehalten hat; sowas lohnt sich immer. Dem Ilscher sag ich aber noch[224] nichts von meinem Vorhaben. Der wird schön gucken. Aber daß er mich heiraten würde, so wie ich da bin und stehe, hat mich doch gerührt.
Aber ich danke für Obst, ich mag nicht heiraten – so gut mir der Mann auch sonst gefällt.
* * *
Wie ich Donnerstag abend nach Haus kam, sagte meine Wirtin mir, daß eine Dame dagewesen sei, die mich sprechen wollte, eine sehr feine Dame, und eine Karte hatte sie auch dagelassen. Ich war natürlich neugierig wie 'ne Ziege, und obgleich sie die Karte weggekramt hatte und eine Stunde suchen mußte, wich ich nicht, bis ich sie hatte.
»Frau Elsa Merkmann«, und darunter mit Blei: »Gruß und Kuß! Auf morgen Wiedersehen. Savoy-Hotel.« Meine Freude war unbeschreiblich. Denn diese Elsabe oder Sabel, wie sie immer genannt wurde, und von der ich noch gar nichts geschrieben habe, war zur Zeit meine allerbeste, intimste Freundin. Sie war mit mir Stewardesse auf dem Ozeandampfer, mit dem ich derzeit fuhr, wir vertrugen uns wie Schwestern, und wir haben manchen Abend zusammen auf Deck gesessen und uns beim Rauschen der Ozeanwogen und dem Blinkern des Sternhimmels von unseren Erlebnissen und Erfahrungen erzählt. Sabel war auf der Chicagoer Ausstellung 94 in einem Restaurant angestellt gewesen und hatte sich ein hübsches Stück Geld verdient, aber dann hatte sie das Unglück, sich in einen deutschen Tanzlehrer zu verlieben und der hat es natürlich glücklich fertig gebracht, das sauer verdiente Geld seiner Geliebten in ein paar Monaten zu verpulvern. Sie ist geborene Sächsin, ein liebes, liebes Ding, von hochanständiger Gesinnung und freien, aber soliden Grundsätzen. Sie hat dieselbe[225] Weltanschauung wie ich, sie ist nicht wie die meisten unseres Standes, die so dumm und tranig in den Tag hinein leben, nur wie Maschinen im Leben stehen, die mechanisch ihre Arbeit verrichten und ihren Instinkten folgen, ohne den Akkumulator eines eigenen Gedankenlebens. Als ihr Bräutigam, der windige Tanzlehrer, mit dem Rest ihres Geldes auf und davon war, weinte sie ihm nicht lange nach, sondern nahm flugs eine neue Stelle, und als ich an Land ging, ging sie mit und machte auch mit nach Berlin. Ich wollte sie für mein Büfett haben, aber das lehnte sie mit ganz vernünftiger Begründung ab.
»Siehste Mieze,« sagte sie, »du hast das Kapital, und ich habe nichts. Ich bin immerhin bei dir in Stellung und das tut nicht gut. Nicht so als ob es wider meinen Stolz ginge, mich dir unterzuordnen, aber ich fürchte durch dieses Verhältnis könnte unsere Freundschaft sich verschnupfen ...« Und recht hatte sie. So ist sie denn als Büfettdame in eine American Bar gegangen, aber es sagte ihr nicht lange zu, sie sagte, die Berliner wären ihr zu wüst, und dann ist sie wieder nach drüben. Auf der Überfahrt lernte sie einen New Yorker Hotelier kennen, 'n Mann von sechzig, aber wie sie ihn schildert, sehr sympathisch, und den hat sie geheiratet. Er hat ein paar erwachsene Kinder, aber das Familienleben scheint trotzdem ein nettes, harmonisches. Dadrin sind die Amerikaner ja viel anders als die Deutschen, viel großzügiger, nicht so kleinlich und engherzig wie hier. Sabel und ich haben immer korrespondiert und sie schrieb schon vor längerer Zeit, daß sie zum Winter vielleicht mit ihrem Mann nach Deutschland und nach Berlin käme. Ich konnte vor Freude die Nacht kaum schlafen. Wenn es nicht so spät gewesen wäre, würde ich noch zu ihr ins Savoy-Hotel gerannt sein. Na, aber am andern Tag – vorgestern – gleich nach Schluß und nicht zu knapp ... Gott, war das eine Freude. Wir weinten[226] und lachten gleichzeitig und konnten nicht fertig werden mit Küssen und Umarmen. Ach, ist die Sabel süß, noch viel hübscher als früher geworden und so echt amerikanischer Schick, all right von Kopf zu Füßen. Der Mann ist sehr nett, und ich verstehe, daß Sabel ihn liebt und sich glücklich bei ihm fühlt. Der Sohn, der wohl noch ein wenig älter als seine Stiefmutter ist, und die Schwiegertochter sind auch mit hier; auch nette, freundliche Leute. Wir hatten einander natürlich viel zu erzählen, meine Freundin und ich. Sabel meint, ob ich nicht wieder nach drüben käme, ich könnte bei ihnen wohnen, so lang ich wollte, und ihr Mann würde mir mit Rat und Tat zur Hand gehen. Aber ich sagte ihr, daß ich nicht mehr viel Lust zum Auswandern habe, und mich höchst wahrscheinlich demnächst hier etabliere. Ja, und dann kamen wir auf dies und das zu sprechen, und auch auf ehemalige Kolleginnen. Mich interessierte besonders, was Sabel von der Gertrud Batzke erzählte. Nämlich die war damals auf der Ausstellung 96 Kellnerin bei mir und hatte sich dadurch der Sabel angefreundet und die beiden haben nachher auch noch immer geschrieben, während die Gertrud mir gänzlich aus dem Auge gekommen ist. Sie bändelte damals bei mir mit einem alten, schwerreichen Herrn an, der sie nachher ganz aushielt. Mehlert hieß er und wir nannten ihn den Mehlwurm, weil er so klein und so dick war wie genudelt. Nun erzählte Sabel mir, daß dieser Mehlert die Gertrud nach dem Tode seiner Frau geheiratet hat, und daß er geadelt ist, und sie sich im vorigen Jahre eine schloßartige Villa in Karlshorst gebaut haben. Sie waren auch schon draußen, und es war zu ulkig wie Sabel es schilderte, wie majestätisch die Gertrud sich als Frau von Mehlert ausnimmt. Sie war übrigens sehr gutmütig und soll jetzt viel in Wohltätigkeit machen; ihr einziges Kreuz ist die erwachsene Stieftochter, anscheinend[227] eine ziemlich aufgeblasene Gans. Jawohl, und allerlei amüsante Details erzählte Sabel. Am Flügel haben sie ein Pionala, damit die »Kunst« im Hause ist, und am ulkigsten war das mit der Bibliothek. Nämlich wie die Bibliothek, die großartig schön ausgestattet sein soll, fertig war und die Bücherei hinein sollte, ist der Herr von Mehlert fast auf den Rücken gefallen, als es hieß, die Bücherei koste zwanzigtausend Mark. Das ging ihm doch über die Hutschnur und es wurde lange beraten was zu machen sei, und endlich erfand der Architekt einen Ausweg: es wurden lauter Attrappen angefertigt, die genau so aussahen wie Bücher und damit alle Schränke vollgestopft, und so stehen nun hinter den verschlossenen Glastüren, zu denen die Schlüssel immer »verlegt« sind, tausende von kostbaren – – Einbänden. Sabel will mich nächstens mal mit Gertrud zusammenbringen. Da bin ich ja gespannt.
Die Sabel ist nun fein heraus und eine feine, reiche Frau, aber trotzdem wurde sie ganz warm, als wir von früheren Zeiten sprachen und sagte einmal übers andere: »Es war doch schön, Mieze, schön war's doch damals, wenn man sich auch tüchtig quälen mußte ...«
Ja, natürlich war's schön und ist es schön, so das tägliche Schaffen und Ringen und Vorwärtsstreben, und wenn mir jemand heut ein großes Vermögen böte unter der Bedingung, daß ich meine Tage fortan in Müßiggang zubringen sollte, weiß Gott, ich tät mich bedenken. Das ist doch gerade der Reiz des Lebens, daß man immer was zu sorgen hat, immer einen Zweck, immer Ziele, denen man nachhastet ...
Es war ein gemütlicher Abend. Ich erzählte Sabel zuletzt auch von meiner schriftstellerischen Tätigkeit, wofür sie sich sehr interessierte. Na, ich wünschte ja nur, daß die Leute das Buch, wenn es gedruckt ist, auch lesen und mich dann kennen zu lernen wünschen, was eine[228] große Reklame für mein Lokal aus machen würde. Nachher kann ich ihnen persönlich noch viel mehr erzählen. Über das Wiedersehen mit Sabel hatte ich in diesen Tagen alles andere, was mir sonst am Herzen liegt, vergessen.
* * *
Paula war vor ein paar Abenden mit ihrem Schatz hier bei mir im Lokal. Ich begrüßte das Paar und dann stellte sie mir den Doktor vor. Na ja, der Mann ist so wie ich ihn mir nach seinem Porträt verstellte: ein hübsches Kerlchen, patent und fesch – aber – ich weiß nicht – daß ich so ganz entzückt bin, könnte ich nicht sagen. Er hat so 'nen weichlichen Mund und die Augen – na – ich will nicht vorschnell urteilen, aber im allgemeinen täusche ich mich selten in Menschen. Wo lernt man so viele und so gut Menschen kennen als in der jahrelangen Beschäftigung im Restaurant. An der Art und Weise wie sie da sitzen und reden und sich geberden, ziehe ich meine – und selten trügende – Schlüsse auf ihren Charakter und ihre Lebensweise. Ein Mensch, der, wie der junge Doktor, keine Minute ruhig sitzt, immer mit den Händen umherwirtschaftet, jetzt mit dem Löffelchen spielt, dann wieder an seiner Dame herumtätschelt, zwischenhinein seine Nägel auf dem Tischtuch poliert, seinen Brillantring hin und her dreht, dann zur Abwechslung mit den Fingern Figuren auf den Tisch zeichnet und so hunderterlei Allotria mehr treibt, ist innerlich zerfahren und nervös und hat keine Beständigkeit. Ob dem sein Charakter zu einer befreienden Tat ausreicht, möchte ich bezweifeln. Natürlich hüte ich mich schwer, Paula derartige ketzerische Gedanken mitzuteilen. Ich wechselte nur wenige gleichgültige Worte mit beiden, aber nachher kam Paula nochmal selber zu mir ans Büfett und teilte mir mit, daß sie ihre Wohnung wechselt[229] und ein Quartier in der Charlottenstraße bezieht. Dabei ist ja nun nichts Besonderes, aber sie hatte etwas so merkwürdig Scheues, Gedrücktes dabei, als sie es sagte, was mich stutzig machte. Auch meine beiläufige Frage, aus welchem Grunde sie denn wechsle, machte sie offenbar verlegen. Ihr Bräutigam wünsche es, das andere Quartier in der Niederwallstraße sei so weit. Ich sagte nichts weiter, aber ich dachte mein Teil und notierte mir die neue Adresse und am andern Tag schickte ich unseren Groom, – nebenbei ein hervorragend pfiffiges und gerissenes Kerlchen! – auf Kundschaft aus, was denn das für eine Wirtin ist, zu der meine Paula zieht. Viel erfuhr ich ja nicht, aber doch etwas Interessantes, nämlich, daß der Herr Doktor auch bei dieser Wirtin ein Zimmer hat.
Meine kleine Paula – ich habe eine unbestimmte Angst in mir. Ich werde versuchen, ihr dieses Vorhaben auszureden, obgleich ich weiß, daß es ja ganz zwecklos ist. Aber ich habe seitdem eine wirkliche Wut auf den Doktor, ich kann mir nicht helfen, ich meine, diese Bekanntschaft wäre Paulas Verhängnis – – jedenfalls alles andere als ihr Glück.
Dann war ich wieder einen Sprung bei Wagners. Da sieht es trübe genug aus. Der Mann hat immer noch keine Arbeit, die Frau ist verbissen und bitter, weinerlich und zänkisch. Alle paar Tage wandert ein Stück aus dem Haushalt aufs Leihamt. Bis jetzt sind es noch relativ entbehrliche Sachen, aber wie lange wird es dauern bis auch notwendige Stücke denselben Weg wandern. Es ist ja wahr, was die Frau sagt, daß alles Unglück durch den Streik entstanden ist, aber – mein Gott – dagegen ist doch nichts zu machen. Einzelne Opfer bleiben bei jedem Kampf auf der Strecke, zu der Weite dieses Gesichtspunktes kann sich solch ein kleiner Spatzenkopf natürlich nicht aufschwingen. Freilich ist[230] es ja leicht Theorien zu predigen, wenn man selbst nichts da mang hat, aber ich glaube wirklich, ich dächte in solcher Lage doch anders. Jedenfalls würde ich im gleichen Fall nicht meinem Mann den Kopf mit Lamentos und Vorwürfen warm machen. Dabei schaut ja doch nichts heraus, als daß zu allem andern auch noch der häusliche Friede und die eheliche Liebe zum Teufel gehen. Die Wagnern beklagte sich auch, daß ihr Mann sie jetzt gegen seine sonstige Manier öfter grob und brutal behandele, – daß sie ihm aber mit ihrem ewigen Genörgel und Geseires dazu Ursache gibt, fällt ihr offenbar nicht im Traum ein. An dem Abend, wo ich da war, waren sie wieder ganz abgebrannt, und da sie mir wirklich leid tat, gab ich ihr zwölf Mark ... auf Pump aber natürlich als fond perdu. Da wurde sie etwas aufgekratzt und gesprächiger und erzählte unter anderm auch von ihrer Tochter, die bei der alten Rätin im Dienst ist. Es geht bis soweit ganz gut und sie mag gern da sein. Während wir noch von ihr sprachen, kam sie selber auf eine Stippvisite nach Hause und wußte eine Menge zu berichten. Ich klopfte mal auf den Busch von wegen dem Herrn Doktor und da wußte sie auch gleich Bescheid, und ich erfuhr zu meinem Erstaunen, daß zwischen Tante und Neffe das allerbeste Einvernehmen herrscht und der junge Herr jeden Tag zu ihr kommt. Offiziell hat er sein Logis in der Charlottenstraße, aber zu Tisch ist er fast immer in der Matthäikirchstraße. Vor einigen Tagen hatten sie eine große Gesellschaft und da hat Hanne von irgend jemand gehört, daß man von einer nahe bevorstehenden Verlobung des Herrn Doktor munkelt. Das ist ja nur gewiß Quatsch und Tratsch, aber soviel ging doch aus allem hervor, daß durch sein Verhältnis zur Paula sein Verhältnis zur Tante Oberlandesgerichtsrat nicht sonderlich getrübt ist. Nach meiner Mutmaßung nimmt die Dame die Beziehungen ihres[231] Pflegesohnes zu der Kellnerin absolut nicht ernst – und ich fürchte beinahe, sie hat recht mit dieser Auffassung.
Am Tage nach meinem Besuch bei Wagners kam Ilscher zu mir; die dumme Gans, seine Schwester, hatte ihm gesagt, daß ich ihr zwölf Mark geborgt hatte, und darüber war er ungehalten und wollte mir absolut das Geld aufnötigen.
»Das fehlte auch noch gerade, daß Sie Ihre mühsam erworbenen Märker denen hingeben,« sagte er. »Im äußersten Fall bin ich doch da und springe selbstverständlich auch ein, aber im großen ganzen schadet es meiner Schwester gar nichts, daß sie mal solche Zeit kennen und den Wert eines erarbeiteten Groschens besser schätzen lernt als bisher. Wenn es mir nicht um meinen Schwager leid täte, – meine Schwester bedaure ich gar nicht. Sie hat sich nie einzurichten verstanden, und wenn mein Schwager nicht so 'n guter, einfältiger Kerl und mit allem zufrieden wäre, hätte sich die Karre da schon längst verfahren. Meine Schwester hat nie weiter als von heut auf morgen gedacht – – Wie sie heiratete hatte sie keinen Pfennig Erspartes – – Nein, das leid ich nicht, daß Sie Ihr Geld dabei einbrocken –«
So sprach er und ließ nicht nach, bis ich die zwölf Mark zurücknahm. Ich schämte mich beinahe ein bißchen im Bewußtsein meines gediegenen Sparkassenbuches, aber andrerseits freute mich doch die Gesinnung von Ilscher. Der Mann ist nur ein einfacher Werkmeister, und dabei doch bis in die Fingerspitzen Kavalier, und zwar ein vornehmerer als mancher im Zylinder und Lackstiefeln.
* * *
Weihnachten ist doch 'n eigenartiges Fest. Man lebt das ganze Jahr so hin und ist froh und zufrieden in seiner Arbeit und freut sich seiner Freiheit und Selbständigkeit, daß einem niemand was zu sagen hat und[232] man tun und lassen kann, woran das Herz Freude hat oder wogegen der Kopf rebelliert ... Aber in der Weihnachtszeit kommt alles unwillkürlich in eine andere Fasson; man ist inwendig wie umgekrempelt. Wenn alles umeinander rast und hastet, um den Seinigen Freude zu machen, schleichen sich einem heimlich still und leise ein paar sehnsüchtige Gedanken und Wünsche ins Herz hinein. Man sagt wohl so im allgemeinen, die ganze Menschheit sollen uns Brüder und Schwestern sein, und wenn's einem nur ums Geben und Erfreuen zu tun ist, stehen tausend Wege offen, auf denen man diese Befriedigung erlangen kann. Aber mein Gott, die richtige Freude gibt das doch nicht. Um die Weihnachtszeit sehnt man sich doch wie sonst nie nach etwas Eignem, Liebem. Da wird es einem doch bewußt, wie einsam und verlassen unsereins doch im Grunde ist. Ich habe doch auch niemand auf der Welt, der so eigentlich recht zu mir gehört. Mein Bruder Theodor – na ja – dem geht's ganz gut, er hat eine Witwe geheiratet, die siebzehn Jahre älter ist als er selber und die ihm eine kleines Kapital zugebracht hat, von dem er sich eine Möbeltischlerei eingerichtet hat. Kinder haben sie nicht. Wir sind einander fremd geworden in den langen Jahren des Auseinanderseins und zudem vor Jahren etwas aneinandergeraten, damals, als ich mich weigerte, mein Erbteil von Tante Schlappkohl in sein Geschäft zu stecken. Seit der Zeit beschränkt sich unsere Verbindung nur auf den Austausch von Geburtstags- und Neujahrsgratulationen. Und mein Herz war eigentlich immer ein Bienenkorb, in dem die Schätze ein- und ausflogen, nachdem der Lothringer mich so schnöde enttäuschte, ich wollte auch gar nichts Standhaftes und Seßhaftes, ich liebe die Abwechslung, die Veränderung ... Aber gerade um die Weihnachtszeit ... Man kann nichts dafür, aber soviel man sich wehrt, es kommen einem wehmütige Anwandlungen,[233] es ist einmal so 'n sentimentales Fest, und ich muß sagen, ich bin immer froh, wenn der Weihnachtsabend 'rum ist. Für diesen hatte ich noch meiner Freundin Sabel und ihrem Mann, die mich einluden, zugesagt. Ich hatte mich aber schon nachmittags frei gemacht und besuchte Frau Wagner. Der Mann ist durch Ilschers Vermittlung vom 1. Januar an einstweilen als Hilfsarbeiter in die Fabrik, in der er – Ilscher – auch arbeitet, eingestellt und kriegt als solcher 3,20 pro Tag. Nun sollte man meinen, daß die Frau heilfroh wäre, weil ihr Mann doch wieder verdient, aber weit vorbeigeschossen ... Die jammert und klagt womöglich noch mehr als früher, denn wenn der Mann nun bei dem kleinen Verdienst arbeitet, wieso soll er dann Zeit finden, sich nach einer besseren Stellung in seiner Branche umzusehen – – – nun bleibt er mit dem geringen Verdienst sein Leben lang kleben und das Unglück ist erst recht da ... vorher war's doch nur ein Übergang – aber jetzt – – Himmelsakrament, was soll man denn da sagen! Ich sagte gar nichts. Wenn jemand unzufrieden sein will, da ist nichts zu machen, dem ist nicht anders wohl in seiner Haut als eben, wenn er was zu nörgeln und auszustellen hat. Ich hatte einen Pack Süßigkeiten für die Jungen mitgebracht – ich selbst bekomme zu Weihnachten immer von meinen bekannten Gästen eine schwere Menge. Der Schokoladenfritze aus der Königstraße, der mich schon seit Jahr und Tag poussiert und mir auch ins Café als getreuer Stammgast folgte, schickte mir eine mächtige Kiste voll Pfefferkuchen, Marzipan und Schokolade. Da ich mir selber nichts aus dem süßen Zeug mache, verschenke ich fast alles. Frau Wagner zeigte mir einen Brief von ihrer Tochter, worin sie schrieb, daß sie in den Feiertagen wohl nicht nach Hause kommen werde, sie hätten beide Festtage große Gesellschaft, und am Silvester vielleicht Verlobung.[234]
»Da ist wohl der junge Herr gemeint?« sagte ich.
»Ja, freilich,« sagte die Wagnern, die sich, wie beinahe alle Weiber außerordentlich für Liebesgeschichten und Neuigkeiten interessiert, eifrig: »Der Herr Doktor soll ja wohl ein Fräulein von Mehlert von Karlshorst heiraten, und er tut nicht recht Ernst machen wollen, und die Frau Rätin ist so sehr dahinter. Er hat sie auf einem Wohltätigkeitsbasar, wo sie Bücher verkaufte, kennen gelernt, Hanne hat neulich alles gehört, wie die Gnädige und der junge Herr darüber sprachen ...«
»Mehlert,« sagte ich.
»Ja, Mehlert,« sagte sie.
Der Name ging mir im Kopf rum. Ob das wohl die Mehlert von Karlshorst ist, deren Vater die Gertrud heiratete, das wäre ja ein zu ulkiges Zusammentreffen. Von Wagners ging ich zu Paula, um ihr ein paar Kleinigkeiten zu bringen. Sie hatte noch zu tun, aber sie strahlte. Am Abend war sie frei, und sie erzählte mir, daß sie sich einen kleinen Tannenbaum geschmückt habe, und ihn mit ihrem Schatz nachher anstecken werde, und sie lud mich ein, mit zu ihr zu kommen. Ich lehnte natürlich ab, worüber sie auch nicht unglücklich schien. Dann ging ich nach Hause, um mich anzukleiden, denn zu Merkmanns war ich erst um halb zehn geladen. Als ich mich frisiert und angezogen hatte, war es gerade acht, und da nahm ich noch ein Buch und las eine Weile, aber ich konnte nicht meine Gedanken dabei festhalten, weil meine Wirtin nebenan ihren Kindern bescherte und das Lachen und Jubeln der kleinen Gesellschaft zu mir drang. Das erinnerte mich wieder daran, daß der Abend ein ganz besonderer war, und ich dachte an die kleine Lulu, der ich auch ein Paket geschickt hatte und malte es mir aus, wie hübsch es wäre, wenn bei mir in der Stube ein Tannenbaum brennen und das kleine, zärtliche Ding drum herum hüpfen würde. Wie ich mir vorstellte, daß[235] Max Ilscher an diesem Abend draußen bei den beiden Weibern ist und die vier nun sozusagen einen engsten Familienkreis bilden, und das Kind neben dem Vater die Tante Ida als die ihm am nächsten stehende Person betrachtet, so daß sie doch eigentlich wie Vater und Mutter zu der Kleinen stehen, hatte ich ein unangenehmes Empfinden – ich glaube beinahe, ich war ein bißchen eifersüchtig ...
Also wie ich noch dasitze und mechanisch in mein Buch starre, ohne doch zu lesen, wird plötzlich die Tür aufgerissen und – ich traue meinen Augen nicht – Paula tritt herein.
»Gott sei Dank, daß ich dich antreffe, Mieze,« sagte sie. »Ich wüßte sonst nicht, wie ich den Abend hätte rumbringen sollen. Mich graute vor dem Alleinsein –«
»Nun?!« sag ich gedehnt. Da gibt sie mir ein Billett und wendet sich ab, anscheinend um den Schleier loszunesteln, in Wirklichkeit, weil ihr das Schluchzen in der Kehle sitzt und sie sich beherrschen will, um nicht aufzuschreien. Ich lese. Ja so ... Es ist ihm schlechterdings unmöglich, sich von der Alten loszureißen – er ist untröstlich, außer sich, aber sie hält ihn fest. Um elf hofft er zurück zu sein – – sie werden dann doch noch ihren Christbaum anzünden und Weihnachtsabend feiern ...
Na ja ...
Die Paula hat unterdessen ihren Hut und ihre Jacke abgelegt und weint nun doch. Unaufhaltsam fließen die Tränen. Sie hatte sich so sehr, ach so sehr auf diesen Christabend gefreut. Und nun ist alles ins Wasser gefallen. Denn um elf .... Das ist ja Unsinn ...
Ich ließ sie weinen. Ich schwieg. Was sollte man da sagen, wie trösten! Gehen ihr die Augen auf – desto besser. Bis sie mir von selber kam – –[236]
»Sag mal, Mieze – sag mal aufrichtig – meinst du nicht auch, daß er sich hätte losreißen müssen, wo er es mir doch so fest versprochen hatte?«
»Ja, natürlich wäre das seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen,« sagte ich trocken.
Sie schluchzte wie eine Verzweifelte. Ich suchte sie zu beruhigen.
»Bist du denn deiner Sache sicher, daß du dich wirklich auf ihn verlassen kannst,« fragte ich.
»Wenn er mich täuschte, ginge ich ins Wasser,« sagte sie, und in ihrer Stimme war etwas, das jeden Zweifel an dem Ernst ihres Gelübdes ausschloß.
»Das wäre in diesem Fall zu viel Ehre für den Wicht.«
Sie wollte auffahren, aber ich beschwichtigte sie. »Ich meine ja nur für den Fall, daß ... Siehste Paula, mit den Männern ist überhaupt nicht viel aufgeschüttelt,« sagte ich. »Egoismus auf der ganzen Linie, bei den minder Schlimmen und den ganz Rüden, den leidlich Netten und den sogenannten Guten ... Motto und Prinzip heißt bei allen: Ich und nochmals Ich und zum dritten-, vierten-, fünften- bis siebentenmal Ich und des lieben Ichs Behagen und Wohlergehen, und nach uns die Sündflut. Und deshalb ist es allemal das gescheiteste und beste, wenn man sich in seinen Anschauungen zu einem freien Gesichtspunkt aufgeschwungen hat, und sich frei macht von dem Egoismus der Männer, indem man sich ihnen nicht unterordnet, sondern sich ihnen gleichstellt in allem, auch in der Kunst des Genießens und dem Egoismus des Genusses. Was scheren mich die Leute und die Gesetze und Regeln, die sie sich für uns Mädchen und Frauen ausgetüftelt haben! Ich bin unabhängig, habe niemand was zu verdanken ... ich laß mir deshalb auch keine Vorschriften machen –! Ich mach's den[237] Männern gleich ... Gefällt mir einer – gut! Aber heiraten – nicht in die la main ...«
»Ach, Mieze,« sagte Paula und seufzte. Sie kriegt es natürlich nicht fertig, sich zu solchen Anschauungen zu bekennen. Sie war sehr gedrückt. Ich redete ihr zu, mit mir zu Merkmanns zu kommen. Sie wollte anfangs durchaus nicht, aber schließlich überredete ich sie. Ich sagte ihr, daß sie in Sabel Merkmann auch eine ehemalige Schicksalsgenossin und Kollegin kennen lernen würde, die auch schwere Enttäuschungen erlebt und – überwunden hat, und daß Sabel sich freuen würde usw., und dann ging sie nachher mit.
Ich hatte Sabel schon früher von Paula erzählt und die freute sich wirklich, daß ich sie mitgebracht hatte. Sabel hatte in ihrem Zimmer einen Weihnachtsbaum geputzt und nachher aßen wir zur Nacht und begossen das vorzügliche Souper nicht zu knapp mit Rheinwein, Burgunder und Sekt. Paula aß und trank aber fast gar nichts und blieb den ganzen Abend still und gedrückt. Etwas weiter auf den Abend zog die junge Amerikanerin, Sabels Stief-Schwiegertochter, Paula in eine Unterhaltung, und Sabel und ich gingen nun, uns ein bißchen zu erholen, eine Weile im Korridor auf und ab, wobei ich ihr Paulas Herzensgeschichte und meine Befürchtungen betreffs dieses windigen Doktors mitteilte. Sie hörte sehr interessiert zu, denn Paula gefiel ihr auch ausnehmend gut.
»Du,« sagte ich plötzlich, »was ist das eigentlich für'n Mädchen, der Gertrud Batzke ihre Stieftochter? Nämlich es wird da gemunkelt, der Doktor, Paulas Schatz – soll sich demnächst mit einem Fräulein Mehnert von Karlshorst verloben – –«
»Ja, das wäre nicht einmal unmöglich, daß das Gertruds Stieftochter ist,« sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Gertrud ist ja auch mitten in dem Wohltätigkeitsrummel,[238] und kommt immer mit den Damen von Berlin W. zusammen –«
»Du, lad uns doch mal zusammen ein,« bat ich, und wir verabredeten, daß sie uns für den zweiten Neujahrstag nachmittags zum Kaffee einlädt. Das soll mich ja mal verlangen.
Nun wurde es elf, und ich war gespannt, ob Paula unruhig wird und aufbrechen möchte, aber sie blieb ruhig sitzen, und wie ich sie genau beobachtete, schien es mir, als ob etwas wie Trotz in ihren Zügen und Augen dunkelte. Und das gefiel mir.
Etwas nach Mitternacht verabschiedeten wir uns. Der junge Mr. Merkmann ließ es sich nicht nehmen, uns beide im Automobil nach Hause zu bringen, und deshalb hatte ich keine Gelegenheit, nochmals mit Paula unter vier Augen zu reden.
* * *
Es ließ mir aber doch keine Ruhe. Um Paula nämlich. Ich schloß die Nacht kein Auge. Die beiden Feiertage hatte ich im Geschäft zu tun und konnte mich nicht nach ihr umsehen. Gestern ging ich zu ihr. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie verstimmt war, traurig, niedergeschlagen ... Sie ist furchtbar blaß und hat so tiefe, blaue Schatten unter den Augen ...
»Na, wie steht's?« sagte ich.
»Er war wirklich um elf zurück, und war ungehalten, daß ich fort gewesen war und erst so spät zurückkehrte ...«
»So – du solltest also bis elf allein sitzen und Trübsal blasen, bis es dem Herrn paßte – das wäre ja noch schöner,« entfuhr es mir.
Paula schwieg. Sie fand keine Worte der Verteidigung für ihren Liebsten und doch erriet ich, daß sie[239] meine mißbilligenden Worte wie eine persönliche Kränkung empfand.
»Ja, wo soll denn das hinaus mit euch beiden,« sagte ich.
Sie seufzte schwer und schlug unter meinen durchdringenden Blicken die Augen nieder.
»Wenn ihr nun doch schon zusammen unter einem Dach bei einer Wirtin wohnt, wäre es doch schon besser, ihr heiratet euch,« sagte ich.
»Ja, freilich wäre es das beste,« sagte sie beklommen.
»Nun und –? Was meint er dann dazu?«
Paula zuckte die Achsel. Ach, es gab ja so viel Bedenken. Wenn man heiratet, konnte sie doch nicht weiter Kellnerin spielen und wovon leben?!
»Aber er hat dich doch dazu veranlaßt, deine Wohnung aufzugeben und ein Zimmer bei seiner Vermieterin zu nehmen, findest du das richtig von ihm?« inquirierte ich weiter.
»Sie hatte gerade ein möbliertes Zimmer frei und es ist sehr billig,« murmelte sie und wurde dunkelrot dabei. Da fing ich nun doch an, ihr ein bißchen die Leviten zu lesen – es war ja keine Christabendstimmung mehr um uns – behutsam und schonend, aber doch bestimmt, denn ich hielt es direkt für meine Pflicht, ihr Vorstellungen zu machen. Was daraus werden sollte – – Und ob sie denn felsensicher davon überzeugt sei, daß der Herr Doktor sie im Grunde nicht ebenso wie seine hochwohlgeborene Tante für ein Wesen dritter Ordnung betrachte, gut genug zum Tändeln und Scherzen und Lieben, aber absolut nicht vollwertig genug, um ein ernsthaftes Kämpfen um ihren Besitz zu rechtfertigen. Ich weiß nicht mehr wörtlich, was Paula antwortete. Aber soviel ging doch aus ihrer Antwort hervor, daß sich auch in ihr schon qualvolle Zweifel regen, und daß sie darunter leidet, furchtbar leidet ... Ich habe ein[240] dunkles Empfinden, daß die Sache ein Ende mit Schrecken nimmt. Wenn ich nur wüßte, was man dagegen tun, wie man helfen, wie dem drohenden Unglück begegnen könnte ...
Paula wurde wieder von den Gästen in Anspruch genommen. Die Herren neckten sie wegen ihrer Blässe ... Ob sie Liebesgram hätte ... sie antwortete mit einem Scherzwort – – ein paar ziemlich derbe Worte folgten ... Sie tat mir so leid, ich ahnte, was sie dabei empfand. Ich kenne diese Zustände, wo man zwanzig Jahre seines Lebens dafür gäbe, allein zu sein und zu weinen, und wo man sich doch beherrschen und lächeln, ja lachen, liebenswürdig und freundlich sein, und übermütige Laune heucheln muß, nur um den lieben Gästen nicht die Stimmung und den Appetit zu verderben ... Man ist ja als Kellnerin die Sklavin seiner Gäste ... Man ist viel übler dran, wie eine wirkliche Schauspielerin, die doch nur für ein paar Stunden sich selbst verleugnen muß, um dem Publikum zu gehören.
Das arme Kind ... zweimal solche Enttäuschung wäre wirklich ein bißchen viel.
* * *
Also am zweiten Neujahrstag traf ich bei Sabel meine ehemalige Kellnerin Gertrude, jetzige Frau von Mehnert. Sie macht sich übrigens ganz gut und ist ordentlich behäbig geworden. Zuerst tat sie ein wenig steif und reserviert, aber das hielt nicht lange vor und wie wir erst ein bissel ins Plaudern kamen, pellte sich doch die alte Trude aus der künstlichen Standesbewußtsein-Verpuppung heraus und wir wurden sehr gemütlich miteinander. Es geht doch nichts über gemeinsame Erinnerungen. Wir duzen uns zwar nicht; sie war ja derzeit meine Angestellte, aber wir standen immer ganz gut[241] miteinander. Ein wenig Protzen mußte sie ja natürlich; ich ließ ihr gerne das Pläsier, mir imponieren zu wollen, und hielt geduldig still, wie sie von ihrer Villa, ihrem Automobil und sonstigem Trara erzählte.
»Wie stehen Sie sich denn mit der erwachsenen Tochter ihres Mannes?« fragte ich.
»O, das geht so lala ...« sagte sie. »Ich laß sie gehen, und laß sie machen, was sie will und auf diese Art werden wir jetzt ganz gut miteinander fertig. In der ersten Zeit war es manchmal so – –« Und da Frau Gertrud jetzt warm und im Zuge war, schilderte sie lang und breit, wie hochmütig und unnahbar die Stieftochter – Beate heißt sie – sich ihr gegenüber gestellt habe. Durch irgendeinen Zufall oder durch eingezogene Erkundigungen wußte das Mädchen von Anfang an, was die Stiefmutter früher gewesen war, und ließ bei jeder Gelegenheit ihre Geringschätzung durchblicken, bis der Trude endlich die Geduld riß und sie der einfältigen Gans mal die Wahrheit geigte, und zwar in gutem Kellnerinnen-Deutsch – und das war richtig. Da hat das Mädel denn doch wohl einen gelinden Schreck bekommen, und beträgt sich seitdem relativ anständig gegen die zweite Frau ihres Vaters. Nach Gertruds Andeutungen muß es ein unendlich eingebildetes, protziges, dummes und zieraffiges Ding sein. Ich fing nun an zu sondieren – – ich hatte neulich von der bevorstehenden Verlobung eines Fräulein Mehnert aus Karlshorst mit einem gewissen Doktor Rothahn gehört – – Gertrud fiel mir ins Wort: Das könne schon stimmen, d.h. von einer Verlobung könne doch vorläufig noch keine Rede sein. Aber die Frau Oberlandesgerichtsrat, nämlich die Tante des Doktor Rothahn, habe merkwürdigerweise einen Narren an dem Mädchen gefressen, und ziehe sie bei jeder Gelegenheit an sich heran. Die Beate sei ja auch kein schlechter Happen für einen jungen, praxislosen Mediziner; von[242] ihrer Mutter her hat sie hundertfünfundfünfzigtausend Mark bar auf der Deutschen Bank und noch ein Grundstück in Rixdorf, das auch seine achtzigtausend unter Brüder wert ist. Der Herr Doktor sähe das wohl auch ein, denn er mache der Beate ziemlich auffällig den Hof. Sie soll ja auch nicht übel aussehn, und vor allem sehr schick sein, was manche Männer bekanntlich mehr blendet als das schönste Gesicht. Ich erkundigte mich nun, wieso denn wohl das Geschwätz von der nahe bevorstehenden Verlobung entstanden sein könne. Gertrud meinte, das sei wohl auf Horchereien der Dienstboten im Hause der Rätin zurückzuführen. Unter den Bekannten der Frau Rätin sei es ein öffentliches Geheimnis, daß diese mit allen Mitteln eine baldige Verheiratung ihres Neffen mit einem vermögenden Mädchen aus gutem Hause anstrebe, weil der Herr Neffe ein Verhältnis mit einer Kellnerin habe.
»Weiß Ihre Stieftochter das auch?« fragte ich.
»Nun ja, natürlich,« sagte sie, »da ist ja auch weiter nichts bei. Welcher junge Mann hat heutzutage kein Verhältnis?«
Da wurde ich doch ein bißchen kribbelig und erklärte ihr, daß ich des Herrn Doktors »Verhältnis« kenne und wie die Sachen liegen und daß der Herr Doktor eben ein hundsgemeiner Kerl sein müsse, wenn er seine Braut sitzen ließe, nur um einen schicken Geldsack zu heiraten.
»Ja, das ist wahr,« sagte Gertrud, »aber das Leben kostet heute so viel und so 'n Arzt soll doch auch 'n bißchen anständig repräsentieren. Man kann es den Männern wahrhaftig nicht verdenken, wenn sie auch 'n bißchen aufs Bare gehen ... Das andre kann ja doch nie was werden –«
»Nicht?« sagte ich zornig, »weswegen nicht? Wenn sie warten bis der Doktor soviel verdient, um heiraten[243] zu können? Sehn Sie mal, Frau Mehnert, daß so 'ne olle Schraube, wie die Frau Rätin und so 'n grünes Dämchen, wie Ihre Fräulein Tochter, über solch ›Verhältnis‹ hinwegsehen, weil das betreffende Mädchen nur 'ne Kellnerin ist, und deshalb nicht mitzählt, das wundert einen gar nicht. Aber Sie wissen doch ebenso gut wie ich und Sabel, daß eine anständige Kellnerin ein genau so vollwertiges Menschenkind ist, wie eine Dame der oberen Zehntausend ... Sehn Sie mal, man muß sich immer in die Lage hineinversetzen. Wir sind alle drei Kellnerinnen gewesen, ich bin noch so etwas wie – – na und wir haben auch unsere Verhältnisse gehabt, und jede von uns hat auch mal 'n richtigen Herzensschatz gehabt, für den sie nötigenfalls durchs Feuer gegangen wäre und auf den man sich verschworen hat und den man mit ganzer Seele liebte, nicht wahr?«
Sie lächelten beide und nickten.
»Jawohl ... Und deswegen mein ich, ihr könnt's ebensogut wie ich, die ich's am eigenen Leibe erfahren habe, nachempfinden, was es heißt, wenn einem das Liebste, was man hat, von irgendeiner anderen weggekapert wird, nur weil sie 'n paar lumpige Groschen mehr hat. Und vor allem, daß solche Kanaillen ein Mädchen verachten, bloß weil sie Kellnerin ist, das ist ja zum Wandaufkrabbeln ... Ist denn die Kellnerin bloß ihres Berufes wegen als Abschaum der Menschheit zu betrachten?«
»Nein, gewiß nicht,« sagten die beiden.
»Nun also! Es gibt in jedem Stand und Beruf freie und unfreie, anständige und gemeine Menschen. Dafür, daß mal so 'n armes Wurm von Kellnerin durch Not oder Leichtsinn abwärts rutscht und zu einer Animierkneipenmamsell degradiert, dadavor kann doch der ganze Stand und die Allgemeinheit nicht leiden ...«
»Und diese Paula ist wirklich ein liebes Ding,« sagte[244] Sabel. »So fein und so gebildet, man sieht sofort, daß sie nicht für den Kellnerinnenberuf erzogen ist – –«
»Außerdem wäre es das zweitemal, daß sie durch einen Schuft ins Unglück käme,« sagte ich und erzählte Gertrud, die aufmerksam zuhörte, Paulas ganze Lebensgeschichte.
»Ja, das ist furchtbar traurig, direkt traurig, aber daß das arme Mädchen nun auch das Mißgeschick haben mußte, sich ausgerechnet in einen unbemittelten Mediziner zu verlieben,« sagte Gertrud bedauernd und wie mir schien nicht ohne Teilnahme. »Aber was ist dabei zu machen? Wenn so 'n Mann gemein sein will, dann ist er eben gemein, und man kann nichts dagegen tun. Ich versichere Sie, ich könnte meiner Stieftochter gerne alles wiederholen, was sie mir soeben erzählten, es würde gar keinen Eindruck auf sie machen. Ja, wenn ihre Rivalin eine junge Dame aus der Gesellschaft wäre ... das würde ihre Eifersucht wecken. Aber eine Kellnerin – – – na, ihr wißt ja ... Es ist ganz so, wie Fräulein Biedenbach sagt – man zählt als Kellnerin einfach nicht mit zur menschlichen Gesellschaft ...«
Dann entstand eine Pause. Wir sahen alle drei vor uns nieder, ich glaube, daß wir momentan alle denselben Gedanken hatten.
Im übrigen ist es ja wahr, was Gertrud sagt, sie können den Doktor auch nicht anders machen als wie er ist, wenn er nichtswürdig ist und auf eine Geldheirat ausgeht – trotz Paula – ist es im Grunde schnuppe, ob er sich an Beate Mehnert oder an sonst 'ne Gans mit goldenen Federn heranmacht.
»Ja, ja,« begann Gertrud nach einer Weile, »der Kellnerinnen Leben ist nicht beneidenswert, und man kann froh sein, wenn man es nicht mehr braucht. Wir beide, Sabel und ich, haben den klügsten Teil erwählt und uns[245] rechtzeitig in ein warmes Nest gerettet Sie sollten es uns nachmachen, Fräulein Biedenbach ... Gott, wenn ich jetzt manchmal so an frühere Zeiten zurückdenke, verstehe ich gar nicht, wie ich das alles so durchgemacht habe, es ist wirklich merkwürdig wie rasch sich der Mensch in bessere Verhältnisse eingewöhnt und dann nicht mehr begreift, wie er es früher anders aushielt. Das Milieu macht den Menschen –«
Sie lehnte sich in ihre Sofaecke zurück und drehte wohlgefällig ihre zahlreichen übereinander geschobenen Brillantringe.
»Ja, das sind Geschmackssachen,« erwiderte ich. »Mein Lebenselement ist nun einmal mein Beruf. Ich bin sozusagen eine Strebernatur, an mir ist ein Mann verloren gegangen. Wie für die meisten Männer das Weib nur Zeitvertreib oder besser gesagt Mittel zum Zweck ist, so betrachte ich meistenteils umgekehrt die Männer nur als Nebensächlichkeiten und Zerstreuungsmittel, aber sonst mach ich mir nichts aus ihnen. Wenn es mir gelingt, mir eine selbständige Existenz zu schaffen, habe ich mein Ziel erreicht und bin zufrieden. Ich habe aber auch meine Ideale. Ich möchte an meinem schwachen Teil dazu beitragen, daß es meinen Kolleginnen etwas besser als bisher gehen möchte. Ich will mir in der Art eine Musterwirtschaft herrichten. Meine Kellnerinnen sollen nicht die Trinkgeldersklavinnen der Gäste und keine Saufmaschinen sein. Ich will meine Gäste in aller Bescheidenheit und Freundlichkeit lehren, die Kellnerinnen als anständige Mädchen zu behandeln.«
»Wird Ihnen schwer fallen,« sagte Gertrud. »Wenn Ihnen so wie Sabel und mir eine brillante Partie geboten wird, dann greifen Sie zu –«
»Ist es richtig so 'n Glück?« fragte ich dagegen. »Sagt mir mal, Hand aufs Herz, wenn euch jemand dieselben Annehmlichkeiten eures gegenwärtigen Lebens [246] ohne Ehemann bieten würde, tätet ihr nicht mit beiden Händen zulangen –«
»Ich nicht, ich habe meinen Mann liebgewonnen,« sagte Sabel, aber Gertrud nickte lächelnd: »Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Fräulein Biedenbach –«
Das war wenigstens ein ehrliches Wort. Nachher holte so ein Wort das andere. Frau Gertrud verkehrt wirklich in den feinsten Kreisen von Berlin W, und ist anscheinend überall wohl gelitten. Das kommt daher, daß ihr Mann große Summen zu wohltätigen und kirchlichen Zwecken hergibt. Daher soll er auch den Adel gekriegt haben. Gertrud behauptet, daß auf diese Weise jeder in die hohen Kreise hineingelangen kann. Bei ihnen im Hause verkehrt ein Baron X, und der hat alles vermittelt. Zuerst ein paar Orden. Der erste kostete zehn- und der zweite nur dreitausend Mark, die Zehntausend für koloniale Zwecke und die drei für einen Militärwaisenerziehungsfonds. Dann kam der große Schlag: fünfunddreißigtausend Mark für ein Altarbild in irgendeine aus zusammengefochtenen Geldern erbaute Kirche, und dann bekam er den Adelstitel. Sehr interessant und belehrend. Der alte Mehnert scheint überhaupt so 'ne Art Größenkoller zu haben. Gertrud sagt, er sehe auch am liebsten, wenn seine Tochter einen adligen Herrn, entweder einen Offizier mit Aussicht auf rasche Karriere, oder einen hohen Beamten heiratete ...
Sie wurde immer gesprächiger. Alte Reminiszenzen wurden aufgefrischt, alle unsere gemeinsamen Bekannten und ehemaligen Kolleginnen mußten Revue passieren. Zuletzt empfahl ich auch noch meine demnächste Weinstube Gertruds geneigtem und einflußreichen Wohlwollen, was ihr einigermaßen zu schmeicheln schien. Etwas zögernd erkundigte sie sich nach dem Wie und Wieso des neuen Unternehmens, und war sichtlich erleichtert, als ich ihr versicherte, daß es eine hochfeine, distinguierte[247] Sache würde ... Rote Smyrnateppiche, auf den Tischen elektrische Lampen mit farbigen Schirmen – ah – ich werde schon machen – alles nach dem Muster des Hamburger Weinrestaurant, in dem ich damals war ... flämische Möbel, Gobelins an den Wänden, gute Ventilationen und die Luft stets durchdringend parfümiert mit einer Mischung von Kiefernnadel-, Maiglöckchen- und Fliederduft ... Das Milieu muß dem Gast gleichsam ein physisches und ästhetisches Wohlbefinden suggerieren ... Die Lampen auf den Tischen schaffen eine gewisse stillbehagliche Stimmung; in einem Restaurant, wo solche farbige Lampen auf den Tischen stehen, hört man selten ein lautes, wüstes Durcheinanderschnattern; es muß alles auf einen Ton vornehmer, familiärer Solidität und behaglichen Genießens gestimmt sein ... Das sind so noch die praktischen Niederschläge und Nutzanwendungen von Frau Bischoffs Theorien, die ich jetzt praktisch verwerte.
Als Gertrud mein Programm hörte, nickte sie beifällig und versprach mir ihren und ihres Mannes öfteren Besuch, und daß sie mich auch ihren vornehmen Bekannten und Freunden empfehlen würde. Dann lud sie mich ein, mit Merkmanns zusammen, nächsten Sonntag bei ihr zu essen, was ich leider nicht annehmen konnte, da ich Sonntag Dienst habe. Alles in allem war es ein angenehmer Nachmittag.
* * *
Onkel Lautbach hat etwas Feines ausgeknobelt, nämlich ein Lokal wie geschaffen für meine Zwecke. Leider ist es erst am 1. Oktober zu haben. Es liegt in der Ch .... straße, dicht an der Friedrichstraße, also in I a Gegend, allerdings im Hofgebäude, aber von der Straße aus durch ein breites Portal zu erreichen. Drei[248] schöne, ziemlich große Räume durcheinander und reichlich Nebengelaß. Es soll dreitausend Mark Miete kosten, also auch nicht alle Welt verhältnismäßig. Verschiedene Änderungen, tapezieren usw. müßte ich allerdings selbst besorgen. Wir haben, da uns nicht lange Zeit zum Überlegen blieb – es war noch ein Reflektant da, der ein antisemitisches Wirtshaus gründen will – sofort gemietet. Die Würfel sind also gefallen. Ich muß gestehen, daß ich hinterher, als ich alles so überlegte, doch ein bißchen Herzklopfen bekam. Ich setze nun sozusagen wieder mein Schicksal auf eine Karte, und wenn ich pleite mache, ist alles wieder zum Teufel und ich kann nochmal von vorne anfangen. Eine zweite Tante Schlappkohl zu beerben hab ich auch nicht mehr. Es wäre eine böse Geschichte. Aber solche Grübeleien sind überflüssig und führen zu nichts, also nur Mut, Mieze, die Sache wird schon schief gehen. Ich habe mir dann doch auch überlegt, daß es besser für mich ist, wenn ich des alten Lautbach Anerbieten akzeptiere und mit ihm Halbpart mache. Ich habe dann nur die Hälfte Risiko, und des alten Fuchs' geschäftliche Ratschläge sind auch nicht zu verachten. Ich habe ihm nun ganz detailliert meine Wünsche wegen der Einrichtung unterbreitet und er besorgt alles. Natürlich begaunert er mich dabei in allen Ehren und in aller Freundschaft, denn so gut er es gewiß mit mir meint und soviel Wohlwollen er mir zuwendet – ohne Provision zu arbeiten, ginge ihm wider die Natur, davon bin ich überzeugt. Schadet auch nichts, wenn man nur nichts merkt und im übrigen werd ich mich schon zu revanchieren wissen. Ich glaube wirklich, daß es sich sonst ganz gut mit ihm zusammen arbeitet. Als Mann würde ich mich ihm nicht so leichten Herzens assoziieren, aber eine Frau bringt der nicht um ihre paar Groschen, davor ist mir nicht bange. – Nun ist es zwar eine heikle Sache, daß ich am Ersten[249] hier fortgehe. Zum Privatisieren, ist die Zeit zu lange, andrerseits möchte ich mich auch wieder nicht binden. Ich bin wirklich noch ganz unschlüssig. Ohne Arbeit kann ich auch nicht sein.
Diese Schreiberei macht mir tatsächlich Vergnügen. Ich werde deshalb auch später, wenn ich erst in meinem Geschäft zu Gange bin, ein Tagebuch führen.
Fréderic war neulich wieder hier und fragte spöttisch nach meiner literarischen Arbeit. Ich sagte: »Ach was! Quatsch –« Worauf er sich beruhigte. Ich habe mir nun aber doch Gedanken wegen der Druckerei gemacht und mir eigens deshalb nochmal das »Tagebuch« von Tietz' Leihbibliothek geholt, um mir den Verleger zu notieren. Vielleicht biet ich ihm meine Memoiren auch an.
Merkmanns, die eigentlich schon Ende Februar wieder weg wollten, haben ihre Reise jetzt bis Anfang Mai verschoben, da Mr. Merkmann noch eine Kur in Karlsbad durchmachen will. Darüber bin ich sehr glücklich. Sabel meint, ihr Mann werde mir auch gerne eine größere Summe leihen, falls ich diese zur Übernahme des Geschäfts benötige, aber das habe ich rundweg abgelehnt. Nur kein Geld von Freunden auf Pump. Um Himmels willen nicht ...
* * *
Ich kann nicht behaupten, daß ich ein sogenanntes Sonntagskind bin und daß Fortuna ihre Gaben von jeher mir verschwenderisch in den Schoß geschüttet hätte. Eher könnte ich den alten Vergleich von der Katze, die immer wieder auf die Füße fällt und wenn man sie übers Haus wirft, auf mich anwenden. Jedenfalls bin ich alles andere eher als ein Pechvogel. Manchmal trifft sich so etwas wirklich komisch.[250]
Vorgestern hörte ich von einem Gast, den ich schon längere Zeit kenne, daß ein Wirt in der Nähe des Spittelmarkt, Inhaber eines großen Bierrestaurant, eine erfahrene Person als Vertretung für seine Frau auf vier bis fünf Monate sucht. Die Frau hat erst kürzlich eine Blinddarmoperation überstanden und soll nach dem Süden zu ihrer Erholung. Ich machte mich natürlich sofort auf die Socken und wurde vom Fleck weg, eigentlich sozusagen auf mein ehrliches Gesicht hin engagiert mit zweihundert Mark monatlich. Und dabei so 'ne angenehme, selbständige, allerdings auch verantwortungsvolle Stellung, gewissermaßen als Mutter vom Ganzen. Der Wirt selbst scheint sich nicht viel ums Geschäft zu bekümmern, so daß alles wohl auf der Frau liegt und man jedenfalls die Augen vorne und hinten und auf beiden Seiten haben muß. Ich bin sehr glücklich darüber, nun bin ich erst mal fünf Monate unter Dach und verdiene mir nebenbei noch etwas. Mit der Schreiberei wird es dann freilich nicht viel werden. Ich will einen Teil des Manuskriptes morgen an den Verleger senden. Schade, daß ich keinen richtigen Schluß habe. Aber ich kann mich doch den Lesern zuliebe nicht gut aufhängen oder verheiraten, nur damit die zu einem Schluß gelangen und damit es sich so wie 'ne Art Roman liest. Das richtige Leben arbeitet eben mit Fragezeichen und mit Gedankenstrichen, selten mit Schlußpunkten, genau wie die modernen Dichter ...
* * *
Das Leben ist wirklich tragisch. Wo findet man noch Freude!? Nirgends. Wenn man Zeitungen zur Hand nimmt: nichts als Mord, Betrug, Krieg, Aufruhr, Verbrechen, Niedertracht und Gemeinheit, Verfall und Niedergang, Schmerz, Verzweiflung und Tod. So ist das[251] Leben. Mein Gott, was habe ich in diesen vierzehn Tagen durchgemacht. Ich komme gar nicht darüber hinaus. Daß meine Memoiren aber auch so enden müssen!
Eines Morgens – es sind wohl kaum vierzehn Tage her – krieg ich einen Brief mit der ersten Morgenpost. Ahnungslos reiße ich das Kuvert herunter und lese und lese, und weiß doch kaum mehr, was ich lese, so schwindelt mir alles vor den Augen und über die Schriftzüge laufen immerzu rote, blaue und gelbe Ringe. Der Brief ist von Paula und sie schreibt mir wörtlich:
Liebe, gute Mieze! Wenn Du diesen Brief in Händen hast, bin ich nicht mehr am Leben. Es ist alles aus. Ich mag nicht weiter. Walter hat mir alles aufrichtig und offen dargelegt. Er kann mich in absehbarer Zeit nicht heiraten. Er muß sich mit seiner Tante gut stellen, denn er hat Schulden. Das habe ich nicht gewußt, daß er die Leidenschaft fürs Spiel hat, aber er hat mir alles eingestanden. Er ist selbst wie zerschmettert und so traurig, aber die Tante muß einspringen, sonst muß er sich selbst eine Kugel durch den Kopf schießen und das will ich nicht, dazu hab ich ihn viel zu lieb. Lieber geh ich, ich habe so keine rechte Freude mehr am Leben in letzter Zeit gehabt. Das Leben ist so dumm. Sei mir nicht böse, liebe, gute Mieze, Du bist die einzige in der Welt, die mir gut ist, und deshalb schreibe ich Dir allein diese Abschiedszeilen. Leb wohl. Es küßt Dich Deine arme Paula.
Nun, ich weiß nicht, wie ich in Hut und Jacke gefahren und aus dem Haus gekommen bin.
Bei Paulas Wirtin war die ganze Wohnung in Aufruhr. Zufällig war das Mädchen früh morgens in Paulas Zimmer gekommen, wohl gerade in oder unmittelbar nach dem Moment, wo das Fürchterliche geschah. Lang ausgestreckt[252] auf dem Boden liegt Paula regungslos mit verzerrten Zügen da. Sie meinen natürlich nur erst, sie ist ohnmächtig und rennen zum Arzt – der Doktor Rothahn ist seit ein paar Tagen verreist – und wie der Arzt dann kommt, stellte er gleich eine Vergiftung durch Cyankali fest. Da sie nun aber nach der Diagnose noch nicht tot ist, sondern nur im Starrkrampf liegt, stellt er gleich alle möglichen Wiederbelebungsversuche an und nicht vergebens. Wie ich kam, hatten sie sie vor kaum einer Stunde ins Krankenhaus transportiert.
O Gott, war das ein Tag. Ich konnte nicht fort, weil viel im Geschäft zu tun war, aber ich stand den ganzen Tag wie auf Nadeln hinterm Büfett und meine Gedanken waren an Paulas Bett. So daß ich zum erstenmal in meinem Leben im Geschäft fortwährend Dummheiten machte, Schokolade statt Tee, Glühwein statt Kaffee verabfolgte und aus Versehen einmal Schlagsahne statt Rum in den bestellten Grog tat. Den Tag merkte ich so recht, wie mir das Kind ans Herz gewachsen ist. Am Abend bin ich denn gleich hin, kriegte sie aber nicht zu sehen, und die Schwester sagte mir, daß ihr Zustand unverändert derselbe sei, man könne die Hoffnung, sie am Leben zu erhalten, ebenso wenig ganz aufgeben, wie sie als voraussichtlich bezeichnen. Das war ein vager Trost. Und so ist es nun seit vierzehn Tagen immer noch dasselbe. Sie lebt, liegt aber, immer noch ohne Bewußtsein, und die Ärzte wissen immer noch nicht, ob sie Hoffnung geben können oder nicht. Ich habe sie nur einmal gesehen und das hat mich so ergriffen, daß ich den Anblick noch jetzt vor Augen habe und es mir durch und durch geht, wenn ich daran denke. Sie sieht nämlich direkt aus wie eine Leiche, und zwar wie eine schon halb in der Auflösung befindliche Leiche. Natürlich erkennt sie keinen. Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, wenn sie überhaupt so ohne[253] wieder zum Bewußtsein zu erwachen, hinüberschliefe. So tief ich das junge Leben, das so schmählich enden müßte, betrauern würde – ich meine doch, in diesem Falle würde das Weiterleben für Paula das schlimmere sein. Wer durch die Schrecken des Todes einmal hindurchgeschritten ist, der soll zum Frieden kommen, den sollte man nicht wieder gewaltsam zu der Oberfläche des verhaßten Lebens hinaufzerren. Was kann es ihr denn bieten, sie hat wohl gewußt, was sie tat, als sie das Körnchen Cyankali (nicht genug um sofort zu sterben!) auf die Lippen nahm. Ich möchte nur wissen, wie sie es sich verschaffte. Jedenfalls doch von ihrem Doktor. Wie ich auf meine Erkundigung erfuhr, ist er einmal im Krankenhaus gewesen, um nach ihr zu sehen, na, dem muß auch zumute sein, in dem seiner Haut möchte ich nicht stecken.
Ich sinne hin und her und zerbreche mir Tag und Nacht den Kopf was werden soll, wie man ihr das Leben erträglich gestaltet, wenn sie durchkommt, und ich finde keinen Ausweg.
O, ich habe eine Wut auf dieses Weib, diese Oberlandesgerichtsrätin mit ihrer »Wohltätigkeit« und ihrem Getue und ihrem Gefeixe. Diese alte Katze ist doch schließlich schuld am ganzen Malheur. Es ist wahrhaftig blutige Ironie, daß die Frau, die intim mit einer ehemaligen Kellnerin verkehrt, die gar nichts dagegen hätte, wenn ihr Neffe die Stieftochter dieser ehemaligen Kellnerin heiratet, diese Person, die fortwährend in »Rettung« macht und sich Gott weiß wie bläht mit ihren humanen sozialen Bestrebungen, ihren Neffen moralisch vergewaltigt, daß er – vielleicht gegen seine Neigung und seine besseren Regungen – ein armes, rechtschaffenes Mädchen in den Tod treibt, und das alles nur, weil sie sich ihr Brot ehrlich als Kellnerin verdient.
Ich muß sagen, mir ist es ja ein Rätsel, daß die[254] Paula sich überhaupt so stürmisch vertrauensvoll in diesen Windhund von Mediziner verliebte. Aber – du lieber Gott – sowas kommt vor!
Meine Freundin Sabel nimmt auch regen Anteil an Paulas Geschick; sie meint, ob Paula nicht vielleicht mit nach drüben ginge, wenn sie besser wird. Man müßte es ihr vorstellen, das schlechteste wär's ja nicht.
Zu allem Unglück, das von dieser Seite auf mich hereinbricht, kommen auch noch von anderer Seite Unannehmlichkeiten – fremdes Mißgeschick, das mich auch nicht kalt und gleichgültig läßt. Vor etwa acht Tagen war Max Ilscher eines Abends bei mir und klagte mir sein Leid. Die Ida ist mit ihrem Schatz fort, sie mache eine Reise an die Riviera auf drei Monate und das kleine Mädelchen läuft da draußen nun den lieben langen Tag für wild herum und kein Mensch kümmert sich um sie. Die Alte geht Stunden, ja ganze Nachmittage auf die Nachbarschaft klatschen und da ist das Kind wie verraten und verkauft. Neulich abends war er da gegen acht Uhr, da war das Kind von zwei Uhr an noch nicht nach Haus gekommen, und es wurde halb neun, neun und zehn, die Angst kann man sich ja ausmalen – endlich ein Viertel elf kommt sie an, ist mit einer Schulfreundin und deren Mutter im Grunewald gewesen, bei der Kälte, und nichts an, als 'n Pelzkrägelchen und 'ne Kappe. Na, der Ilscher war ja außer sich darüber und hat der Alten natürlich gehörig den Marsch geblasen, daß sie das Kind nicht besser beaufsichtigt und als die Olle frech wurde und zu schimpfen und keifen anfing, hat er Lulu einfach mitgenommen und zu seiner Mutter gebracht, wo sie immerhin noch besser aufgehoben ist, als bei dem Weib. Ilscher meint, die Ida werde überhaupt nicht mehr zurückkommen, sondern sich nachher in irgendeinem Winkel Berlins einmieten, da sie sich absolut mit der Mutter nicht vertragen könne und auch[255] jetzt nach einem Riesenkrach fort ist. Die kleine Lulu soll jetzt einstweilen bei der alten Ilschern bleiben.
Wenn ich jetzt erst am Spittelmarkt bin, kann ich öfter mal nach dem kleinen Karnickel gucken. Heute über acht Tage gehe ich fort. Denn in acht Tagen trete ich meine neue Stelle an.
Ich habe meine Memoiren, die ich zu meinem größten Bedauern da in der Wirtschaft nicht fortführen kann, nun demselben Verlag angeboten, der das Tagebuch der Verlorenen gebracht hat, und die schrieben mir, daß sie sie eventuell nehmen, nur die Namen müßte ich ändern und vor allem darf ich nicht die Adresse meiner Weinstube angeben, da – wie sie mir schrieben – ihre Firma keine Reklameschriften verlege, sondern nur literarische Sachen. Das ist nun dumm, denn es wäre doch eine ganz wirkungsvolle Reklame gewesen. Aber ich tröste mich damit, daß es sich doch bald herumspricht, wer ich bin und wo ich stecke, und die Leute aus purer Neugier dann doch in meine Wirtschaft kommen. Na – und sind sie nur erst einmal dagewesen, da werden sie auch schon wiederkommen; das ist meine Sorge.
Wenn ich nur erst wüßte, was mit Paula wird. Ich bin in dieser Hinsicht eine unglückliche Natur. Anderer Leute Schicksale gehen mir viel näher, als meine eigenen.
* * *
Wirklich komisch, daß am Schluß meiner Memoiren nochmal Herr Heinrichs auftauchen muß. Auf dem Wege zum Krankenhaus lief er mir neulich sozusagen in die Arme. Er wurde ganz rot, grüßte, ich dankte kurz und eilte weiter, aber er kam mir nach und hielt sich neben mir.
»Ja, Fräulein Biedenbach – – ich muß ja gestehen, daß ich mich Ihnen gegenüber sehr schuldig fühle,« stammelte er verlegen.[256]
»O, keine Ursache,« sagte ich. »Niemand kommt aus seiner Haut heraus. Ein Held wird im Leben kein Hase und umgekehrt ...«
»Ja, Sie haben wirklich Ursache sich ein wenig schmeichelhaftes Urteil über mich zu bilden,« sagte er zerknirscht, »aber fang einer mal was mit den Frauen an – – Vernunft annehmen gibt's bei ihnen ja überhaupt nicht – – Und zumal nun Lottchen Sie gesehen hat – – Wenn Sie alt und häßlich wären, würde sie Ihnen vielleicht vor Dankbarkeit die Hände geküßt haben – denn es ist ja doch jetzt viel schöner –«
»So,« sagte ich. »Und Schwiegermutter?«
»O, mit der komme ich jetzt ganz gut zurecht, seitdem wir uns nur Sonntags sehen. Wie gesagt, ich vergesse Ihnen ja niemals, daß Sie doch sozusagen die Rolle eines guten Engels in meinem Leben gespielt haben –«
»Das Resultat genügt mir vollkommen,« sagte ich und dann sprachen wir noch eine Weile von diesem und jenem, bis wir uns an der nächsten Ecke trennten. Ich mußte lächeln – nach Lachen war mir nicht zumute. Aber grollen tu ich dem armen Kerl auch nicht mehr. Er ist 'n ganz gutes Tier, daß ihn die Mutter Natur nicht mit mehr Charakter und Energie ausgestattet hat – davor kann er eben nicht ... Ach Gott, was sind alle diese kleinen Alltagssorgen und Geschichten so nichtig im Vergleich zu dem großen Leid des Lebens, an dem so viele Menschen kranken und zugrunde gehen.
Paula wird langsam besser. Sie ist jetzt doch bei Bewußtsein. Ich habe schon mehrere Male mit ihr gesprochen. Sie ist eigentlich ruhiger, als ich erwartet hatte. Das macht ja vielleicht auch die Schwäche, die ihr Denken noch lahmt, so daß sie die Tragweite der Ereignisse und des Geschehenen noch nicht richtig überschaut. Aber sie äußerte doch ganz richtig bei meinem[257] ersten Besuch, daß man sie lieber hätte gewähren lassen sollen.
»Das Leben ist so grau, und so kalt – Mieze – ich mag nicht mehr leben –«
Und am andern Tag erzählte ich ihr viel von meinem neuen Lokal, und daß sie den Sommer über sich auf dem Land erholen und dann zu mir kommen soll, nicht als Kellnerin, sondern als meine Stütze am Büfett und überhaupt allüberall, wo ein wachsames Auge erforderlich. Sie schüttelte indessen zu allem den Kopf und sagte, sie werde Berlin verlassen und wohl nie mehr zurückkehren. Da rückte ich mit Sabels Idee heraus – ob sie sich entschließen würde, mit Merkmanns nach New York zu gehen. Sie sah mich eine Weile groß an, und seufzte dann und meinte, das wäre kein schlechter Vorschlag – wenn denn doch schon einmal weitergelebt werden müse ...
Ich bin nun jeden Tag bei ihr, da ich jetzt doch Zeit dafür habe, denn ich trete erst Mitte März meine neue Stelle an, und vorgestern faßte ich mir ein Herz und da sie etwas wohler als sonst schien, wälzte ich die mich lange beunruhigende Frage, woher sie denn das Teufelszeug, das Cyankali bekommen habe, vom Herzen. Sie wandte aber mir den Kopf ab und machte eine Handbewegung und nach einer Weile sagte sie leise: »Ich habe es mir heimlich entwendet, nachdem ich durch List erfahren hatte, wo er die Sachen verwahrt ...«
»Und wie steht es mit euch beiden, wenn du wieder besser wirst – ist denn nun alles aus und vorbei –« fragte ich.
»Alles,« sagte sie. »Ich will ihn nie wiedersehen –«
»So, hast du ihn doch durchschaut?«
Da ging eine leise Röte durch ihr wachsblasses Gesicht.[258]
»Ach, sprich nicht davon, Mieze. Es ist ja alles anders wie du denkst – Walther hat keine Schuld – es ist einmal so und ist nichts daran zu ändern –«
Also nichts daran zu ändern. Gut. Reden wir nicht mehr darüber.
* * *
Am Montag schickte Max Ilscher mir eine Rohrpostkarte. Seine alte Mutter ist schwer erkrankt, Lungenentzündung und er bat mich, Lulu doch ein paar Tage zu mir zu nehmen. Natürlich fuhr ich sofort hin und holte mir die Kleine. Das Kind war selig, als sie hörte, daß sie einstweilen bei mir bleiben darf. Es ist ein so liebes Ding, so anschmiegend und zärtlich; wenn ich sie nachts in meinen Armen halte, wird mir eigentlich erst so recht die Wonne, die im Besitz solchen kleinen Wesens liegt, bewußt, ja es ist mir manchmal so, als sei ich kindisch und töricht, mich gegen ein Glück zu sperren, das an meiner Tür klopft und nach dem ich nur die Hand auszustrecken brauche, um es einzulassen und zu halten. Ich könnte sie beide haben, wenn ich wollte: Kind und Vater. Und sicher wäre Max Ilscher nicht der schlechteste Kamerad, den ich mir wählen könnte. Aber ich mag noch nicht heiraten, mir ist ja himmelangst vor dem Nietenziehen in der unsicheren Ehelotterie, die wie eine Domlotterie auf 300000 Nieten zehn ansehnliche und zweitausend winzig kleine Treffer gibt.
Aber das Kind möchte ich behalten.
Heute morgen war ich bei meinem Wirt und fragte ihn, ob ich die Kleine mitnehmen dürfte, ich wollte gerne vierzig Mark Kostgeld monatlich für sie zahlen. Und – gutmütig wie er anscheinend ist – hat er es mir erlaubt – »wenn ich sonst meine Pflicht täte«. Na, daran soll's nicht fehlen.[259]
Ach, der Jubel, als ich Lulu vorhin sagte, sie dürfe für immer bei mir bleiben. Sie fiel mir jauchzend um den Hals und erstickte mich fast mit ihren Liebkosungen. Mir wurde das Herz ordentlich weit und heiß dabei.
Da ich übermorgen meine Stelle antrete, muß ich leider meine Aufzeichnungen nun beenden. Hoffentlich führe ich sie später weiter. Es ist eine ganz dankbare Beschäftigung. Man lernt dabei in sich hineinsehen und das Umrißlose, das in einem lebt, in eine Form bringen. Das Leben ist wirklich grau, wie die arme kleine Paula sagte. Aber es gibt doch auch manches bunte Kräutlein und manch duftendes Blümchen am Wege, wenn man die Augen aufmacht und sehen will. Paula wird wohl am Leben bleiben. Freilich geht ihre Genesung – so weit noch überhaupt von einer solchen die Rede sein kann, langsam, sehr langsam vor sich. Merkmanns nehmen sie mit nach drüben.
Jedes Menschen Leben ist wahrhaftig ein Roman für sich. Es besteht aus einem Mosaik von vielen grauen und schwarzen und farbigen Steinchen und es kommt nur darauf an, was Baumeister Schicksal daraus herstellt. Eine Kathedrale oder ein Variététheater oder ein einfaches Schutzhüttchen –
Meins ist so etwas wie ein Variété ...
Also für heute Schluß. Übers Jahr vielleicht Fortsetzung.
1 | Reste in Gläsern. |
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