13. Bei Madame Piepenbrink.

[122] Bangen Herzens folgte ich dem Menschenstrom. Unwillkürlich sah ich mich um, ob ich zwischen all denen, die wartend in der Halle standen, nicht das vertraute Gesicht der Mutter finden würde. Aber nein! Erwarten konnte ich es ja auch nicht. Unsicher, schüchtern ging ich über den freien Platz. Endlich wagte ich die Frage nach, »Stubbenhuk«. Ich erwartete halb, daß die Leute lachen würden, aber ganz ernst wiesen sie mir die Richtung. Hamburg lag in dichtem Nebel. Der Schnee wurde unter den Tritten der Fußgänger zu einer schwarzen dicklichen Suppe. Die Straßen, durch die ich kam, waren eng und düster. Die hohen, rauchgeschwärzten Häuser hatten ihre Giebelseite der Straße zugekehrt. Wie verschiedenartig waren diese Giebel! Da waren hohe, spitze, steife, aber auch kunstvoll geschweifte. Die düsteren Häuser, so dicht, gleichsam engbrüstig aneinander gedrängt, waren zum Teil mit altertümlichem Schnitzwerk und hübschen Verzierungen versehen. Ich ging über kurze Brücken und schaute in stille, trübe, uferlose Wasserstraßen, auf denen lautlos und schwerfällig Boote dahinglitten. Hier sah man die Rückseite der Häuser. Ernst, schwermütig sah hier alles aus. In buntem Wechsel lösten sich die Bilder ab. Hatte ich mich staunend in den Anblick der stillen[122] Wasserstraße vertieft, so bog ich bald darauf wieder auf einen Platz oder in eine Straße, wo lebhaftester Verkehr alle Sinne anspannte. Hastig rannten die Menschen aneinander vorüber, so fremd erschienen sie mir in ihrem ganzen Gebaren, in ihrer Tracht, in ihrer Art, wie sie ihre Waren feilboten. Schwerfällige Frauen schrien mit schriller Stimme, weit vernehmbar: »Fri – – i – sche F – i – i – sch! La – ben – di – ge Scho – llen!«

Da, an der Straßenecke war ein dichter, schwarzer Menschenknäuel, weithin schallte die heisere Stimme eines Mannes. Er schrie in höchster Aufregung: »R–r–rreine Seide! Rrrei–ne Seide! Söß Schilling dat Stück! Ramsch! Ramsch! Kuddelmuddel! Söß Schilling!«

Ich schaute in Torwege hinein und sah mit Staunen, daß da, dicht ineinander geschoben, förmlich eingeklemmt, wieder hohe Häuser enge Straßen bildeten, wo unordentliche Frauen und schreiende zerlumpte Kinder hausten. Über all dem unaussprechlichen Gewirr ragte in erhabener Ruhe hie und da ein grüner Kirchturm gen Himmel.

Endlich, endlich war ich am Ziel! Ich hatte Straße und Nummer. Vor dem Hause stand eine große, robuste Frau und scheuerte die steinernen Stufen.

»Wissen Sie vielleicht,« fragte ich schüchtern, »ob in diesem Hause eine Frau Dietrich aus Sachsen wohnt?«

Die Frau goß das Wasser in den Rinnstein, stemmte die Arme in die Seiten, betrachtete mich prüfend von Kopf zu Fuß und rief dann lebhaft: »Kann't wull angahn!! Du büst woll de lütt Charitas ut Sachsen?! Wi töwt all lang op di!« Sie nahm Eimer und Scheuertuch und sagte freundlich: »Kumm, min söten Engel, wi will't sehn, ob Mutter to Hus is!« Ich folgte ihr erregt durch einen engen dunklen Hausflur. Am Ende des Ganges war eine Treppe, die Frau rief hinauf: »Fru[123] Dietrich, sind Se to Hus? Kamen Se man gau mal dal, lütt Charitas is da!«

Oben hörte ich einen Stuhl rücken, einen lauten Freudenruf, – und nun kam auch schon die Mutter die Treppe herunter geeilt. Mein Bündel warf ich zur Erde, damit auch allen Kummer, alle Angst der Seele, die mich seit langem beschwert hatten, und mit dem Ausruf: »Ach, Mutter! – Liebe Mutter! – Endlich!« flog ich meiner Mutter in die Arme.

Die Mutter drückte mich fest an sich, küßte mich und sagte zärtlich: »Du armes, gutes Kind! Hast du denn das ferne große Hamburg gefunden?«

»Ach, Mutter,« sagte ich, »jetzt gehe ich aber nie, nie wieder von dir! nicht wahr? Nun bleibe ich immer bei dir?«

Als mich die Mutter los ließ, nahm mich die große Frau in die Arme, hob mich hoch in die Höhe und gab mir einen schallenden Kuß, stellte mich sanft auf die Diele und sagte, indem sie sich mit dem Rücken der Hand die Augen wischte: »Ja, ja, min ol lütt Göhr, nu hewt wi di jo endlich!«

Fast als ob ihr die Rührung zu lange dauerte, sagte sie zur Mutter in munterem Ton: »Hüt giwt dat witte Bohnen. Mag de Lütt ok witte Bohnen?«

»Wie mögen Sie nur fragen, Madame Piepenbrink! Sie kochen ja so ausgezeichnet!«

Zu mir sagte die Mutter: »Geh mal mit Madame Piepenbrink in die Küche und wasch dich ordentlich nach der langen Reise, dann komm mit herauf und mach dich oben noch zurecht bei mir.«

Oben war ein geräumiger, düsterer Vorplatz, da hatte die Mutter Tische aufgestellt, die sie alle mit Pflanzen belegt hatte. Ach, wie mich das anheimelte! Unsere Pflanzen vom Forsthof, die ich zum Teil mit gesammelt[124] hatte. Merkwürdig wollte es mir scheinen, daß die lieblichen Blumen des Zellwaldes und die aus dem Muldental hier in Hamburg in einem düsterem Stadthause lagen. »Unsere Pflanzen!« rief ich zärtlich, »Mutter, wie gut, daß ich dir nun helfen kann!«

Ich erzählte mein Mißgeschick mit dem Tragkorb, während wir in das kleine dürftige Stübchen der Mutter traten.

»Der schöne, neue Korb!« sagte die Mutter bedauernd, »der hat doch viel Geld gekostet!«

Während die Mutter an mir herumputzte und bürstete, erzählte ich ihr von Voigtsberg und von der Reise. »Laß nur!« sagte sie in bezug auf Voigtsberg, »die Hauptsache ist, daß man keinen Schaden an der Seele nimmt! Augenblicklich kannst du noch nicht einsehen, daß du in einer guten Lebensschule gewesen bist. ›Wohl dem, der sein Joch trägt in der Jugend!‹ Es wird dir nach diesen Erfahrungen doch nie in den Sinn kommen, die Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Du wirst Respekt und Mitgefühl für die haben, die des Lebens Last tragen. – So, da ruft Madame Piepenbrink zu at Essen, das ist gut, denn nach dem Essen gehen wir aus.«

Das niedergesessene Roßhaarsofa in Madame Piepenbrinks Stübchen war schon recht schadhaft, hie und da guckte die Polsterung hindurch, es war aber trotzdem ein sehr gemütliches, altes Möbel und gewährte uns allen dreien Platz. »Du sitzst ja zwischen uns, wie das Dotter im Ei!« sagte meine Mutter lachend. Ja, das war ein Mittagessen in dem halbdunkelen Stübchen! Ich wurde von beiden Seiten gestreichelt und bekam auf platt- und auf hochdeutsch alle nur erdenklichen Kosenamen. Alle drei waren wir schwer geprüft, hatten die Pein der Einsamkeit durchkostet und hungerten nach Liebe und Verständnis! – – Nach den weißen Bohnen spendierte Madame[125] Piepenbrink jedem eine Apfelsine. Die Mutter schüttelte mißbilligend den Kopf über diesen Übermut.

»Ik will Se wat seggen, Fru Dietrich,« sagte Madame Piepenbrink, während sie mir die geschälten Apfelsinenscheiben auf den Teller legte und Zucker darüber streute: »dat duert doch ni so lang, denn wüllt Se wedder reisen, denn laten S' man dat lütt Göhr bi mi bliwen. Dacht hew ik dar all lang an, wenn Se mi von ehr vertellt har'n, abersten ik wull ehr doch irst sehen, ehr ik dorvun snakken wull. Na, ik mag ehr wull liden, un ik will ehr gern behol'n. Se schall hol'n warn as min eegen Kind! Mehr kann keen Minsch vun mi verlangen. Se sünd mi jo all wegstorben, de to mi hürt hebn. Ik stah so alleen. Wenn de Lütt sik god schickt, denn schall dat ehr Schaden nich sin. Wenn uns Herrgott mi mal to sik röpt, na – denn kriegt se min ganzen Kram! – Willst bi mi bliwen?!«

Ich sah fragend, ängstlich zur Mutter. Madame Piepenbrink war so gut, ich wollte sie so ungern kränken, – aber natürlich wollte ich doch am liebsten bei der Mutter bleiben! Die Mutter gab Madame Piepenbrink die Hand und dankte ihr gerührt, aber sie sagte, über meine Zukunft könnte sie noch nicht entscheiden. Über diesen Bescheid war ich unbeschreiblich glücklich, mir war so leicht und froh zumute, ich hätte die ganze Welt ans Herz drücken mögen.

Nun erhoben wir uns. Die Mutter band mir mein rotes Kopftüchelchen um den Kopf, hing mir das kurze, graue Mäntelchen mit dem schottischen Besatz um und wollte mit mir fort.

»Wat!« rief Madame Piepenbrink, »utgahn willt Se?! Is 'ne Sünd' un Schand'! Nich mal Kaffee drinken!? – Un ick hew so schöne, söte Kokens köft! – Ik meen, wenn die Lütt glücklich hier ankam, denn wullt[126] wi noch naträglich Wihnachten un Nijohr fiern! Un dat lütt Göhr is doch mäud von de Reis! Na, – nu kann ik mi wull alleen hersetten bi min Kaffee un Koken!«

Sie band sich eine weiße Schürze vor und gab uns ein Stück das Geleit. Draußen nahmen die beiden mich bei der Hand, und an der Straßenecke nahm mich Madame Piepenbrink in die Arme, küßte mich und vermahnte uns, ja bald wieder zu kommen, damit wir noch etwas vom Abend hätten. Auf diese wohlgemeinten Ratschläge meinte die Mutter, Madame Piepenbrink möge ja nicht mit dem Abendessen warten, denn sie könne nicht wissen, ob sie nicht Verhinderung hätte. So schieden wir. Ich sah mich noch einige Male um, da stand noch immer Madame Piepenbrink trotz des regen Verkehrs an der Straßenecke und winkte mit dem Taschentuch.

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 122-127.
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