Als ich wiederkam

[497] Dieselbe Stätte, die bis dahin all mein Glück geborgen hatte, wurde mir nun zu einem Ort der Qual. Ich sah im Geiste, wie in kurzer Zeit Fremde hier schalten würden, wie sie in der Liebe der Gemeinde wachsen mußten. Die tägliche Erinnerung an unser zerstörtes Glück ließ die Wunde nicht zum Heilen kommen. Da entschloß ich mich, mit meinen drei Kindern in die Einsamkeit der Großstadt zu flüchten.

Ja, einsam in der Großstadt!

So gingen Jahre.

Meine Jüngste kränkelte viel, da riet der Arzt, ich möge eine Reise mit ihr machen. Ich dachte lange nach. Wo lag der Ort, der soviel Interesse in ihr wachrufen würde, daß sie ihr eigenes Leid vergessen konnte? Da kam mir der Gedanke, wir könnten nach Sachsen reisen, in meine alte Heimat. Ich würde ihr die Geschichte meiner Jugend erzählen, und wir würden die Leute, die damit zusammenhingen, aufsuchen. Die älteste Tochter, die leitende Kindergärtnerin war, und der kleine Adolf fanden während der Zeit Unterkommen bei guten Freunden.

Wir aber reisten an einem schönen Sommertage in mein Heimatland! Je mehr sich der Tag zu Ende neigte, desto erregter wurde ich. Die Gegend weckte Erinnerungen, war mir doch, als sei das Jahrhunderte her, als sei ich vor undenklichen Zeiten schon einmal auf der Erde gewesen, so fern lag mir die Kindheit. War das wohl die Lommatzscher Pflege?! Richtig: Lommatzsch! Ich war aufs äußerste gespannt. Würde[497] der Zug durch Leuben fahren? Aber geht denn jetzt eine Bahn hierher? Freilich, vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Altes ist vergangen, Neues erstanden. Da liegt die Mühle! Bewegt muß ich der Gestalten und Namen gedenken, die beim Anblick der verschiedenen Häuser auftauchen.

Aber weiter geht der Zug. Andere Erinnerungen drängen sich vor. Da steht ja das Schulhaus! Im Fluge sehe ich die Pumpe vor der weiß getünchten Wand, die von dem grünen Gerank des Spalierobstes ganz überzogen ist. Daß hier schöne, süße Reineclauden wachsen, das habe ich nicht vergessen, wurde ich doch der eignen Kinderschar mit eingereiht, wenn der gute Kantor Märkel die Ernte vornahm. Nun ist alles vorüber. Ich setze mich in die Ecke und erzähle meiner Tochter von dem helltapezierten Stübchen, das ich mit Liesel und Hedel teilte, wenn ich zum Pflanzensammeln hier gastliche Aufnahme fand.

Abendschatten huschen über die Wiesen.


***


Wir haben Wohnung im »Romanus« bestellt. Diese Nacht bleiben wir in Nossen, und am folgenden Morgen fahren wir mit dem »Bähnchen« durch das liebliche Muldental nach Siebenlehn. Mitten im bewaldeten Tal halten wir.

»Hier,« sage ich und zeige auf das gegenüberliegende Ufer, wo eine einsame Halde liegt, »hier habe ich als ganz kleines Mädchen Gold gesucht. Es ist der ›fröhliche Sonnenblick‹.« Ich muß lächeln bei der Erinnerung, wie unendlich weit mir damals die Entfernung erschienen ist.[498]

Meine Tochter wunderte sich über den Namen unseres Hotels, und da erzählte ich ihr:

»Zu meiner Zeit war hier kein Hotel, hier war das Bergwerk Romanus. Meine Mutter hat mir erzählt, daß vor etwa 700 Jahren Italiener hierher gekommen sind, die haben geschürft und entdeckt, daß hier viel Edelmetall zu finden war. Sie errichteten auf dem Gipfel des Berges eine Gewerkschaft und gaben der Grube den Namen ›Romanus‹. Man sprach weit und breit von der Grube, als von einer, ›die da Silber spendete und Gold‹. Der Romanus ist vielen Wechselfällen unterworfen gewesen. Durch Krieg, Wassersnot und Pestilenz ist oft auf lange hinaus der Betrieb unterbrochen worden. Mit bewundernswerter Zähigkeit und Ausdauer nahmen aber die Siebenlehner Bergleute den verlorenen Posten wieder auf und verhalfen dem gefährdeten Romanus immer wieder zu neuem Aufschwung. Siegesfreudig erklangen dann die frommen Bergmannslieder wieder aus dem Betsal des Steigerhäuschens. Dann kam eine Zeit, da ging das Gerücht durchs Städtchen, die Grube sei erschöpft, sie werde den Betrieb einstellen. Darüber waren die Siebenlehner sehr traurig, denn sie waren stolz auf ihre sieben Gruben. Das Gerücht behielt leider recht. Der Gesang der Bergleute wurde immer schwächer, schließlich fuhr nur noch ein einziger Bergmann an, es war der Hauer Schramm. Man sagte, er könne sich nicht von der Grube trennen, trotzdem er beim Sprengen ein Auge eingebüßt hatte. Schließlich mußte er sich aber doch andere Arbeit suchen. Die leichteren Baulichkeiten wurden abgebrochen, die Einrichtungen und Maschinen[499] überließ man ihrem Schicksal, das Loch zur Einfahrt wölbte man zu, das Steigerhäuschen ließ man stehen.«

»Ob wir wohl in dem alten Steigerhäuschen wohnen werden?« fragte meine Tochter.

Wir bogen um eine Waldecke und befanden uns vor einem stattlichen Neubau, daran stand: Hotel zum Romanus, und hier schlugen wir unsere Wohnung auf.

Ja, da stand dicht dabei das alte Steigerhäuschen, ich betrachtete es lange sinnend und wunderte mich, daß es so klein war, ich hatte es als viel größer in der Erinnerung.

Vor dem Hause lag ein Gemüsegärtchen, in dem eine Laube stand. Ich setzte mich auf die Bank und betrachtete sinnend eine alte Frau, die vor uns in einem Rübenbeete lag und jätete.

Ich forschte in ihren Zügen: sollte ich dieses faltige, pockennarbige Gesicht vielleicht einst gekannt haben?

Die Alte schob das bunte Kopftuch nach hinten, so daß die Ohren frei wurden. Ein paar lange Ohrbummeln mit bunten Steinen besetzt, wurden sichtbar. – Diese Ohrbummeln, – die kannte ich doch? Die gehörten der Christel, der Magd von der Madame Hänel! War das wirklich Christel?

»Christel?« sagte ich leise fragend.

Die Alte war so eifrig bei der Arbeit, daß sie mich nicht gehört hatte.

»Christel,« sagte ich jetzt etwas lauter, »wollen Sie mich morgen besuchen, wollen Sie Kaffee mit mir trinken, und wollen wir mal wieder Kuchen zusammen essen, wie damals beim Menden-Jakob? Wissen Sie noch? Wie der seinen Geburtstag feierte?«[500]

Eine jähe Röte überflog das Gesicht der Alten, sie sah mich unsicher an und stotterte endlich: »Gott bewahre! Wer redt' denn noch von dem verrückten Kerl! Der is doch lange tot!«

»Ja, ja,« sagte ich, »das weiß ich, aber ich erinnere mich seiner noch ganz deutlich. Morgen wollen wir doch mal über alte Zeiten plaudern, nicht wahr?«

Christel stand jetzt auf, schüttelte die Erde von ihrer grauen Sackschürze und trat mit einem Ausdruck von Furcht und Neugier in die Laube.

»H–m! Nu – aber – wem sein Sie denn?« fragte sie in echt Siebelschem Dialekt.

»Nun raten Sie mal! Ich will den Hut absetzen. Nehmen Sie mal eine tüchtige Handvoll Jahre! Denken Sie an die Zeit, da der Menden-Jakob noch lebte. Wer war denn dabei, als er seinen Geburtstag feierte, wozu er die schönen Kürbiskuchen gebacken hatte, die Madame Hänel nicht essen wollte, und die sie unterm Tisch Ihnen und mir zuschob? Wissen Sie denn das nicht mehr?«

Ich machte Platz auf der Bank, aber die Alte schüttelte den Kopf und rührte sich nicht von der Stelle. Endlich sagte sie langsam: »Na? – Sie sein doch – nich – etwa –? Na, die Kleene vom Forschthof?«

»Ja Christel, die bin ich.«

»Nu – so – was? –! Is 'n das de Dochter? Un ich soll morgen zu Sie zum Kaffee kommen? Hm! – Hm! Was wird'n da de Frau Wert'n sagen?«

»Mag die sich auch mal wundern. Sie müssen mir viel erzählen. Ihre Madame – –?«

»Ä, die is doch lange tot, – sunst wär ich doch[501] ni hier. Se wissen wohl gar ni, daß ich mei fufzigjähriges Jubiläum gefeiert hab! Schade, daß Se nich derbei war'n. Da gab's ooch Kuchen, aber den steckte niemand untern Tisch. Der Kantor war da, und der hielt 'ne Rede.«

»Das hatten Sie verdient! Und Huldinchen?«

»Ach Gott! Ooch tot! Die finden Se alle uf'm Gott'sacker.«

»Wo ist denn der schöne Strauß hingekommen, den damals das Huldinchen aus der Pension mitbrachte?«

»Das wissen Se ooch noch? –! Nu der steht bei mir im Glasschränkchen. Der is fast noch ebenso scheen wie vor vierzig Jahren. Ich hab' aber ooch immer en Flor drüber. Die Farben sind en bißchen blasser.«

»Das geht uns selbst nicht besser!«

»Nu nee. Ach, dazumal, das war doch de scheenste Zeit meines Lebens, damals, wie de Madame noch Witwe war, und wie das Huldinchen noch so jung und hübsch und glücklich war. Na, – nachher war's ni mehr so hübsch bei uns, da kam der fremde Mann mit den fremden Kindern. Ich war noch beim erschten gewesen und konnte mich ni an den zweeten gewöhnen. Na, nu sein se alle fort, un mich haben se alleene zurückgelassen.«

Ich drückte der Alten die Hand und ging nachdenklich auf mein Zimmer.

Ich konnte kaum die Zeit erwarten, daß wir gegessen hatten, ich wollte so gern ins Städtchen. Merkwürdig: ist denn die Erde, die unser Fuß betritt, nicht überall die gleiche? Weshalb zittern mir die Knie, als ich den Weg nach der Niederstadt einschlage? Mir[502] klopft das Herz wie einem Kinde, das vor der Weihnachtsstube steht und das Altbekanntes, aber auch Neues erwartet. Hat heimische Erde einen so besonderen Zauber an sich?

Langsam, mit einem Gefühl, gemischt aus Neugier und Erinnerung, betrete ich die Niederstadt. Vieles fällt mir auf als neu, aber es ist mir nicht lieb.

Das aber ist wie früher: Die Schusterfrauen sitzen auf ihrem dreibeinigen Schemel draußen vor den Türen und ziehen fleißig den Pechdraht durch die Schäfte der Stiefel.

Bei meinem Gruß sehen sie neugierig auf. Ich bleibe suchend stehen und sehe mich um. Hier muß doch der Platz sein, wo das Häuschen der Großeltern gestanden hat. Aber es ist nicht mehr da.

Das Neue, das seine Stelle einnimmt, hat gar kein Interesse für mich. Ach wie schade, daß das alte, kleine Haus weg ist!

Wie im Traum steig' ich den Berg hinan, der zum Marktplatz führt. Fremdes, Neues auch hier. Das Haus des Schmiedebäckers ist verschwunden.

Der Platz, wo früher im Sommer durch all die Kindheitsjahre hindurch das Laudel-Riekchen mit ihrem Obstkorb saß und pfennigweise ihr Obst an die naschhafte Jugend verkaufte, der ist jetzt leer!

Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht. Ich suchte Genossen meiner Kindheit und alte, halb vergess'ne Häuser.

War denn der Marktplatz immer so still und so klein gewesen? Wer mag der alte Mann sein, der sich uns langsam nähert?[503]

Ich muß ihn mal anreden, ich frage ihn nach der Nendel-Ernestine.

Er sieht mich sinnend an und sagt langsam: »Die? Die ist doch schon lange mit dem Schuster Putzger verheiratet. Sie wohnt da drüben.«

»Sie sehen,« sage ich entschuldigend, »daß ich nicht recht mehr Bescheid weiß, ich bin lange weg gewesen, vielleicht sind Sie auch ein alter Bekannter von mir, wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen?«

»Ich heiße Roscher,« sagt der Mann.

»Roscher?« Ich denke nach. »Ja, ja,« rufe ich lebhaft, »ich weiß schon! Sie sind Lohgerber! Sie wohnen in der Entengasse, der Apotheke gegenüber!«

Der Alte lächelte. »Sie meinen meinen Vater!«

Ich sehe ihn sinnend an und sage mir, daß ich bei jedem Wiedersehen bedenken muß: es liegen vierzig Jahre dazwischen.

»Vielleicht sind wir Schulgefährten gewesen,« sage ich, »können Sie sich auf die Charitas vom Forsthof besinnen?«

»Natürlich! Sehr gut!«

Er ladet mich ein, im Vorbeigehen bei ihm vorzusprechen.

Als ich in das bezeichnete Haus trete, steht ein kleines, verwelktes Figürchen mit ergrautem Haar in der Küche und mustert mich erstaunt.

»Ich bin Frau Bischoff,« sage ich. Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Wohin wollen Sie denn, ich kenne Sie nich.«

»Also Frau Bischoff kennst du nicht,« sage ich neckend, »aber kennst du vielleicht Dietrichs Charitas?«[504]

»Du wärscht de Charedas?!« ruft sie erstaunt, »aber wenn du de Charedas bist, da komm doch mit rein in de Stube! Daß du noch mal wieder kämst, das hätt' ich doch ni gedacht! Ach, weeste noch, wenn wir egal die Kreiter suchten und das eklige Viehzeug, Raupen und Schlangen! Ha! wie ich eifersüchtig war! Kannste dich noch besinnen uf das Schauspielermädel mit den blonden Locken? Ach, ich wollt' ja wieder gut zu dir sein, aber da warschte mit eenmal weg! So weit weg! Da hab' ich mich so nach dir gebangt! Ich dachte immer, du würdest mir mal schreiben, aber nee! Nichts hab' ich von dir, wie die kleene Puppenkommode, – weeste? – Und das Leibbändchen!«

Ich sah sie fragend an.

»Na, ich hol's glei,« sagte sie erregt und verschwand in der Kammer.

Richtig! Da war wahrhaftig das längst vergessene Spielzeug. Auf knallrotem Grunde leuchtend gelbe Tulpen. Und dreibeinig war sie immer gewesen, das war sie auch noch.

»Ja,« sagte Ernestine, als sie meinem Blick folgte: »Der Vater hat ihr immer das vierte Bein machen wollen, ich hab's aber ni gelitten! G'rade so soll se bleiben, wie ich se von der Charedas gekriegt hab'. – Ich war doch immer deine allerbeste Freundin, ni wahr?«

Mir wurden die Augen feucht.

»Und was ist es mit dem Leibbändchen?« fragte ich.

Ernestine öffnete eine der winzigen Schiebladen und reichte mir einen länglichen Zeugstreifen.

»Weest denn du das gar ni mehr? Wenn du zum Spielen kamst, brachtest de oft hübsche, bunte Flicken[505] mit, und dadrmit hattest du dann immer großartige Pläne, was de alles für die Puppe machen wolltest. Kleeder, Mäntel, Hüte und Hauben, und wenn ich wirklich was Feines gemacht hatte, da warst du ni weiter, als du hattest so en Streifen, und wenn wir dich fragten, da sagtest de: ›Hm, 's is eben doch wieder e Leibbändchen geworden!‹

Wenn wir dich auslachten, nahm dich meine Mutter in Schutz und sagte: ›Helft der nur zurecht, die lernt so was in ihrem ganzen Leben nich. Die muß doch egal dem närr'schen Vater helfen.‹«

»Nun ja,« sagte ich wehmütig lächelnd, »was gestalten wir denn schließlich aus alledem, was uns das Leben bietet! Ich freue mich, daß du unsere Kindheitserinnerungen so treu gehütet hast. Ich konnte nur bewahren, was das Herz faßt.«

Als wir uns trennten, mußte ich versprechen, noch oft vorzukommen.

Nach einigen Tagen machte ich der Frau Apotheker einen Besuch. Wir hatten als Kinder im Hause ihrer Eltern Theater gespielt. Als sie mein Interesse für das Städtchen sah, holte sie ein in Schweinsleder gebundenes Buch und gab es mir zur Durchsicht mit. Es war eine alte Chronik, die einst die Mönche in Alt-Zella verfaßt hatten. Bald fand ich, was sie über meine Heimat erzählt hatten:


Siebenlehn.

»Das Lager dieses Städtleins belangend, ist selbiges von seinem ehemaligen Regierungsplatze, dem Kloster Zella, wie auch heutigem königlich und kurfürstlich sächsischem Schlosse und Amtshause Nossen, von jedem nur[506] eine halbe Meile abgelegen. Von seiner Kreys- und Berghauptstadt Freyberg aber eineinhalb Meile, nächst bei der Straße, so durch dessen Feldflur von Nossen her nach Freyberg gehet, gelegen. Mehrere Distantien benachbarter Städte anzuführen, wird nicht nötig sein, weil man von Siebenlehn aus nordwärts durch Nossen, südwärts auf der Freybergischen Straße und westlicher Seite durch den Zellwald ins ganze Land herum kommen kann. – Den Ursprung und Anbau betreffend, rührt selbiger unstreitig von seinen uralten, und weyland wohlschüttenden Bergwerken, die unter die ältesten des Landes zählen. Denn als man in Freyberg zu schürfen anfing, waren die Siebelschen Bergwerke in vollem Flor und hießen damals schon was Altes.

Weil nun die Bergleute gerne zehren des Brotes, Fleisches, Bieres, des Unschlitts zu Schmeer und zu Grubenlichtern, auch des Leders und Eisenwerkes nicht lange entraten können, noch weit danach laufen wollen, haben sich bald etliche Handwerker zu ihnen gesellt und damit denen Bergleuten rechte Lust, das Werk mit Freuden anzugreifen, gemacht.

Dieses achte also vor den ersten Anbau des damals noch ganz öden Platzes und Rodelandes, welchem man folgends den Namen Siebenlehn gegeben hat.

Nämlich, da einer zur selben Zeit eine neue Fundgrube ausgeschürfet und eidlich hat bezeugen können, daß er der erste Fünder derselben gewesen, hat ihm der Bergmeister mit einer Schnur so viel vermessen, daß er sieben Lehen bekommen, welche er alle durch besondere Gruben oder Pingen hat bewältigen müssen. Die sieben Gruben aber hießen:[507]

1. Der Zimmermannsschacht.

2. Der Romanus-Erbstollen.

3. Der kleine Roland.

4. Der Markus-Erbstollen.

5. Der Gott allein die Ehre-Erbstollen.

6. Zur neuen Versorgung Gottes.

7. Der fröhliche Sonnenblick.

Ob nun wohl sotaner reiche Bergsegen nach und nach geringer geworden, und mit der Zeit fast hat gar verschwinden wollen, so haben doch die Nachkommen deswegen nicht dürfen Hunger leiden, oder ihre altväterlichen Sitze ledig stehen lassen, sondern zu ihrer Nahrung und Hantierung bald andere Gewerbe gefunden, haben sich auch bis dato damit so wohl fortgebracht und in Kunde gesetzt, daß man von Siebenlehn in und außer Landes fast mehr zu reden weiß, als von mancher großen und volkreichen Land-Stadt. Dann haben die Siebenlehner auch für ein sonderbares Glück und Ehre zu achten, daß obgedachtermaßen unterschiedlich hier geborene und erzogene qualifizierte Stadt-Kinder der Kirchen Gottes und gemeinem Wesen zu Dienst in- und außer Landes nützliche Leute worden, und zum Teil in vornehmen Bestallungen gelebt, damit sie diesen ihren Landsleuten mit Rat und Tat auch beförderlich und verträglich sein können.«


***


Wie man sich doch verändert! Wie ängstlich hatte ich während meiner Kindheit das Sattlerhaus in der Niederstadt gemieden, und wenn ich den Mann von weitem sah, war ich ihm eilig aus dem Wege gegangen,[508] hatte ich doch jedesmal Angst, er könne wieder den Lederriemen nehmen und mich so unbarmherzig schlagen.

Und heute?

Heute suchte ich das Haus, heute wollte ich mich mit dem Manne auseinandersetzen. Ich wollte ihm sagen, daß ich ihm verziehen habe.

Auf dem Wege dahin durchwanderte ich im Geiste die ärmlichen Räume. Wie deutlich sah ich sie vor mir! Unauslöschlich hatten sie sich meinem Gedächtnis eingeprägt.

Durch die Wohnstube kam man in die enge, winkelige, dumpfe Werkstätte, die angefüllt war mit Pferdekummeten, zerrissenen Matratzen, durchgesessenen Stühlen und Haufen von verfilzten Haaren, die ich nach der Schulzeit auszuzupfen hatte. O, ich wußte noch ganz genau, wie viel weicher sich Kälber- als Kuhhaare zupfen ließen.

In die Werkstätte war der Backofen gebaut, auf seiner runden Buchtung lagen Bretter, worauf die Lederreste lagen, der Sattler hob mich manchmal hinauf, damit ich aufräume und das Leder sortiere, gewisse Abfälle nannte er Leimleder, die mußte ich in einen besonderen Beutel sammeln. – Zwischen Backofen und Wand war ein schmaler Gang, da war auf der Diele mein Lager hergerichtet. Diese Schlafstelle behielt ich aber nur so lange, bis die Ferkel kamen, die vertrieben mich. Der Mann sagte: »Die müssen's warm haben, das Mädel kommt auf den Boden.«

Der weite, dunkle Boden aber hatte mir große Furcht eingeflößt, und mir war's in der Erinnerung, als hätte ich Nächte hindurch nach der Mutter geweint und mich in Sehnsucht nach ihr verzehrt.[509]

Ich hatte ihr laut mein Leid geklagt und ihr heilig und teuer versprochen, immer gut zu sein, wenn sie nur kommen und nie wieder von mir gehen wollte.

Wie hatte ich diese Versprechungen gehalten? –! Unter diesen Gedanken und Erinnerungen hatte ich die Stätte erreicht. Ich sah mich um, aber was war das? Hier stand ja gar kein Haus, – nichts stand da, ich befand mich vor einem leeren Platz, der etwa den nächsten Häusern als Bleichplatz dienen konnte.

Ich hatte in aller Stille hingehen wollen, jetzt aber mußte ich fragen, wo Sattler Triebel wohnte. – Der Mann, den ich fragte, sah mich erstaunt an und sagte nach einer Pause: »Wen suchen Sie? Den Sattler Triebel? Der is lange tot, seine Frau wohnt an der Nossener Straße.« Er beschrieb mir das Haus, und ich wanderte in tiefen Gedanken dahin. Für ihn kam ich zu spät.

Als ich das dürftige Stübchen betrat, schlug mir ein beißender Qualm entgegen, so, als ob man nasses Holz verbrenne.

Durch den Qualm hindurch entdecke ich am Fenster eine alte Frau, die mir bei meinem Eintritt erstaunt das Gesicht zuwendet.

»Guten Tag!« sage ich hustend, »sind Sie Frau Triebel? Sie erlauben wohl, daß ich das Fenster öffne. Draußen ist so herrliche Luft, lassen Sie sie herein! Bei der Wärme haben Sie noch eingeheizt?«

Auf dem Gesicht der Frau malt sich maßloses Staunen, daß ich so eigenmächtig über ihren Qualm verfüge.[510]

»Nu,« sagt sie gereizt: »'s Holz muß naß sin, ich hab' mersch erscht heite aus 'm Zellwalde geholt.«

»Aber weshalb heizen Sie denn bei dem warmen Wetter noch ein?«

»Nu,« sagt sie ärgerlich, »wie sull ich'n sunst mei bissel Wassersuppe kriegen! Mieze, runter da, laß die Dame sitzen.«

Sie nimmt ein Bündel alter Kleidungsstücke, auf denen die Katze gesessen hatte, fort, deutet auf den Stuhl und nimmt mir gegenüber Platz.

Wir sehen einander forschend ins Gesicht, wir sind einander ganz fremd, keine findet in der anderen auch nur die entferntesten Spuren einstiger Bekanntschaft.

Endlich sagt die Frau mit einer leisen Verstimmung im Ton: »Ich kann mich doch gar ni besinnen, daß ich Ihnen schon gesehen hab'? –! Wem sein Se denn eegentlich, un was wollen Se denn bei mir? Se sein gewiß im Errtum un woll'n gar ni zu mir!«

»Nein, Frau Triebel,« sage ich ernst, »ich bin nicht im Irrtum! Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, fällt es Ihnen wohl ein, daß Sie mich gekannt haben. Es ist allerdings lange, sehr lange her!«

Die Alte sieht mich prüfend an und schüttelt den Kopf, dann sagt sie sehr entschieden: »Nee, ich kann mich gar ni besinnen.«

»Erinnern Sie sich wohl, daß Sie vor langen Jahren einmal ein Kind vom Forsthof bei sich hatten?«

Die Alte sieht mich starr an, dann sagt sie langsam: »Nu – freili – besinn' ich mich – das war doch die von Dietrichs, de kleene Char-e-das?«

Ich nicke. »Die bin ich.«[511]

»Ä! Is'n wahr?! Sie wär'n de kleene Char–e–das?!«

Ich nickte wieder. Die Alte seufzte tief, ließ den Kopf auf die Brust sinken, schloß die Augen und sagte leise: »Weihnachten! Ach Gott, das Weihnachten! Ja, ja, er war garscht'g zu dir, sehr garscht'g! Und's war doch der David gewest!«

»Was?« rief ich lebhaft, »der David?! So ist es also doch noch herausgekommen? Und das erfahre ich erst heute? Nach vierzig Jahren? –!«

»Ich selber hab'n zum Geständnis gebracht! Wie hab' ich meinen Mann gebitt', er soll doch zu dir uf'n Forschthof gehn und's dir mit dem David sagen, aber er hat mich ausgelacht un gesagt: en Kinde tut man doch keene Abbitte! Ich hab's gar ni verwinden können. Viele Weihnachten nachher hab' ich egal an dich denken müssen. – Ja, siehste, nu kann er nischt mehr gut machen!«

Sie stützte den wackelnden Kopf in die verschrumpelten Hände und sann lange nach, dann sagte sie seufzend: »Ach, du lieber Gott, er hat e schweres Ende gehatt!«

Ich drückte ihr zum Abschied die Hand und ging, in ernste Gedanken versunken, um weitere Beziehungen aus ferner Vergangenheit aufzusuchen.

Schließlich fragte ich nach den beiden Sparmanns. Man wies mich in ein Hinterhaus. Ich fand nur noch den großen, der kleine war vor kurzem gestorben. Trotz der mancherlei Veränderungen, die auch hier während der vierzig Jahre vor sich gegangen waren, fand ich auf der Kommode, auf demselben Platz wie vordem, das Buch von der Christenverfolgung. Wie sonderbar, daß[512] meine alten Augen wieder auf den grellbunten Bildern ruhten!

Wir sprachen auch hier von alten Zeiten, von dem Besuch der beiden in Hamburg, und der große Sparmann konnte sich nicht genug wundern, daß auf der schönen Lombardsbrücke keine Windmühle mehr steht, daß alle paar Minuten der Eisenbahnzug darüber rasselt.

»Das kann nicht mehr schön sein,« meinte er, »ich bin froh, daß ich mit dem kleinen Ernst noch in aller Ruhe auf die schöne Alster sehen konnte.« Wir trennten uns, und ich suchte den Kleinen auf dem Gottesacker.[513]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 497-514.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Bilder aus meinem Leben
Bilder Aus Meinem Leben (Hardback)(German) - Common
Bilder Aus Meinem Leben - Ein Frauenschicksal Um Die Jahrhundertwende in Hamburg. Autobiographie (Paperback)(German) - Common
Bilder aus meinem Leben – Ein Frauenschicksal um die Jahrhundertwende in Hamburg. Autobiographie

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon