Der kleine Junge

[492] Der große Heiny kam nicht wieder. –

Statt seiner kam im nächsten Jahr als Weihnachtsgeschenk ein anderer Junge. Diesmal war's ein ganz kleiner, – und der blieb.

So klein wie er war, er rüttelte an den bestehenden Verhältnissen und warf sie um, nicht gleich, aber im Verlauf einiger Jahre.

Und dabei hatte trotz seiner Anmeldung niemand an die Möglichkeit seines Kommens geglaubt. Stine schüttelte den Kopf und wollte nichts damit zu tun haben. Nein, gar nichts! Sie verwies uns an den Arzt in Riepen. Der sagte: »Ein Kind gibt's nicht, aber damit wenigstens die Frau gerettet wird, will ich sie selbst nach Kopenhagen in eine Klinik bringen.«

Das war sehr menschenfreundlich, aber mein Mann lehnte doch dankend ab.

»Wir wollen mit unsrer Not im Vaterlande bleiben.«

Von Kiel kam ein Arzt, und mit ihm und unserer Ältesten reiste ich Anfang November nach Kiel.

Kurz vor Weihnachten kam der kleine Junge.

Ein Pastor hat während der Festzeit besonders viel in seiner Gemeinde zu tun, und selbst wenn mein Mann hätte kommen können, so hielt ihn in diesem Falle der Beschluß des Arztes fern. So kam es, daß ich das Fest mit meinem ältesten und jüngsten Kinde fern vom Heim, doch dankbar und glücklich verleben durfte.

Chary wohnte zuerst auf Forsteck, aber als Meyers ihren Winteraufenthalt in Hamburg nahmen, war Klaus Groth so freundlich, sie zu sich einzuladen.[492]

Erst im März kehrten wir mit unserm Weihnachtspaket ins Pastorat zurück. Nun erst konnte mein Mann seinen Sohn taufen. Nach unserm väterlichen Freund, Doktor Meyer, erhielt er den Namen: Adolf. Die Schwestern suchten für das Brüderchen einen Kosenamen, sie nannten ihn: Addi. Mein Mann meinte, da ich ihm ein so willkommenes Weihnachtsgeschenk mitgebracht hätte, möchte er mir auch eine Freude machen, er möchte mir eine Uhr schenken. Damit aber war ich nicht zufrieden.

Was ich denn wollte? fragte mein Mann erstaunt.

Ich wünschte nicht weniger, als er möge sich weg bewerben. Ich erinnerte ihn an die letztvergangene, schwere Zeit, an den aufregenden Abschied vom Heim, an die angstdurchwachten Nächte vorher und nachher.

Er hielt mir die Jahre ungetrübten Glückes entgegen. Ich blieb aber bei meiner Bitte. Das, was unser Glück ausmachte, die Kinder, die würden wir ja mitnehmen. Aber der Junge mußte in einigen Jahren zur Schule, da wäre es doch gut, wenn wir in eine Stadt mit Gymnasium kämen.

Mein Mann gab seine Zustimmung, und von da an studierte ich eifrig alle Vakanzanzeigen, die Amtsblatt und Zeitungen brachten.

Nach siebzehnjährigem Aufenthalt in Nordschleswig hielt mein Mann der Gemeinde in Roagger die Abschiedspredigt. Die Kirche war gedrängt voll. Der Segen war gesprochen, aber niemand verließ seinen Platz. Erst nachdem wir durch die Bänke geschritten waren und jedem ein besonderes Abschiedswort gesagt hatten, zerstreuten[493] sich die Leute. Aber viele kamen am nächsten Tage ins Pastorat, um uns noch einmal zu sehen, und um uns auszusprechen, wie ungern sie uns ziehen sähen. Da brachte die eine noch ein Huhn, die andere eine Flasche Rahm, die dritte ein Stieg Eier, alle aber kamen mit guten Worten und machten mir jetzt durch ihre Freundlichkeit das so sehr ersehnte Fortgehen schwer.[494]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 492-495.
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