Kindheit.

Die Unterhaltung war damit zu Ende, und an die Erfüllung meines Versprechens denkend, will ich einige Blätter meines Lebensbuches vor euch aufschlagen, und wo ihr vielleicht denkt, daß das Gedächtnis der Alten manches vergessen und anderes hinzugefügt hat, um für die Sache Interesse zu erregen, da sage ich euch, daß alles, was ihr lesen werdet, wirklich erlebt ist.


Mein Vater: Friedrich, Heinrich, Bernhard, Alexander von Bismarck-Schönhausen, geb. den 13. April 1783, vermählte sich als Leutnant im Leib-Karabinier-Regiment den 1. Januar 1805 zu Stechow mit Caroline, Luise, Charlotte von Bredow aus dem Hause Landin.

In den ersten Jahren ihrer Ehe haben meine Eltern in Rathenow gelebt, wo mehrere Kinder geboren wurden und früh starben.

Mein Vater, der jüngste von 13 Kindern, stand mit 5 Brüdern beim Leib-Karabinier-Regiment, dessen Chef mein Großvater Bismarck als Generalleutnant war. Mein Vater war mit 13 Jahren als Junker eingetreten.

Einen eigenen Mittagstisch führten damals die jungen Ehepaare nicht; alle Offiziere, verheiratet oder nicht, aßen beim Chef des Regiments, welcher Tafelgelder dafür bekam.[13]

Da war es nun ein greller Kontrast für meine Mutter, als 1806, beim Beginn des Krieges das Regiment ausrückte, und sie dann bald, nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt, in die ganze Unruhe des Kriegslebens hineingezogen wurde.

In Rathenow wurden viele Franzosen einquartiert, und meine Mutter war die einzige in der ganzen Stadt, die Französisch verstand, auch, was mehr war, geläufig sprach.

Ihre eigene Mutter war früh gestorben; sie hatte durch die Schriftstellerin Caroline de la Motte-Fouqué, die Besitzerin des in der Nachbarschaft von Landin befindlichen Gutes Nennhausen, eine weit über das Niveau der Allgemeinheit gehende Bildung erhalten.

Mit ihren Sprachkenntnissen mußte sie nun überall vermitteln. Waren Streitigkeiten beim, Bürgermeister, gab es Zank zwischen den Leuten, gleich hieß es où est donc cette dame, qui parle français? und diese Frage führte die Leute oft bis an das Bett meiner Mutter.

Auch aus Schönhausen zogen Hilfesuchende bei ihr ein. Schönhausen lag an der großen Heerstraße Magdeburg–Berlin und wurde so von feindlichen Truppen überschwemmt; diese hatten übel gehaust und die Einwohner vielfach gequält und mißhandelt. Auf dem Gutshofe war alles drunter und drüber gegangen; noch lange Zeit erinnerten die alten Ahnenbilder, denen die Franzosen aus Übermut die Augen ausgestochen hatten, daran. So floh denn auch mein Onkel, der Vater des Fürsten mit seiner Familie, und der Ortsgeistliche, Pastor Petri, begleitete ihn mit den Seinen. Sie hatten den langen Weg nach Rathenow, wohl über 3 Meilen, zu Fuß gemacht[14] und die Nacht auf einer Wiese am Wege »der Trüben« genannt, zugebracht. Meine Mutter erzählte, sie seien alle in desolater Verfassung, in übereilter und durch das Nachtlager im Freien nicht gebesserter Toilette bei ihr erschienen.

Mein Onkel, in Piqué-Jacke habe ihr zugerufen: »Cousinchen, retten Sie uns!« Ihrer Sprachfertigkeit ist es denn gelungen, daß Marschall Soult, der bei ihr einquartiert war, eine Sauvegarde bewilligt hat. Unter dem Schutze derselben sind die Flüchtlinge heimgekehrt und vor der ferneren Roheit der Soldaten bewahrt geblieben.

Die späteren Kriegsjahre hat meine Mutter in Schönhausen verlebt, wo sie allein dem großen Haushalt vorstand und den vielen Anforderungen der zahlreichen Einquartierung gerecht werden mußte. Da sind denn alle Nationen an ihr vorüber gezogen Franzosen, wenn auch anspruchsvoll, doch der Dame gegenüber immer höflich, Schweden, Russen und, durch Roheit der Schrecken aller, Italiener.

Die Bequemsten sind die Russen, vor allem die Kosacken, gewesen. Auf dem Platze vor dem Hause wurden Feuer angezündet und darüber Dreifüße und große Waschkessel gesetzt. Darin wurde Mehlsuppe gekocht und, nachdem sie mit Talg gewürzt, faute de mieux wurden auch Talglichter verwandt, vom Popen geweiht und dankbar verzehrt.

Nicht so leicht konnten die anderen befriedigt werden. Durch die Kontinentalsperre waren alle Kolonialwaren auf enorme Preise gestiegen; ein Pfund Kaffee kostete 1 Taler 8 Groschen, Zucker ebensoviel. Da wurde Roggen und Gerste gekocht, mit Sirup aus Mohrrüben. Schweine, Rinder, Hühner,[15] Tauben wurden in Massen geschlachtet, aber reichte das alles für immer neu Herzuströmende?! Kartoffeln, die jetzt so allgemein als Nahrungsmittel dienen, waren damals bei weitem nicht so verbreitet, so war man in der Hauptsache auf Korn angewiesen. Schönhausen zählte zwar zwei Windmühlen, aber wie sollten sie den Bedarf an Mehl zu Brot und Suppen schaffen, wenn Windstille eintrat? Da gab es wohl oft Hungernde und noch mehr Unzufriedene, die sich zu Roheiten verleiten ließen. Erzählte doch meine Mutter, daß ihr ein Italiener mit erhobenem Säbel bis ins Zimmer gefolgt sei, und nur das plötzliche Erscheinen eines Offiziers sie vor Mißhandlungen geschützt habe.

Mein Vater blieb in all den Jahren abwesend. Er war mit dem Karabinier-Regiment ausgezogen. Ob nun dienstliche Bestimmungen oder sein unsteter Geist ihn davongetrieben, weiß ich nicht, jedenfalls hat er während der nun folgenden Kriegsjahre an verschiedenen Stellen gestanden. Er war ein geistig sehr reich begabter Mann, jedoch ist es begreiflich, daß bei der Art und Weise der damaligen Schulbildung sein wissenschaftlicher Standpunkt kein sehr hoher war, als er mit 13 Jahren als Junker in das Regiment seines Vaters eintrat.

Der Generalleutnant v. Bismarck war während der Kindheit seines Sohnes fortwährend abwesend, da er zu den Truppen gehörte, die an der französischen Grenze recht untätig standen. Die höheren Offiziere, unter ihnen Blücher, vertrieben sich die Zeit mit Spiel. Da ist wohl wenig genug für den Haushalt in Rathenow geblieben. Nach meiner Mutter Erzählungen hat ihre Schwiegermutter oft nicht gewußt, woher das Geld schaffen, um den Kindern die Schuhe flicken zu lassen. Bei der[16] Wahl des Hauslehrers entschied sie sich für den, der am wenigsten Bier trank.

Da war natürlich wenig für die Geistes- und Willensbildung des aufgeweckten Knaben geschehen. Er folgte auch im späteren Leben jeder Regung des Augenblicks. So trat er als verheirateter Mann dem Schillschen Korps bei, als dies, vom Exerzierplatz bei Berlin aus fortziehend, eigenwillig die Befreiung Magdeburgs unternehmen wollte. Auf diesem Wege wandte Schill sich unserer Heimatgegend zu, und mein Vater erschien plötzlich in der Nacht in Schönhausen. Der Großvater lebte damals dort als verabschiedet und empfing, wie meine Mutter erzählte, den Sohn mit den Worten: »Seid ihr denn alle splitterrasend toll.«

Mein Vater hat zu denen gehört, die noch zeitig zurückgekehrt sind, und so ist er dem Geschick derer, die den Tod durch Erschießen fanden, entgangen.

Er hat dann die Freiheitskriege im Lützowschen Korps und teilweise im russischen Dienst, unter Tettenborn, mitgemacht, immer mit Auszeichnung, da ihm hohe Orden zuteil wurden, darunter der Pour le mérite, der St. Annen-Orden und ein ebenfalls vom russischen Kaiser verliehener goldener Säbel.

Als Rittmeister im 2. Westpreußischen Dragoner-Regiment nahm er den Abschied.

In Friedenszeiten ist ja gewiß dem Offizier wissenschaftliche Bildung unerläßlich, um ihn höhere Ziele erreichen zu lassen; in einer Zeit, erst nationaler Erniedrigung und dann Erhebung aber, wo es gilt, das Vaterland zu retten und Weib und Kind zu schützen, da überflügelt der ritterliche und bedeutende Geist die Mängel seiner Ausbildung leichter.[17]

Zu damaligen Zeiten war Schönhausen in zwei Bismarcksche Höfe geteilt. Der eine, größere, mit dem benachbarten Gute Fischbeck, gehörte meinem Vater. »Der andere Hof«, wie das Gut mit dem älteren Hause dort genannt wurde, befand sich im Besitz seines Vetters, Ferdinand von Bismarck, des Vaters des nachherigen Reichskanzlers.

Im August des Jahres 1815 bin ich, Hedwig, in Schönhausen geboren. Wenige Monate vorher hatte auf dem anderen Hofe mein großer Vetter das Licht der Welt erblickt.

Taumel und Freude über die großen Siege, die das Jahr gebracht hatte, erfüllten alle Herzen. Ihm hat man Namen gegeben, die nicht weiter an die Siegeszeit erinnern; mich bewahrte nur die ruhige Überlegung meiner Eltern davor, Sieglsmunda genannt zu werden; diesen Namen hatte die Freundin meiner Mutter, Baronin de la Motte-Fouqué, die meine Pate sein sollte, in ihrer dichterischen Phantasie für mich erdacht. Sie stimmte dann, als dies abgelehnt war, für Siegfriede und ergab sich schließlich, wenn auch trauernd, wie meine Mutter erzählte, darein, daß meinem Rufnamen Hedwig noch Auguste Viktoria hinzugefügt wurde. Es wäre dieser begeisterten Patriotin gewiß eine große Freude gewesen, wenn sie geahnt hätte, welch bedeutende Rolle diese beiden Namen einst im deutschen Kaiserhause spielen würden.

Von den dichterischen Gaben meiner Pate habe ich nichts geerbt. Ich bin als ein höchst prosaisches Gemüt durchs Leben gegangen, dies schloß aber nicht aus, daß ich ein lebhaftes, glückliches Kind war, eine, meinem Vetter Otto damals ebenbürtige Spielgefährtin.

Alle Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, teilte er[19] mir freundlichst durch Ansteckung mit. Die Macht, die er später der Welt gegenüber ausübte, erstreckte sich damals hauptsächlich auf mich – die allerdings gern und willig seinen Wünschen folgte. Meine Mutter wurde in Anerkennung unserer Leistungen zu dem Ausspruch veranlaßt: »Was du nicht allein an Torheiten weißt, das lernst du von Otto.« Wer hätte wohl damals in dem wilden Jungen den Lenker der Weltgeschichte späterer Jahre geahnt!

Wie oft haben wir beide in dem großen Saal unseres Hauses bei Familienzusammenkünften am Katzentisch gesessen!


Mich entsetzte es damals, daß er Kartoffeln lieber mit der Schale aß, anstatt sie abzuschälen.

Später freilich hat er noch ganz anderes als Kartoffelschalen hinunterschlucken müssen.

Meine Toilette war, meiner Wildheit entsprechend, gewöhnlich ziemlich derangiert; Otto trug, der Zeit gemäß, einen Knabenanzug, bestehend aus blauer Tuchjacke mit daran festgenähten Höschen. Das ganze Kleidungsstück, »Habit« genannt, war auf dem Rücken von oben bis unten mit blanken, gelben Knöpfen geschlossen. Dies machte es öfter einem neugierigen Hemdzipfel möglich, am Schluß herauszusehen.

Als dem Fürsten zur Feier seines 70. Geburtstages unser ehemaliges väterliches Gut von der Nation zum Geschenk gemacht wurde, hat er beim ersten Betreten gesagt: »Hier in diesem Saal habe ich oft mit Hedwig »Tod und Leben« gespielt, und das war harmloser, als wenn ich in späteren Zeiten um Leben und Tod spielte.«[20]

Zu unseren Schönhausener Kinderfreuden gehörte es auch, wenn sich die Kunde verbreitete, daß eine Hochzeit im Dorf sein sollte. Da wurde zuerst die wichtige Angelegenheit verhandelt, ob die Braut zu dem meinem Vater eigenen Teil des Gutes gehörte, oder zu dem »anderen Hof«; Onkel Ferdinand hatte noch andere Besitzungen in Pommern und war nicht immer anwesend. Gehörte die Braut nicht zu uns, dann ging uns viel Vergnügen verloren. Im anderen Fall war unser Jubel groß, denn es begann dann die Freude an der Hochzeit schon acht Tage vor derselben. Die Braut erschien in ihrem besten Staat, einem roten, kurzen Friesrock, mit blauen Bändern besetzt, ein schwarzes Samtkäppchen mit langen Bändern auf dem Kopf, ein in Falten gelegtes Tuch um die Schultern, die weißen Hemdärmel aus dem fast ärmellosen Jäckchen heraussehend, eine weite, weiße Schürze vorgebunden und, o Wonne, für uns Kinder, mit einem großen Kuchen! Unsere Eltern waren dann beide zugegen; und es entspann sich meist folgende Unterhaltung mein Vater frug: »Na, Lischen oder Trine,« wie sie gerade hieß, »du willst nun friegen?« »Ja, ich dacht doch so, Herr Rittmeister, und ich wollt dann bitten, ob de gnädige Herr mi nich die Ehr anduhn wollte, mich in die Kirche zu führen; und für meinen Freiersmann wollt ich die gnädige Frau um dieselbe Ehre ansprechen.«

In der Regel willfahrteten meine Eltern diesem Wunsche der Braut; wir Kinder hatten dann die Freude, daß der Kuchen gleich in Angriff genommen werden konnte. Unsere Gedanken waren natürlich viel bei dem in Aussicht stehenden Fest. Da ich als Kind nicht gerade große Neigung für Waschen und Kämmen hegte, kam sicher wenigstens einmal die Drohung, daß ich ganzgewiß nicht vor der Braut gehen sollte, wenn ich so widerspenstig bei diesem Reinigungsprozeß wäre. Dies verfehlte nie die gehoffte Wirkung, und meine Mutter rühmte, daß ich selten so ordentlich erschienen sei, als in den Tagen vor einer Hochzeit. Endlich kam der große Tag, dem das Brautpaar wohl kaum erregter entgegen sah, als wir. Am Abend vor her wurde alles, was von alten Töpfen im Dorfe übrig war, an den Torweg des Hochzeitshauses geworfen, so daß oft Berge von Scherben davor lagen; Scherben sollten ja Glück bringen. Zur bestimmten Stunde gingen wir in das Hochzeitshaus, wir Schwestern in weißen Kleidern mit Kränzen in den Haaren; meine Mutter in festlichem Staat, und mein Vater im Frack mit allen Orden, die er im Kriege erworben hatte. Der Hochzeitszug ordnete sich dann bald. Voran die Musik, unter denen Posaunenbläser nicht fehlten; dann folgten die Brautjungfern, die schwere, hellblaue, brokatseidene Röcke trugen, welche schon mancher Generation gedient haben mochten. Gestickte Musselinschürzen darüber, das gefaltete Tuch um den Hals, eine bunte Flitterkrone auf dem Kopf über den weit aus der Stirn gelegten Haaren; von der Krone hingen bunte, meist mit Gold durchwirkte Bänder bis zur Taille herab. Es waren oft bis zwanzig junge Mädchen Brautjungfern.

Nach diesen kamen wir Kinder, blumenstreuend, und dann die Braut, zwischen ihrem und meinem Vater. Sie trug einen schweren, schwarzseidenen Brokatrock, in dem wohl schon Urahne und Mutter getraut sein mochten; Schürze und Tuch wie die anderen, die bunte Krone aber mit Myrrten durchwunden, daran Bänder, die bis zum Saum des Rockes reichten, vor der Brust einen Strauß von Rosmarin. Einen ebensolchen, aber[23] mit rotem Band geschmückt, trug der Bräutigam, der nun zwischen meiner Mutter und der seinen, wenn sie noch lebte, sonst einer älteren Verwandten einherschritt. Die Brautmutter konnte dem Zuge nicht beiwohnen, da sie im Hause mit den Vorbereitungen zu dem großen Mittagessen zu tun hatte. Nun folgten die Gesellen des Bräutigams und dann alles, was aus Schönhausen und aus anderen Dörfern geladen war.

Die Frauen trugen Kappen von schwarzer Seide mit steifem Futter, vorn breit in große Falten gelegt, mit weißen, ebenfalls gefälteten Verzierungen, dazu Frisuren, die ziemlich hoch standen, und Röcke von seinem, steifen, schwarzen Wollstoff, der im täglichen Leben rotem Fries mit buntem Band besetzt, Platz machte. Die Mädchen trugen ähnliche, oder auch gestreifte Röcke, alle Mieder mit bunten Achseln, aus denen die weißen Hemdärmel heraussahen.

Frauen sowohl wie Mädchen hatten bunte, gefaltete Tücher um die Schultern; erstere trugen dazu die Krone, während bei den Mädchen ein silberner Pfeil, um den das Haar gelegt war, den einzigen Schmuck bildete.

Die Männer gingen in langen, dunklen Röcken, ein Rundkamm, wie ihn jetzt kleine Mädchen tragen, hielt bei den älteren das Haar zurück.

In gleicher Folge, wie auf dem Hinweg, kehrte der Zug ins Hochzeitshaus zurück; hier war alles zum festlichen Schmause bereit. Tische waren in der großen Stube, auf dem Scheunenflur und auf dem Hofe hergerichtet. Der Ehrentisch stand in der großen Stube; an diesem saßen neben dem Brautpaar und dessen nächsten Anverwandten meine Eltern, wir Geschwister[24] und die Familie des Geistlichen, des alten, treuen Pastor Petri.

Im heißen Sommer hätten meine Eltern wohl lieber im Freien als in der dumpfen Stube getafelt, doch wäre dies ein grober Verstoß gegen die althergebrachte Sitte gewesen; der Ehrenplatz war eben unter dem schützenden Dach des Hauses, das die Braut nun verließ.

Nachdem die Musik einen Choral gespielt hatte, wurde Platz genommen. Zuerst wurde Hühnersuppe mit Fleisch und Klößen, in denen große Rosinen nicht fehlen durften, aufgetragen. Dann folgte selbstgebaute Hirse, in Milch gekocht; dazu schritt der Kantor mit weißleinener Schürze, in der er gestoßenen Zimmt und Zucker hatte, umher und streute davon jedem Gast auf die Hirse. Waren es besonders reiche Leute, so gab es dann noch Fische; jedenfalls aber folgte Schweinebraten. Es wurden zu solchen Hochzeiten oft sechs bis acht Schweine geschlachtet. Wein ward nur am Ehrentisch getrunken. Mein Vater hielt dann immer eine Rede, in der er das Brautpaar leben ließ. Es wurde noch viel Kuchen aufgetragen, natürlich nicht Torten und Baumkuchen, sondern einfaches Gebäck; und darauf hob man die Tafel auf. Wir gingen nun etwas nach Hause, um auszuruhen, und wurden, wenn das große Zimmer von den Tischen geräumt war, von den Musikanten abgeholt, weil der Tanz begann, den meine Eltern mit dem Brautpaar zu eröffnen hatten. Braut und Brautjungfern trugen jetzt noch den Kirchenstaat; die Braut mußte aber während des ersten Tanzes den schweren Brokatrock abwerfen. Die Brautjungfern haschten danach, und es galt als gewiß, daß diejenige, welche den Rock aufgriff, die nächste Braut sein würde.[25]

Einen besonderen Stolz setzten die Bauern darin, daß die Braut möglichst viel Röcke übereinander trug; je mehr Röcke, für desto wohlhabender galt sie; bei jedem Tanz fiel einer zur Erde. Der erste stand, wie gesagt, den Brautjungfern zu; nach dem zweiten haschten die Junggesellen, und so abwechselnd, bis die Braut im letzten Rocke während des weiteren Festes verblieb. Auch die Brautjungfern legten ihre Staatsgewänder ab; erst dann begann der Tanz recht lebhaft und allgemein, und wir Kinder mischten uns gern unter die Paare. Nur bei der beliebten und oft wiederholten Kußquadrille blieben wir Zuschauer.

Es war dies eine Art Contretanz, bei welchem die zusammenkommenden Tänzer und Tänzerinnen in einer Art chassez-croisez sich begegneten und einander herzhaft küßten.

Nachdem wir noch einige Zeit dem Tanze beigewohnt, kehrten wir von Eltern und Brautpaar bis zur Hoftür begleitet, unter vielen Danksagungen nach Hause zurück.

Das Fest selbst dauerte meist mehrere Tage. Die Gäste schliefen abwechselnd in Scheunfluren und Bodenkammern, aßen und tranken was noch da war, besonders viel Kaffee mit Kuchen und Bierkaltschale, die in großen Schüsseln, mit je einem Löffel für alle, bereit stand. Schnaps wurde nie getrunken, und so blieb der Ton immer ein durchaus anständiger.

Nach den Festtagen zogen endlich die Leute alle befriedigt und froh, noch große Kuchenpakete mitnehmend, nach Hause, und ich möchte heute noch sagen: »es war doch eine schöne Zeit damals!«

Dieses Mitleben meiner Eltern mit den Leuten brachte es ihnen ein, daß man sie »sehr gemein« nannte, eine dörfliche[26] Bezeichnung für freundlich und herablassend. Aber auch, was an Freud und Leid die Herrschaft betraf, wurde von allen Einwohnern Schönhausens mit empfunden.

Noch sehe ich, wie im Jahre 1821 alle Männer aus den Höfen kamen, um meinem Onkel Ernst, der ein Bruder vom Vater des Fürsten war, die letzte Ehre zu erweisen, wie der Schönhauser Schulze Kunow die Seinen sammelte, und wie dann aus Fischbeck, dem dazugehörigen Dorfe, der Schulze Lindstaedt an der Spitze seiner Gemeinde erschien.

Alle blieben vor dem Herrenhofe stehen, bis die Glocken läuteten, und es wurden die Männer gewählt, die den Sarg tragen sollten.

Mich quälte damals der Gedanke, wie die Seele hätte zum Himmel fahren können, da doch alle Fenster geschlossen waren. Mancher, der älter ist, als das 6 jährige Kind, quält sich noch heute mit dem »Wie«, mag auch das Fenster weit offen stehen.

Der Sarg wurde, von dem großen Geleite gefolgt, in den Garten getragen, wo die Beerdigung stattfand.

Zwei ältere, früh verstorbene Geschwister des Fürsten, Alexander und Luise, sind auch dort, mitten in einem Gebüsch begraben; ich habe beide Gräber bei einem späteren Besuch in Schönhausen wiedergefunden. Bestattungen im Garten waren damals sehr gebräuchlich, und ich glaube kaum, daß die Grabstätte des Onkel Ernst vorher durch kirchlichen Segen geweiht wurde.


Onkel Ernst, der wir alle sehr liebten, war bedeutend älter als sein Bruder Ferdinand. Ihm gehörte das Gut Ünglingen am anderen Elbufer, bei Stendal gelegen. Da dort kein Wohnhaus[27] war, was ihm gefiel, oder, wohl noch mehr, um alte Erinnerungen zu fliehen, mochte er nicht dort wohnen, sondern war nach Schönhausen gezogen, in das Haus des Bruders der ja nur zeitweise auf seinem Eigentum lebte.

Meine Mutter erzählte mir oft von dem, was störend in Onkel Ernsts Leben eingegriffen hatte.

Auf einer Reise hatte er in Thüringen ein wunderschönes Mädchen, ein Fräulein von Miltitz, kennen gelernt und eine glückliche Ehe mit ihr geschlossen.

Meine Mutter schilderte die junge Frau als eine große Schönheit, mit dunklem Haar, herrlichen blauen Augen und einem wunderbaren Liebreiz.

Der Bruder Ferdinand war zu jener Zeit Offizier und kehrte nach langer Abwesenheit zu Besuch in Ünglingen ein; da überwältigten ihn Schönheit und Liebreiz der Schwägerin beim ersten Anblick in der Weise, daß er ohnmächtig zusammenbrach.

War es nur Mitleiden der Frau, oder erwiderte sie die Neigung? Darüber wußte meine Mutter nichts zu sagen. Kurz, es ist dadurch zu traurigen Störungen in der Ehe des älteren Bruders gekommen, die zuletzt sogar eine Scheidung eingeleitet haben. Vollzogen ist diese nicht, da die Frau durch ein unheilbares Leiden in der Blüte ihrer Jahre dahingerafft wurde.

Der Gatte hat den Verlust mit tiefem Schmerz, aber still getragen; Ferdinand ist verzweifelnd fortgegangen und hat erklärt wenn er je heiratete, so könne dies nur eine Brünette, der verstorbenen ähnliche Frau sein.

Doch was sind menschliche Entschlüsse! Nach mehreren[28] Jahren ist er wieder nach Schönhausen zurückgekehrt und zu der Frau des Geistlichen, mit dem die Familie sehr befreundet war, ins Zimmer gestürzt, mit den Worten:

»Frau Prediger, ich heirate, und zwar eine Blondine!«

Die Braut war Wilhelmine Menke, Tochter eines Kämmerers des Königs Friedrich Wilhelm III.

Ernst Bismarcks und Luise von Miltitzs Sohn war der erste der Grafen Bismarck-Bohlen; er mußte letzteren Namen dem seinigen hinzufügen, weil er die letzte Tochter dieses aussterbenden Geschlechts, die Besitzerin von Karlsburg, geheiratet hatte. Er war ein selten schöner Mann und soll seiner Mutter sehr ähnlich gewesen sein.

Onkel Ernst aber saß zu der Zeit, in die meine Erinnerungen reichen, einsam zu Schönhausen im Hause seines Bruders. Das Verhältnis beider war ein freundliches; mit der Schwägerin Wilhelmine blieb sich Ernst immer fremd; er nannte sie eine Fischnatur!

Mag dieser Ausdruck auch nicht allewege zutreffend gewesen sein, so blieb sie doch für uns Kinder auch ihre eigenen, eine unnahbare Größe. In meiner Erinnerung lebt des Fürsten Mutter fort als eine kalte, sich wenig an die Menschen um sie her anschließende Frau. Irgendeiner herzlichen Äußerung gegen einen von uns wüßte ich mich nicht zu erinnern.

Anders Onkel Ferdinand! Der hatte für uns immer ein freundliches Wort oder einen heiteren Scherz, besonders wenn Otto und ich auf seinen Knien ritten.

Wilhelmine Bismarck war groß und blond, besaß aber nicht, wie jetzt öfter behauptet wird, die schönen, blauen Augen, die[29] ihr Sohn Otto noch im Alter hatte; sie war viel elend und dann teilnahmlos.

Das heute so allgemeine Wort »nervös« habe ich, als ich erwachsen war, zum erstenmal über diese Frau aussprechen hören. Allgemein sagte man, sie mache sich selbst durch Nervosität das Leben schwer und mehr noch ihrem Mann und den Kindern.

Später habe ich es allerdings öfters gehört, daß man von jemand sagt, er sei schwach und elend im täglichen Leben, gesund aber, wenn er durch Zerstreuung angeregt werde. Damals, als man den Nerven noch nicht soviel Macht einräumte, klang das über Tante Minchen Gesagte hart.

Onkel Ferdinand und seine Frau verlebten die ersten Jahre der Ehe ganz in Schönhausen. Nach zwei früh verstorbenen Kindern wurde ihnen Bernhard geboren, Juni 1810; er ist als Besitzer von Külz 1892 gestorben.

Das vierte Kind war Otto, geb. 1. April 1815. Später, als die Familie schon in Pommern lebte, kam Franz, der als dreijähriges Kind an einer Bohne erstickte; endlich noch Malwine, geb. 1827, spätere Frau von Arnim-Kröhlendors.

Die pommerschen Güter, Kniephof, Jarchlin und Külz, hatte Ferdinand von einem entfernten Onkel geerbt. Er äußerte sich über diese Erbschaft in der wenig seinen, aber der damaligen Zeit entsprechenden Weise, die ich noch selbst mit gelindem Schauder von ihm gehört habe:

»Daß ein kalter Onkel mit einer Gütersauce ein ganz annehmbares Gericht sei!«

Dergleichen drastische Äußerungen waren ihm überhaupt eigen, und er wurde oft damit geneckt, daß er in das Fremdenbuch[30] eines Gasthofs unter der Rubrik »Charakter« geschrieben hatte »niederträchtig«.

Später wurde er leider sehr taub.

Alles in allem war er ein Mann von außerordentlicher Gemütstiefe und herzlicher Liebenswürdigkeit, und Otto hatte nicht, wie Goethe, von der Mutter, sondern vom Vater die Gabe geerbt, das richtige Wort und den immer treffenden Witz zu finden.

Mit Bernhard und Otto haben meine Geschwister und ich in innigem Verkehr gestanden; wir haben die heitersten Stunden miteinander verlebt bei dem damals beliebten Kartenspiel, Schafskopf genannt. Die Pointe dieses Spiels kenne ich nicht mehr, weiß nur, daß Otto und ich laut jubelten wenn der ruhige Bernhard den Kopf auf den Tisch legte und sagte: »ich bin wieder Schafskopf geworden!«

Die Nervosität der Mutter trat noch mehr hervor, als die Familie später oft längere Zeit in Berlin wohnte. Sie hatten dort ein stehendes Ouartier; zuerst in der Behrenstraße, in dem Eckhaus an der katholischen Kirche, und dann in der Krausenstraße, am Dönhofsplatz. Dort machten sie, nach den Begriffen damaliger Zeit, ein ziemlich großes Haus aus. Die jungen Prinzen, Karl und Albrecht, verkehrten viel bei ihnen, ebenso Erbgroßherzog Paul Friedrich zu Mecklenburg-Schwerin, der spätere Gemahl der Prinzeß Alexandrine. Kränkend ist Frau von Bismarck wohl gewesen, daß sie, trotz des Verkehrs der Prinzen in ihrem Hause, von den Hofgesellschaften ausgeschlossen blieb, da bürgerlich Geborene damals nicht bei Hofe vorgestellt werden konnten.[31]

Noch muß ich des bewährten Freundes unserer beiderseitigen Familien gedenken, des alten Pastors Petri in Schönhausen, dessen Enkelinnen mir noch heute nahestehen.

45 Jahre hindurch, von 1789 bis 1834, hat er als Pfarrer zu Schönhausen und dem Filialdorf Fischbeck in Segen gewirkt.

In der Franzosenzeit wurde Petri, nachdem er mit seiner Familie rein ausgeplündert war, auf längere Zeit aus Hof und Wohnort vertrieben, hatte aber dafür späterhin die höchst erwünschte Genugtuung, allein von seinem geistlichen Kreise und von der ganzen Altmark, mit beiden Kirchdörfern seinem König ein treuer Untertan bleiben zu dürfen. Denn Schönhausen und Fischbeck, zwar zur Altmark gehörig, liegen auf dem rechten Elbufer und verblieben bei Preußen, während im übrigen die Altmark zum Königreich Westfalen geschlagen wurde.

Pastor Petri war ein edler, vortrefflicher Mensch; er sorgte für die Dorfbewohner in ihrem äußeren Walten, stand ihnen menschlich nahe, und Achtung sowohl wie Liebe für ihn hielten wohl manchen von Sünde und Laster ab. Im ganzen aber ging bei uns in Schönhausen, wie allgemein, das religiöse Leben nicht in die Tiefe.

Ein Zeichen davon ist es wohl, daß ich, ohne das Vaterunser deutsch gelernt zu haben, es als Sprachübung französisch aufsagen mußte, abwechselnd mit Lafontaineschen Fabeln: »maître corbeau« und anderen, und daß ich mehrere Jahre eine katholische Erzieherin hatte.

Christlich im tieferen Sinne des Wortes waren die Leute damals nicht, aber die Lebensgemeinschaft der Menschen untereinander war enger, da so vieles fehlte, was jetzt gegen Stille und festes Aneinanderschließen wirkt.[32]

Hoch und niedrig, besonders Gutsherr und Bauern gehörten zusammen. Zur Taufe meines zweiten Bruders, des ersten Sohnes, der meinem Vater als Besitzer von Schönhausen geboren wurde, waren beide Gemeinden Schönhausen und Fischbeck, als Paten geladen, und beide Schulzen haben als Vertreter derselben auch am Taufmahl teilgenommen.


Während Ottos Eltern viel in Berlin waren, reisten wir gewöhnlich nur einmal im Jahr dorthin.

Da solche Reisen damals nicht, wie jetzt, in wenigen Tagen abgemacht waren, wollten sich meine Eltern nicht so lange von uns trennen, und da wurden wir, meine 2 Jahre ältere Schwester Adelheid und ich, mitgenommen. Meine Brüder waren zu jener Zeit in der Plamannschen Pensionsanstalt in Berlin. Meine Eltern bewog natürlich auch der Wunsch, die Söhne wiederzusehen, dazu, die recht beschwerliche Reise zu unternehmen.

Schon mit den Vorbereitungen war mancherlei Mühe verknüpft. Wenn endlich alles geordnet war, so wurde der Tag der Abreise bestimmt, und ein großer, schwerer Wagen vor das Haus geschoben.

Ich sehe ihn noch vor mir er war hellgelb und an den Türen prangte groß und bunt das Bismarcksche Wappen ein silbernes Kleeblatt mit goldenen Eichenblättern im blauen Schilde. Oben auf dem Verdeck des Wagens, und den ganzen Raum desselben einnehmend, wurde ein flacher Koffer, »Vache« genannt, festgeschnallt. Er barg meiner Mutter Staatskleider. Unter ihnen steht mir eines noch deutlich vor Augen recht seiner Kattun, dem Battist ähnlich, aber doch dicker als dieser Stoff,[33] rot mit kleinen gelben Punkten, die im Kreise gestellt eine Rosette bildeten. Die Elle dieses Stoffes hatte 1 Taler, 5 Groschen gekostet. Das ganze Kleid war reich mit gelbseidener Litze besetzt und wurde zu großen Festlichkeiten getragen, echte breite Spitzen machten es dazu ganz würdig.

Dabei lag ein »Leibpelz«, eine Art Paletot, der bis zum Knie reichte und an den Ärmeln und unten mit Marderpelz verbrämt war. Diese Gewänder sollten die erstaunten Berliner erfreuen.

Hinten auf den Wagen kam ein großer Koffer, und in die Sitzkästen wurde alles verpackt, was für das Nachtquartier nötig war. Der Wagen blieb beladen vor der Tür stehen, denn gestohlen wurde damals noch nicht.

Am anderen Morgen des noch dunklen Wintertages, es war im Dezember, wurden sechs Pferde angespannt, viere breit und zwei davor. Diese Pferde waren nicht aus unserem Stalle, die unserigen, vier an der Zahl, waren bis Genthin vorausgeschickt. Bis dahin, auf drei Meilen Entfernung, hatten die Bauern die Verpflichtung die Gutsherrschaft zu fahren. Natürlich gab nicht ein Bauer alle sechs Pferde, sondern diese wurden von mehreren gestellt, meist gab einer deren zwei.

Zu den weiteren Lasten der Bauern gehörte es, Baufuhren zu leisten, den Arzt und die Gouvernante abzuholen, letztere gleichviel von wo, so lautete die Bestimmung.

Die Bauern trennten sich natürlich nicht von ihren Pferden, und so begleiteten drei, oft auch vier, das Fuhrwerk. Zwei saßen dann auf dem Koffer hinten, auf dem auch der Futtersack lag, einer, welcher die Zügel führte, thronte auf dem Bock, neben unserem Diener, dem alten getreuen Wilhelm. Der vierte[34] ging nebenher, mit den anderen wechselnd. Die Pferde waren da durfte man nicht über affenartige Geschwindigkeit des Fuhrwerkes klagen, eher über zu viel »Hotte«- und »Hüh«-Geschrei.

Trotz der anscheinenden Gefährlichkeit dieser Bespannung habe ich doch keine Erinnerung an Unglücksfälle. Die tiefen Sandwege auf der Genthiner und der schwere Boden auf der Rathenower Seite, wohin die Bauern auch oft fahren mußten, nahmen wohl den Pferden den Mut zu irgendwelchen Ausschreitungen.

Um die Reihenfolge der Bauern für diese Leistungen zu bestimmen, ging ein Knüppel, wie man ihn allzu jagdlustigen Hunden vorbindet, um. Der letzte, welcher Pferde stellte, gab ihn dem Nachbar, und die ser begann dann bei der nächsten Bestellung die Reihe.

Paßten endlich, nach mannigfachen vergeblichen Versuchen alle Stränge, war die Leine in Ordnung, als ausreichend lang und fest von Wilhelm erachtet, dann meldete er, daß nichts der Abreise entgegen stände.

Wir waren alle fertig, nachdem wir Kinder, als erste Freude der Reise, Kaffee statt Milch bekommen hatten, als Präservativ gegen Seekrankheit, welche durch das Schwanken des Wagens leicht erzeugt wurde. Als Hauptschutzmittel dagegen war uns Löschpapier in warmen Rum getaucht auf den Magen gelegt. Dies sollte sicher schützen, tat es aber selten – bei meiner Schwester fast nie.

Nun steckte uns Wilhelm in große Fußsäcke, und die Reise begann, begleitet von Hundegekläff, da jeder Bauer auch seinen stallhund mitnahm.[35]

Das Dorf lag noch wie ausgestorben da. Die Laternen an unserem Wagen ließen die von den Dächern hängenden Eiszapfen erglänzen. In meiner Erinnerung schwebt es mir vor, als seien sie an dem letzten Hause des Dorfes besonders lang gewesen, dort öffnete Flörchen Bittelmann, des Müllers Tochter, das Fenster, uns einen guten Morgen und freundlichen Wunsch für die Reise zurufend.

Diese ging nun langsam vorwärts. Die Tannenwälder am Wege, die der anbrechende Tag erkennen ließ, boten wenig Abwechslung. Mich erfreute es, daß es schien, als zögen die Bäume an uns vorüber, da sonst das langsame Vorwärtskommen des Wagens die Bewegung desselben kaum merklich machte.

Aber für die vielen Stunden der Fahrt reichte dies Vergnügen doch nicht aus, und so seufzten wir, oft tot elend, Genthin sehr herbei. Es wurde Mittag, bis wir es erreichten. Nach dem bescheidenen Mahle dort, gewöhnlich Biersuppe und Rührei, wozu wir mitgenommene Wurst aßen, wurden unsere eigenen Pferde vorgespannt, und es ging, da jetzt Chaussee war, schneller vorwärts, aber doch war es schon lange dunkel, ehe wir in Brandenburg ankamen.

Herr Guthke, Wirt des Gasthauses zum »Roland« empfing uns an der Treppe, welche in den weiten Torweg mündete, in den der Wagen eben einfuhr. Wehklagend eröffnete er, daß er gerade heute fast gar nichts zu essen habe, der Rede immer hinzufügend: »Bei Gott, ich ahnte es, daß Euer Gnaden kommen könnten, aber ich wußte es doch nicht.«

Briefe zur Anmeldung gingen damals zu langsam und zu unsicher, auch war das Postgeld sehr hoch; kostete doch ein Brief von Schönhausen nach Brandenburg in jetzigem Gelde mindestens[36] eine Mark, und so kam man à la fortune du pot. Freilich, diese fortune war hier dürftig genug, dafür aber der Schmutz im Hause und am Geschirr um so reichlicher und den unbescheidensten Anforderungen genügend.

Decken und Kissen kamen aus dem Wagen zum Vorschein und es wurden notdürftige Nachtlager hergerichtet.

Am nächsten Morgen ging es bei Tagesanbruch weiter. In Großenkreuz kurze Rast für die Pferde, dann zu Mittag in Potsdam. Das Hotel dort »zum Einsiedler« war gegen andere sehr glänzend. Es befindet sich noch jetzt am Kanal, in demselben Hause, wie damals, – die Umgebung, sowie überhaupt die innere Stadt Potsdam hat sich kaum verändert.

Nach langem Aufenthalt, der zum Futtern der Pferde notwendig war, fuhren wir weiter und kamen gegen Abend endlich in Berlin an.

Elektrische Bogenlampen und Glühlichter können heute kein Kinderherz so entzücken wie mich damals die trüben Öllampen! Vom Schafgraben an, dem jetzigen Kanal, hingen sie, mir wie Wunderwerke erscheinend, über die Straße. In der Stadt selbst, die in Wirklichkeit erst am Potsdamer Tor begann, waren sie an den Häusern befestigt.

Das Tor bestand damals noch aus festen, sich an die Mauer anlehnenden, überwölbten Säulen. Viel später wurde ein eisernes Gittertor und das jetzt noch stehende Wacht- und Steuergebäude angelegt. Durch die Leipzigerstraße, über den ganz wüsten Wilhelmsplatz, ging es nach dem Hôtel de Brandebourg, am Gensdarmenmarkt, das noch lange dort bestand. Des Morgens war auf dem Platz Wochenmarkt, oh! war das schön! Die alten Hökerweiber mit ihren großen Hüten von Wachstasset[37] waren begeisternde Gestalten für mich. Ihr ganzes Treiben, wie sie aus den Holzkästen, die, den Strandkörben ähnlich, vor den Unbilden des Wetters schützten, herausschauten, wie sie dann Fische aus den Wasserbütten in kleinen Netzen zum Verkauf herausholten, Kohlköpfe und andere Gemüse anpriesen, dies alles erregte meine Aufmerksamkeit, und gern hätte ich noch länger am Fenster gestanden, dem mich so entzückenden Bilde noch länger zugesehen, aber wir sollten ausfahren.

Der Wagen war gewaschen und geputzt, die Pferde glänzend gestriegelt und sauber aufgeschirrt. Der Kutscher, Friedrich Guldenpfennig, in Gala: hellblauer Frack mit gelbem Kragen, den Bismarckschen Farben und blanken Wappenknöpfen, der getreue Wilhelm in Jägeruniform, den Hirschfänger zur Seite, den dreieckigen Hut mit grün und weißen Federn auf dem Kopfe, stand am Wagenschlag und half meiner Mutter, die im roten Pelze prangte, einsteigen, hob uns Schwestern hinein und stellte sich selbst, wie allgemein üblich, hinten auf das Wagenbrett.

Wir fuhren zuerst bei dem Putzladen Berlins vor: Kirsten, in der Jägerstraße, wo meine Mutter einen ihrem Pelz ebenbürtigen Hut kaufte. Er bestand aus dunkelblauem Rips, besetzt mit weißem Schwan und hatte eine breite Krempe.

Von dort gingen wir über die Straße zu dem Delikateßladen von Thiermann, wo uns mein Vater erwartete, der schon einige Tage vorher nach Berlin gereist war, und wir frühstückten, zusammen mit Onkel und Tante Bismarck, sowie mehreren Bekannten und Freunden. Austern gab es, das ist mir noch in Erinnerung. Wie die bei den dürftigen und langsamen Transportmitteln frisch nach Berlin kamen, weiß ich nicht, aber sie waren da und schmeckten gewiß sehr gut.[38]

Läden gab es in dem Berlin von damals nur wenige.

Am Schloßplatz, Ecke der Breitenstraße, verkaufte Lessmann Kleiderstoffe, in der Brüderstraße war ein Spielwarenladen von Gamet. Beide Läden besuchten wir, da meine Mutter Weihnachtseinkäufe machte. Der Schloßplatz war zwar nicht mehr, wie zu den Zeiten der Ouitzows, ein Tummelplatz der Schweine, aber immerhin recht kleinstädtisch, mir erschien jedoch alles, vorzüglich das Schloß und die Brücke mit dem Standbild des großen Kurfürsten, ganz unvergleichlich schön. Der Bogengang an der Stechbahn, wennschon niedrig und finster, hatte großen Reiz, denn dort war ja Josty, einer der wenigen Konditoren Berlins. Klein und dunkel war es zwar bei ihm, aber die Schokolade schmeckte gar zu schön.

Schloßplatz und Breitestraße boten aber noch einen weiteren Anziehungspunkt durch den Weihnachtsmarkt, der schon mehrere Wochen vor dem Fest aufgebaut war. Wir fuhren eines Abends hindurch, und meine Mutter hat noch oft von dem Jubelgeschrei erzählt, das mir jedes Lämpchen in den dürftigen Buden entlockte. Nein, so kann sich jetzt kaum noch ein Kind freuen, in Berlin sicher nicht, da dort in den belebten Straßen jeder Abend eine Beleuchtung bringt, wie sie ehedem die glänzendste Festillumination nicht bot.

Meine Erinnerungen jener Zeit reichen auch noch nach Charlottenburg. Das begann am jetzigen Gymnasium, damals die Kauersche Anstalt. Nebenstraßen hatte die Berlinerstraße nicht, und in ihr waren meist kleine, nur für Sommerwohnungen eingerichtete Häuser, die durch Gärten voneinander getrennt waren. Hinter dem Schloß hörte bald die Chaussee auf, und wenn wir im Sommer einmal von Berlin aus den Weg durch[39] das Havelland, zu den Bredows, den Verwandten meiner Mutter nahmen, dann wurde der Sandberg vor und die Sandflächen hinter Spandau sehr gefürchtet. Da mahlte dann, trotz der vier Pferde, der Wagen sacht, so sacht im Sande. Und schauerlich! kaum aus dem Tore von Spandau hinaus, da stand auf einer Anhöhe ein Galgen. Wie grausig das war! wie regte es die Phantasie des lebhaften Kindes auf, wenn es sich ausmalte, wie viele wohl daran ihr Leben geendet. Es verging lange Zeit, bis dann endlich der Wald uns aufnahm, und das Schreckbild verschwand.


In Berlin wurde auch ein Besuch in der Plamannschen Knabenpension gemacht. Es war ein Privatinstitut und hatte in der damaligen, freilich nur kleinen Welt, großen Ruf. Wie bereits erwähnt, waren meine Brüder dort, und mit ihnen die Schönhauser Vettern, Bernhard und Otto. Frau Plamann führte ein zwar mütterliches, doch festes Regiment. Es hat sich, da ihre Zöglinge alle recht jung waren, wohl mehr auf körperliche Pflege erstreckt, in geistiger Beziehung war sie kaum befähigt, ihnen viel zu nützen. Mit der deutschen Sprache stand sie, wie damals viele, auch aus höheren Kreisen, auf gespanntem Fuß.

Einst zählte sie bei einer Landpartie die Knaben einem Bootsmann in sein Schiffchen, und ihr Ausspruch dabei »diese Kinder sind alle mich« ist durch meine Brüder lange geflügeltes Wort in unserer Familie gewesen.

Auch die Luisenstiftung besuchten wir; dieselbe war in dem Palais, das jetzt dem Prinzen Albrecht gehört. Die Vorsteherin[40] hatte früher ein Pensionat für junge Mädchen in Schöneberg geleitet, und meine Mutter war dort erzogen worden. Madame Lehmann war die treue Freundin meiner Mutter geblieben, und ihr galt unser Besuch.

Wenige Jahre später, 1822, kamen wir für längere Zeit nach Berlin, das zwar dann schon mehr von der Kultur beleckt, aber doch noch recht kleinstädtisch war. Meine Studien begannen, und ich sollte lernen, daß Berlin 200000 Einwohner habe. Das war damals, wo eine Million nur eine Zahl, nie eine Wirklichkeit war, etwas kaum Denkbares, und es erschien einem Kinde unfaßlich, daß überhaupt so viel Menschen auf der Erde leben sollten.

Dieser letztere Berliner Aufenthalt fiel in den Sommer; meine Mutter hatte einen schlimmen Fuß und wurde vom Arzt behandelt. Wir hatten deshalb die ganze Zeit Pferde und Wagen mit und fuhren viel spazieren. Freilich waren diese Fahrten etwas einförmig, denn chaussierte Wege waren im Tiergarten nur die große Charlottenburger Straße und ein Weg vom Brandenburger Tor, über die Zelten, an der Spree entlang, zum Hofjäger, einem Kaffeegarten, und von dort über die Tiergartenstraße und Bellevuestraße zurück nach dem Potsdamer Tor. Die Tiergartenstraße hatte schon einige Häuser, während die Bellevuestraße noch gänzlich unbebaut war. Die anderen Wege betrat höchstens einmal ein kühner Reiter oder naturforschende Knaben, die Schlangen und Frösche fangen wollten.

Wir wohnten an der Ecke der Friedrichstraße und Unter den Linden, wo jetzt Kaffee Bauer ist. Öfters sah ich von dort aus Seiltänzer und Kunstreiter vom Brandenburger Tor her die Linden herauf ziehen. Sie hatten ihre Aufführungen damals[41] und noch viele Jahre später in einem großen leinenen Zelt, das permanent, auch wenn es nicht benutzt wurde, am Rande das Tiergartens stand, an der Stelle, wo jetzt die Dorotheenstraße auf den Platz des Reichstagsgebäudes stößt. Die Dorotheenstraße war eine Sackgasse, erst viel später entstand die neue Wilhelmstraße und überhaupt die ganze Luisenstadt.

Den Zug der Kunstreiter eröffnete Musik, dann folgten Reiter und Reiterinnen in leuchtendem, aber schäbigem Putz, die Pferde auch mit bunten Decken behangen. Dazwischen Clowns, die mit gellender Stimme ausriefen, was man alles da draußen sehen könne. Das Paradestück des Zuges war ein junges Mädchen, halb Kind, auf einem Pferde stehend und das Tambourin schlagend.

Eine großartige Abwechslung in unser tägliches Leben und deshalb für uns Kinder große Aufregung brachte späterhin eine Fahrt nach einem Garten vor dem Schlesischen Tor, wo man schönes Obst bekommen sollte. Mein Bruder, der damals auf dem Pädagogium in Halle war, brachte die Ferien bei uns zu. Unser Wagen bot nicht Platz für so viele, da sich noch einige Vettern als Teilnehmer der Fahrt einfanden, und es wurde noch eine Droschke geholt. Eine solche war nicht so leicht zu finden, denn es gab deren nur hundert für ganz Berlin, kleine, zweisitzige Wagen mit halbem Verdeck. Das Leder am Verdeck und Tambour hatte wohl seit seiner frühesten Jugend keinen Lack gesehen, und das ganze Gefährt seitdem nur selten Verkehr mit Wasser und Bürste gehabt. Ein müdes Pferd mit Kummtgeschirr, über dem, weshalb ahne ich nicht, ein großer, aufrecht stehender Holzbügel war, wurde von einem, zu dem Ganzen passenden Kutscher gelenkt, er sowohl wie sein Pferd, wenig[42] Luft zu schneller Bewegung verspürend. Unsere mutigen Rosse wurden gezwungen, sein langsam zu gehen, damit wir nicht ganz von unseren Genossen getrennt wurden. Diese Vorsicht erwies sich als sehr weise, denn an der Stelle, wo jetzt Roß- und Jakobstraße sich kreuzen, hörte das Pflaster auf. Der Mietsgaul erklärte mit Entschiedenheit nicht weiter gehen zu wollen, der Kutscher stimmte ihm bei, so mußten die Insassen aussteigen und wie früher die Schönhauser Bauern neben unserem Wagen hergehen. Als wir den Garten erreichten, entschädigten die schönen Früchte für die Mühen des Weges.

Im Jahre 1866 war dieser Garten bereits eingegangen, er hatte Räumen Platz gemacht, die als Lazarett benutzt wurden, und in denen ich oft tätig gewesen bin. Jetzt ist das ganze Terrain von den Kasernementsgebäuden des 3. Garderegiments eingenommen.

Die einförmigen Fahrten im Tiergarten führten, wie gesagt, regelmäßig an den Zelten vorüber. Der Weg bot nicht ein so schönes Bild wie jetzt. Fast von Bäumen versteckt, in der Straße, die noch heute »in den Zelten« heißt, obwohl die Zelte längst in steinerne Kaffeehäuser verwandelt sind, hatte Madame Beer ihr gastfreies Haus. Besonders, wenn die beiden geistvollen Söhne Meyerbeer, der Komponist, und Michael Beer, der Dichter, anwesend waren, begegnete man, wie man mir später erzählt hat, in diesem Hause allen gefeierten Persönlichkeiten der Zeit.

Siegessäule und alles, was jetzt den Königsplatz ziert, lebte noch in keinem Zukunftstraum; es war eine öde Sandfläche, auf der morgens die Truppen der Garnison Berlins exerzierten, und ich habe mir nicht träumen lassen, daß ich[43] dort das Standbild meines Spielgefährten würde enthüllen sehen.


Wenn wir nach Schönhausen heimkehrten, wurde die Einförmigkeit des dortigen Lebens durch Besuche mit den Nachbarn erheitert. Besonders verkehrten wir viel mit dem Pächter der königlichen Domäne in Jerichow, Herrn Kleve. Er bewohnte mit seiner Familie das alte Kloster, und es gab köstliche Spielplätze in den weiten, oft dunklen Bogengängen. Die großen Säle dienten als Wohnzimmer, die kleinen Zellen als Logierzimmer, und sie führten, teils noch mit Bildern von Mönchen geziert, die Kinderphantasie zu meist schauerlichen, dafür aber um so interessanteren Gebilden.

Viel waren wir auch in Landin, das freilich entfernter von Schönhausen lag. Dort lebte der Bruder meiner Mutter, Karl Samuel von Bredow, mit seinen, uns gleichaltrigen Kindern, unter ihnen der spätere Oberst, der mit den 5. Kürassieren 1866 bei Tobitschau die feuernden österreichischen Kanonen eroberte.

Wie anziehend war in Landin der Teufelsberg für unsere Wanderungen und Spiele. Die Sage, die ja gern am Ungewöhnlichen anknüpft, hat viel mit ihm zu tun, und noch heute ist die Vertiefung auf seinem Gipfel zu sehen, die, im Munde des Volkes, folgender Sage ihre Entstehung verdankt :

Vor langen Zeiten, in welchem Jahrhundert weiß ich nicht zu sagen, war der Besitzer von Landin, Herr Lippold v. Bredow, in Schulden geraten, und wußte nicht mehr aus noch ein. Tief bekümmert ritt er auf dem Felde umher, mit jedem Blick von alledem Abschied nehmend, was seine Väter besessen und was[44] nun bald nicht mehr sein Eigen sein sollte. Da begegnete ihm der Teufel. »Warum so traurig?« mit dieser Frage entlockte er dem Ritter den Grund seines Kummers. Hohnlächelnd hörte ihm der Teufel zu: »Nun, ist's weiter nichts,« sagte er, »da kann ich helfen. Dein schönes Weib, Frau Brigitte, gefällt mir. Komm' heute in 8 Tagen auf jenen Berg und bringe du einen Scheffel mit, ich habe Säcke voll Gold. Um Mitternacht schütte ich Gold in den Scheffel; ist er voll, wenn es 1 Uhr vom nahen Kirchturm schlägt, dann ist Frau Brigitte mein, ist er nicht gefüllt, dann das Gold und die Frau dein.«

Dem Ritter, der nur an seine Not dachte, klang dies verlockend, wie Sphärenmusik. Er sollte von den Schulden befreit sein, wo war sonst ein Weg dazu? »Topp,« sagte er also, »aber bis 1 Uhr muß der Scheffel voll sein!« »Ja,« lachte der Teufel.

Leichteren Herzens ritt Herr Lippold heim. Aber da stand auf der Schwelle des Hauses Frau Brigitte in blühender Schönheit und empfing ihn lächelnd und liebkosend. Nun war die Freude vorbei. Entsetzen erfaßte ihn über sein leichtsinniges Versprechen. Wieder ritt er hinaus, diesmal, so schnell das Pferd laufen wollte, zum Pfarrer, nach Friesack. »Herr helft mir!« schrie er dem über das Aussehen des Ritters Entsetzten entgegen. Herr Lippold erzählte von dem Pakt mit dem Teufel, schilderte seine Reue in grellen Farben und bat, der Geistliche solle durch Gebet die Mittel finden, den Handel rückgängig zu machen. Der Pfarrer beschied den Reiter nach einigen Tagen wieder zu sich und pünktlich fand sich dieser ein. Beide begaben sich in der Nacht vor der zu dem Handel bestimmten, mit Hacke und Spaten versehen, auf den Berg. Sie gruben ein tiefes Loch, gleich einem Krater, in die Kuppe des Berges, darüber[45] wurde dann der Scheffel gestellt, dessen Boden gelöst war, so daß er der leisesten Berührung nachgab.

Die bestimmte Nacht brach an. Der Himmel war mit Wolken bezogen, kein Stern leuchtete dem schauerlichen Handel. Vom Turm her drangen die 12 Schläge der Mitternacht durch die feuchte Luft. Da kam der Teufel zu dem schon auf dem Berge harrenden Ritter. In einiger Entfernung kniete ungesehen der betende Pfarrer.

Der Teufel begann sein Werk. Es schlugen die Viertel der Stunde, der Scheffel blieb leer, einen Sack nach dem anderen trug der Teufel herbei, immer eiliger warf er das Gold hinein – aber jetzt schlug es hell und voll 1 Uhr – und der Scheffel war nicht gefüllt. Jubelnd fiel der Ritter dem Pfarrer um den Hals, der Teufel aber, jedenfalls ein sehr dummer Teufel, zog fluchend ab und rief: »Bredow, Bredow, Läpel, du hest 'nen groten Schäpel.«

Für die Wahrheit dieser Begebenheit bürgt in den Augen des Volkes die Tatsache, daß das früher zu Landin gehörige Gut Warsow noch jetzt im Besitz der Friesacker Kirche ist, und daß der jedesmalige Oberpfarrer den Niesbrauch davon hat. Das habe, so meint man, der dankbare Lippold seinem Helfer in der Not geschenkt.


Der Teufel hat überhaupt früher viel mit den Bredows in Feindschaft gelebt. Erzählt doch eine andere Sage, daß er einst alle erreichbaren Edelleute von dieser Sippe in einen Sack gesteckt habe, um sie in die Ostsee zu tragen. Ein schlauer unter den Gefangenen saß unten. Der führte ein Messer in der Tasche mit sich, schnitt ein Loch in den Sack und schlüpfte hindurch.[46] Die anderen folgten, und so fiel einer nach dem andern heraus – die Straße entlang – bis nach Wrietzen hin. Friesack »frei aus dem Sack«, so nannte der erste seinen Wohnort. Einer blieb ganz in der Nähe: »Ich wage nichts« – Wagenitz – so taufte er seine Behausung. Jener zog etwas ab von der Straße »Land in«.

Bald hatte jeder ein Heim. In der Gegend von Wrietzen fiel der letzte zur Erde und der Teufel, sehr schlau muß er wieder nicht gewesen sein, trug den leeren Sack zur Ostsee.

Daß diese Sagen uns Kindern sehr interessant waren, ist begreiflich, besonders die vom Teufelsberg, den wir so oft zum Ziel unserer Wanderungen machten. Über Hecken, Zäune und Gräben, je mehr Hindernisse, desto besser, zogen wir dahin, legten uns aufs Gras und rutschten in den Krater hinein. Freilich, wenngleich nicht fluchend wie der Teufel, aber doch recht herabgedrückt gegenüber der frohen Stimmung des Hinweges, kehrten wir meist heim. Von unseren Kleidern waren manche Fetzen an den Zäunen hängen geblieben, und Grasflecke erzählten von unseren Rutschpartien mehr als ein scharfsichtiges Mutterauge gern sah, und so war der Empfang im Hause oft etwas – niederschlagend. Aber Kinderleid ist bald vergessen; zerrissene Kleider betrüben nur so lange, wie darüber gescholten wird.

Jetzt sind alle, die da mit mir froh waren, längst verstorben – eine andere Generation lebt dort, und ich wollte es ihnen wünschen, daß sie sich so einfach, so herzinnig freuen können, wie wir damals –; denn mir hat die fröhliche Kindheit das Herz frisch und froh erhalten. Leid und viel Kampf späterer Jahre konnten es wohl oft tief niederbeugen, aber dennoch bin ich durch alles zu glücklichem Alter hindurchgedrungen.[47]

Von den Verwandten meiner Mutter, den zerstreut hingeworfenen Bredows, liebte ich ihren Vetter, Onkel Moses in Wagenitz, besonders. Sein schwarzes Haar, der große, ebenso schwarze Bart, hatten ihm diesen israelitischen Namen eingetragen, und ich habe lange nicht gewußt, daß er eigentlich Karl hieß. Erst als ich erwachsen war und mich seiner besonderen Gunst erfreute, wurde mir dies klar. Die Tante, eine begabte, aber eigentümliche Frau, sah der Schloßherrin Brigitte in »den Hosen des Herrn von Bredow« so ähnlich, als habe Willibald Alexis sie als Vorbild genommen. Wie jene, regierte sie das Haus, und der gute Onkel fügte sich ihrem Zepter. Ob nun mit Lust, dafür möchte folgende Legende nicht gerade sprechen Sie sagt, er, der sich wenig um Erziehung der Kinder kümmerte, habe einmal seine älteste Tochter ernstlich gestraft und bei jedem Schlage gerufen: »Du sollst mir einmal keinen Mann unglücklich machen.« Dem sei, wie ihm wolle, das Leben im Hause war ganz behaglich.

Der Onkel, ein langer, hagerer Mann, saß den ganzen Vormittag in oft unbeschreiblich wenig courfähiger Toilette in seinem Zimmer. Er war da umgeben von ausgestopften Tieren und einer großen Sammlung von Mineralien und Schmetterlingen, die er unter Aufwendung erheblicher Mittel angelegt hatte, und deren Studium ihn beschäftigte. Hatte er doch einst einen jungen Gelehrten entsandt, der ihm sein »Museum« in Brasilien und anderen überseeischen Ländern ergänzen mußte.

Die Tante besorgte neben der Hauswirtschaft auch die äußere Wirtschaft und führte ein strenges Regiment. Die Landwirtschaft war damals leicht; es wurde gepflügt, gesät und geerntet, wie es Vater, Großvater und Urgroßvater getan hatten.[48]

Zuweilen gab man auch große Feste in Wagenitz. Sie wurden mit Glanz in Szene gesetzt, aber Tantes sehr sparsame Ader schien oft so durch, daß die Feten nicht gerade besonderen Ruf in der Nachbarschaft genossen.

Der große Saal mit den dunklen Gobelins und dem reichen Waffenschmuck an den Wänden faßte eine zahlreiche Gesellschaft; aber oh weh! die Speisen reichten nicht immer weit. Eine große Enttäuschung, die ich dort erlebt, ist mir noch erinnerlich nachdem überhaupt wenig an den freilich ziemlich großen Kindertisch gelangt war, mußten mein Vetter aus Landin und ich uns in 2 Teelöffel Eis – das letzte in der Schale – noch teilen. Eins der Kinder, Betty Erxleben, ward weinend vor Hunger von der Mutter zur Tür hinausbefördert, um nicht Ärgernis zu erregen.

Bei solch feierlichen Gelegenheiten wurden dem einen ständigen Diener noch mehrere andere zugestellt, d.h. Kutscher, Reitknecht, Gartenbursche, Förster, und was sich sonst dazu eignete, wurden in Livree gesteckt. Kleidungsstücke für sie, reichlich mit Goldborte besetzt, waren vorhanden. Aber wenngleich sie nicht, wie Don Ranudos, eines sagenhaften spanischen Ritters Diener, nur auf der Vorderseite bekleidet waren, so erschienen doch wunderwürdige Gestalten. Bei dem einen sahen die Hände lang aus den zu kurzen Ärmeln hervor, bei dem anderen waren sie fast versteckt in zu langen. Diesem reichten die Rockschöße bis über die Knie, jenem kaum bis an die Taille. Wein floß auch nicht gerade in Strömen; da er immer im Hause abgezogen wurde, kamen die verschiedenartigsten Formen von Flaschen zum Vorschein. Eine, die aussah, als sei eine weite, hohe Weinflasche in der Mitte zusammengebunden, enthielt[49] einmal sogar Essig. Sie war ihrem eigentlichen Berufe treu geblieben, aber aus Versehen unter solche ihresgleichen geraten, die höher gestrebt hatten.

Und doch, trotz des oft wunderlichen Bildes, war jeder gern in Wagenitz. Tante Caroline ersetzte reichlich an guter Laune und immer gleicher Liebenswürdigkeit, was sie am Materiellen fehlen ließ.

Dabei waren die täglichen Mahlzeiten, wenn auch einfach, immer gut. Onkel Moses liebte vor allem Kalbfleisch, und dem wurde viel Rechnung getragen. Ost hatten wir Kalbfleisch zur Suppe und dann Kalbsbraten hinterher. Da der gute Onkel sehr zerstreut war, lohnte er wohl diese Aufmerksamkeit seiner Frau durch die Äußerung: »Aber Karlinchen, warum gibt es denn gar kein Kalbfleisch mehr?«

Tante, an dergleichen gewöhnt, zuckte nur die Achseln, indes wir lachend sagten: »Du hast es ja heute zweimal gegessen,« worauf er verwundernd fragte: »Wirklich?«

Onkel und Tante waren auch überall gern gesehene Gäste, oft fuhren wir nachmittags aus. In späteren Jahren, als wir, sowie die Landiner und Briesener Cousinen alle erwachsen waren, schwärmten wir in Gedichten. Matthisson und vor allem Ernst Schulzes »Cäcilie« und »Bezauberte Rose« rührten uns tief, und ich glaube, man wäre jeder Bildung bar erklärt, wenn man nicht eins oder das andere mindestens halb auswendig gewußt hätte. Jetzt kennt kaum noch jemand diese gefühlvollen Dichtungen.

Für mich erlitt solche Schwärmerei ein jähes Ende, wenn Onkel Moses uns bei unseren Ausfahrten folgte. Er hatte die Ankunft der Post abgewartet, kam nun mit der Zeitung und[50] rief: »Hedchen, na nu komm man und lies mir die Zeitung vor.« Trotz des Trennungsschmerzes von Mathisson und Schulze, folgte ich ihm gern, denn er war so lieb und gut. Es sammelten sich dann noch mehr Zuhörer, und da das Zeitunglesen damals noch nicht so zur Manie geworden war, wie heute, schöpfte, glaube ich, mancher seine ganze politische Bildung aus diesen Vorlesungen.

Onkel Moses benutzte mich überhaupt gern als Vorleser. Mußte ich ihm nun aus seinen naturwissenschaftlichen Büchern vortragen, und war es gerade nach Tisch, dann passierte es wohl, daß er sanft einnickte. Kaum machte sich dies durch anmutig sägende Töne bemerkbar, schob eine der Cousinen ein längst bereit gehaltenes Buch, das uns interessierte, herbei – einen Aufenthalt durfte es nicht geben, sonst wachte der Onkel auf – und mitten aus Schmetterlingen oder Kröten gingen wir zu »Godwin Castle« über. Wachte dann der Schläfer nach einer Weile auf, fragte er wohl erstaunt:

»Gehört denn das hierher?« merkte aber nichts, wenn man schnell und ehrbar zur Naturgeschichte zurückkehrte.

Da Onkel Moses wenig Interesse am Landleben hatte, reiste er gern nach Berlin, wo er Studien im Zoologischen Museum machte und seine Zeit zwischen allen möglichen Kreaturen, die er so gern selbst ausstopfte, zubrachte.

Er fuhr früh aus seiner Wohnung fort, vergaß aber bei seinen Studien völlig Zeit und Stunde, und sowohl das Unglückswurm von Kutscher, der alte Schmidt, als auch die beiden Rappen, die vor den Museen warten mußten, waren manchmal dem Hungertode nahe.

Wenn von Wagenitz aus diese Berliner Reisen angetreten wurden, ging einen Tag zuvor ein riesiger Packwagen mit[51] Lebensmitteln ab, um uns in der ständigen Wohnung, die Onkel und Tante in der Schützenstraße hatten, zu erwarten.

Am Reisetage selbst wurde der gelbe Reisewagen vorgefahren und Gepäckstücke aller Art hinein und hintenauf gelegt. Wir frühstückten wie gewöhnlich in der Halle, indes Onkel in seiner Stube verblieb. Endlich schickte Tante hinein mit der Frage, ob wir ab fahren könnten. Es kam der Bescheid zurück, die Damen sollten nur immer einsteigen, der Herr Baron würde bald kommen. Wir stiegen also ein, die Tante im Fond, meine Cousine Clara und ich auf dem Rücksitz. Clara setzte sich sehr mißmutig auf die kleine Marterbank, denn der Wagen war eng und bot wenig Raum für die Füße. Ich fand mich mit mehr Humor in mein Schicksal, eingedenk der Worte meines Vaters, der solches Stöhnen immer dadurch abschnitt, daß er sagte:

»Willst du bequem sitzen, so kannst du künftig ja zu Haus bleiben, da ist schöner Platz, und alle Sofas sind frei.«

Wir saßen also wartend im Wagen – Onkel aber kam nicht. Tantes Laune sank mit jeder Minute um mehrere Grad. Endlich erschien er, und nun brach der lang zurückgehaltene Sturm auch gewaltig los. Onkel kam in einer »Spille«, einer von weißer Baumwolle gestrickten Nachtmütze, im warmen Fauschrock, mit einem dicken wollenen Tuch um den Hals, an den Füßen Riesenfilzschuhe, und graue Inexpressibles an den Beinen. »Aber Carl, so kannst du doch nicht nach Berlin fahren,« ertönte Tantes empörter Ruf. »Na Karlinchen, wart's doch man ab, das kommt alles noch anders.« Mit diesen beruhigenden Worten setzte sich der Onkel in den Wagen. Tante schüttelte den Kopf, mußte sich aber in das Unvermeidliche fügen, und die Fahrt ging los. Auf dem Bock saßen Kutscher Schmidt und August,[52] der Diener; letzterer hatte ein riesiges Paket Kleidungsstücke auf dem Schoß. Wozu? – die Anwort auf diese Frage ist eben das Spaßige der Geschichte. Nach kurzer Fahrt, als die Sonne schon höher gestiegen war, rief Onkel Moses, da ihm der Fauschrock zu warm wurde: »August, ich will mich umziehen!« Beide, der Diener mit dem großen Paket bewaffnet, verschwanden hinter dem Wagen, und bald erschien Onkel in leichterer Toilette. Nach weiterer Fahrt wehten kühlere Lüfte, abermaliges Verschwinden der Beiden und Erscheinung in wärmerer Weste und Halstuch. So gab es noch öfteren Garderobenwechsel, den Tante jedesmal mit Achselzucken und Kopfschütteln begleitete.

Endlich – am Nachmittage, gelangten wir an jene Stelle der Charlottenburger Chaussee, wo jetzt die ihrem Zweck entrückten Steuerhäuser stehen. Berliner von heute, denke dir, daß Onkel Moses damals, es war im Sommer des Jahres 1834, dort Staatstoilette machte für seinen Klub, der im Teichmannschen Hause in der Tiergartenstraße versammelt war. Onkel verschwand also mit August in den Büschen und trat dann in vollem Glanz hervor: Gelbe Nanking-Inexpressibles, halbhohe Lederschuhe, blauer Frack mit blanken gelben Knöpfen, den Johanniterorden, der damals noch aus königlicher Gunst – als Ehrenzeichen verteilt wurde, auf der Brust. Dies war nun der letzte Akt der Reisetoilette, denn die Tiergartenstraße war auch damals schon zu belebt, um nochmals Änderungen vorzunehmen. Wir langten, nachdem wir den Onkel im Klub abgesetzt hatten, in der bescheidenen, aber recht geräumigen Wohnung an, wo die würdige Sophie, Tantes langjährige Kammerjungfer, die Tags zuvor mit dem Packwagen angekommen war, uns mit bereitgehaltenem Kaffee empfing und erquickte.[53]

Nach dieser kleinen Abschweifung in das Jahr 1834 kehre ich jetzt zu meiner Kindheit zurück.

Die schönen Zeiten in Schönhausen endeten schon mit meinem neunten Jahre. Meine Studien hatten dort begonnen; als ich damit anfing, tat mir meine Mutter leid, daß sie nicht auch soviel lernen könne wie ich, bis ich einmal aus einem Gespräch, das sie mit unserem Hauslehrer führte, voller Staunen sah, wie groß ihr Wissen war.

Als dann meine Eltern den Landaufenthalt mit Berlin vertauschten, fand ich bald darauf in der Mayetschen Erziehungsanstalt, einer der ersten jener Zeit, Aufnahme. Ich wohnte bei meinen Eltern und besuchte von ihnen aus, wie man es heute nennen würde, als Tagespensionärin, den Unterricht bei Mayets in den Jahren von 1825–1827.

Wenn ich nun mit den ganzen Einrichtungen dort die heutigen Mädchenpensionate vergleiche, so wird mir erst klar, wie die Ansprüche gewachsen sind. Wie wird's erst sein, wenn abermals 80 Jahre ins Land gegangen sein werden!?

Drei Schwestern, die Mamsellen Mayet, wie sie damals genannt wurden, hatten eine sehr einfache Wohnung inne, zwei Treppen hoch, an der Ecke der Friedrich- und Französischen Straße.

Die Ausstattung des größten Raumes, der gleichzeitig als Schul- und Eßzimmer diente, bestand aus zwei großen Bücherschränken und einem schmalen, langen Tisch, an dem auch Mittags gegessen wurde. Die einzige Sitzgelegenheit waren H olzbänke, ohne Lehnen; nur Caroline, die älteste Schwester, saß Mittags auf einem Stuhl, den sonst, während des Unterrichtes, der Lehrer einnahm.[54]

Dies Eßzimmer war der Raum für die 2. Klasse, die am zahlreichsten besetzt war. Die 1. und 3. Klasse befanden sich in einem kleinen Nebenzimmer. Da stand auf der einen Seite, am Fenster, auch ein schmaler, aber kleiner Tisch mit Bänken. Auf der anderen Seite, vor dem steifen kleinen Sofa, ein größerer Tisch, der für die beiden Klassen zur gemeinsamen Zeichen- und Schreibstunde benutzt wurde. In einer Ecke war noch ein kleines Etablissement mit ganz niedrigen Bänken-hier wurden einige ABC-Schützen unterrichtet.

Im hinteren Raum, dem Mädchenzimmer, wurden die Sachen der nur zum Unterricht kommenden Kinder abgelegt. Was für eine Bazillentheorie würde man heute auf der Tatsache kultivieren, daß die nassen Mäntel und Hüte der jungen Mädchen dort stundenlang auf den nicht immer blütenweißen Betten des Dienstmädchens lagen.

Meine Schwester und ich waren in Halbpension, kamen morgens und gingen abends wieder fort. Das Essen war sehr einfach. Einige Gänse abgerechnet, die pommersche Eltern im Herbst schickten, habe ich keinen Braten gesehen. Alle 3 Wochen, Mittwochs, wurde in der Küche gewaschen; dann gab es Mehlsuppe, wir nannten sie Seifenwasser, und Kartoffelklöße mit Mussauce. Käme das jetzt in einem Pensionat vor, ich glaube, die Eltern schickten Extrazüge, um ihre Kinder abholen zu lassen. Uns ist es ganz gut bekommen, sogar jener kostbare Eierkuchen, welcher an einem Waschtag erschien und Mamsell Bettys Anstrengungen, ihn zu schneiden, widerstand. Überall kamen Hemmnisse – und was war es? Die Köchin hatte das Mehl das sie dazu geholt, ohne weiteres in ihren Marktkorb geschüttet – darunter, auf dem Grunde desselben, lagen aber einzelne[55] Groschen; diese hatten sich unter das Mehl verirrt und waren nun in den Eierkuchen geraten.

Die Tanzstunden, auf welche besonderes Gewicht gelegt wurde, fanden in der 1. Klasse statt. Als Vorbereitung wurden 2–3 Talglichter angezündet. Diese hatten, wie alle ihresgleichen, die Eigenschaft, schwer anzubrennen. Dann hob Mamsell Betty, in großer Geduld, sie immer und immer wieder langsam in die Höhe, bis sie heller brannten.

In diesen Räumen, bei ähnlicher Beleuchtung, fanden auch die Feste statt. Die Tür zu Mayets Wohnzimmer, welches daneben lag, wurde geöffnet, und die Eingeladenen sahen französischen Lustspielen und Gruppentänzen bewundernd zu. Ich sehe noch Agnes Erxleben mit Grazie Gavotte tanzen, und Dora Hellwig Shawltanz vorführen.

Nach den Vorstellungen wurde allgemein getanzt, und es waren dazu immer einige leibhaftige Leutnants, Kadetten oder ähnliches, Brüder von Pensionärinnen da. Diesen Jünglingen schmeckten Mohnpielen und Butterbrot auch ganz gut; nebenher konnten sie sich in dem Hochgenuß sonnen, hier ganz etwas Besonderes zu sein.

Tage und Wochen war es dann bei uns Schulgespräch, mit wem jener Jünglinge man getanzt. Eifersucht erregte Feindschaften, Freundschaften erwuchsen aus gemeinsam empfundener Vernachlässigung.

Wenngleich das jetzt nicht mehr unter dem Schein von Talglichtern entsteht, so wird es auch unter Gas und elektrischem Glanz nicht anders sein. Das Menschenherz, das schon die Bibel ein trotzig und verzagt Ding nennt, bleibt sich ja immer und überall gleich.[56]

Mir ist aus dieser Kinderzeit Freundschaft bis ins hohe Alter, wo der Tod uns schied, erwachsen; Betty Erxleben, die aus dem Havellande stammte und einst, wie ich schon erzählte, auf dem Diner in Wagenitz Tränen des Hungers vergoß, kannte ich schon seit lange; nun fanden wir uns in der Pension wieder.

Unsere innige Freundschaft ging, wie man das ja überhaupt Kindern nachsagt, zuerst durch den Magen. Zum Vesperbrot gab es Musstullen, mein Schrecken. Was aber, wie das Sprichwort sagt, des Einen Uhl ist, das ist des Andern Nachtigall – Betty aß sie gern. Da nahm sie meine verschmähten Musstullen, aber, trotz des Genusses, der ihr dadurch wurde. nicht umsonst. Ich mußte mich verpflichten, ihr am anderen Morgen einen frisch gerösteten Zwieback mitzubringen. Da unser eigener Haushalt auch in gebührender Einfachheit erhalten wurde, erlaubte sich nur mein Vater den Luxus solcher Zwiebäcke. Weil er mir aber jeden Wunsch erfüllte, gab er gern meiner Bitte nach, mir einen dieser Leckerbissen zu überlassen, um meinen Verpflichtungen nachzukommen. Betty hat den Zwieback reichlich durch Liebe und Treue vergolten, und ihre Töchter nach ihr.

Von den Schwestern Mayet war die Jüngste, Mademoiselle Lotte, ganz taub. Sie war lange in Frankreich gewesen und gab alle französischen Stunden. Sie saß dann am Ende des schmalen Tisches. Ich gehörte zwar dem Alter nach nicht zur 1. Klasse, war aber, von frühester Jugend an französisch unterrichtet, den Kenntnissen nach reif dafür und teilte diesen Unterricht. Lotte, sie trug dicke Locken, wie sie damals Mode waren, bückte sich tief über das Heft, das sie eben zur Korrektur hatte und rief[57] eine nach der anderen heran: »Agnes, votre cahier«, rief sie Agnes Erxleben zu. Diese, die geliebte, aber noch mehr gefürchtete Älteste aller Schülerinnen, stieg auf den Tisch, ging mit ausgebreiteten Armen, wir sagten wie ein Adler, den Tisch entlang und sprang kurz vor Lottes Platz herunter, ohne daß die arme taube Lehrerin eine Ahnung davon hatte. Wir waren, wie oft, über die Frechheit von Agnes entsetzt; aber wehe der, die ein Wort dagegen oder davon gesagt hätte! Agnes führte ein strenges Regiment.

Es waren frohe Zeiten, wenn wir auch über manches murrten und klagten.

Zu uns gehörte Hertha von Witzleben. Ihr Vater war General und Lieblingsadjutant Friedrich Wilhelms III. Ihm gehörte die bis vor kurzem seinen Namen tragende Besitzung in Charlottenburg. Er durfte über die königlichen Equipagen verfügen, und schickte solche öfters, um Mamsell Mayets, Hertha und einige ihrer Freundinnen abholen zu lassen. Wie stolz waren wir da, wenn wir, ein Vorrecht der königlichen Wagen, durch das Mittelportal des Brandenburger Tores fahren und auch an der Grenze des Weichbildes von Berlin auf der Chaussee die abgeschlossene Durchfahrt passieren durften.

Durch Hertha wurde viel über König Friedrich Wilhelm zu uns gebracht und die Verehrung, die ihr Vater so besonders für ihn hegte, uns allen eingeimpft.


In diese Zeit fällt eine Reise, die meine Eltern im Sommer des Jahres 1825 unternahmen, und deren Ziel Dresden und die sächsische Schweiz war. Damals ein Unternehmen, das lange[58] vorher beraten werden mußte. Unser Wagen wurde mit einem Verdeck versehen, das auch über den Vordersitz reichte, und eine zweite ähnliche Reisekutsche gebaut. Möglichst bequeme Behältnisse für unser Gepäck, die viel Sachen aufnehmen konnten und doch wenig Raum im Wagen beanspruchten, wurden hergestellt. Unsere Kindertoilette erhielt prunkvoll erscheinende Ergänzungen. Diese Vorbereitungen bildeten Wochen vorher einen nicht geringen Mittelpunkt unserer Freude und unseres Interesses. Da meine um zwei Jahre ältere Schwester, mein Bruder und ich mitgenommen werden sollten, mußten die Ferien abgewartet werden.

Der letzte, heiß ersehnte Schultag, der dritte August, der Geburtstag König Friedrich Wilhelm III. brach an. Meine Schwester und ich begaben uns am Morgen zu Mamsell Mayets, wo zur Feier des Tages eine Ansprache an die Schülerinnen stattfand.

Adelheid von Wilmowski, die es für ihre besondere Aufgabe hielt, früh die Küche zu inspizieren, teilte uns mit, daß ein großer Braten unserer warte, eine, in der einfachen Anstaltsküche an Wochentagen unerhörte Erscheinung, die uns in sehr patriotische Stimmung versetzte. Sie wurde an der Mittagstafel noch gehoben, weil uns erlaubt ward, deutsch statt des sonst unerläßlichen Französisch zu sprechen. Nach dem Essen wurde uns völlige Freiheit gelassen, die wir zur Aufführung eines improvisierten Lustspiels, bei dem ich eine Schönhauser Bäuerin vorstellte, benutzten. So kehrten wir am Abend in der heitersten Stimmung ins elterliche Haus zurück, wo die Unruhe des für morgen bestimmten Aufbruchs herrschte. Der bewundernde Neid meiner Schulkameradinnen hatte das Gefühl meiner Erhabenheit[59] in der Aussicht der bevorstehenden Abenteuer nicht unbedeutend gehoben, und ein Afrikareisender von heute mag kaum mit so großen Erwartungen hinausziehen, wie die meinigen waren, als wir am 4. August 1825 früh vor Sonnenaufgang durch die noch totenstillen Straßen Berlins fuhren. Selbst der Steueraufseher am Potsdamer Tor schlief noch, denn auch die Marktwagen rückten erst später in die Stadt. Um 9 Uhr kehrten wir im Gasthof zum Bären, vor dem Tore von Potsdam ein, wo unsere eigenen Pferde vorgelegt wurden. Mein Vater übernahm fortan die Führung des einen Wagens, der Kutscher die des anderen. Es erschien mir fast unbegreiflich, daß auf der einförmig zwischen Pappelreihen dahinlaufenden Chaussee, wo wenig Verkehr war, immer noch nichts Wunderbares vorkommen wollte, ja auch in Treuenbrietzen, wo wir Mittag aßen und die Pferde gefüttert wurden, nichts Besonderes sich zeigte. Gegen Abend erreichten wir Wittenberg; mein Vater führte uns dort zum Lutherdenkmal und an das Haus, wo der Reformator gewohnt hat. Hier lernte ich durch die Erzählungen meines Vaters mehr von Luther, als sonst in der ganzen Zeit meines Schulbesuches. Es herrschte damals fast in allen Kreisen eine solche Gleichgültigkeit in bezug auf religiöse Dinge, daß der Unterricht auf diesem Gebiet ein unendlich dürftiger blieb. Am nächsten Tage erlebte ich das erste Wunder auf dieser Reise; nämlich in dem Städtchen Delitzsch, wo wir Mittagspause machten, sah ich einen Brunnen, der von selbst lief, ein Rätsel, das ich trotz der Erklärung meines Vaters nicht verstehen konnte. Als wir unser zweites Nachtquartier Leipzig erreichten, erregten die vor der Wache sitzenden Stadtsoldaten unser höchstes Erstaunen. Sie trugen weiße Röcke mit roten Kragen und Aufschlägen[60] und großen blanken Knöpfen, kurze, weiße Hosen, rote Gamaschen, und saßen strickend auf hölzernen Bänken! Nur der gerade wachthabende Mann ging auf und ab. Der Unterschied zwischen dem preußischen Militär und diesen Karikaturen brachte uns zum Lachen. Mein Vater besichtigte am folgenden Tage die Schlachtfelder. Ich erinnere nur das Denkmal Poniatowskys gesehen zu haben. Auf einem Umweg über Chemnitz setzten wir unsere Reise fort. Hier besuchten wir eine Kattunfabrik, in der mir die Arbeit von Kindern auffiel, die, jünger als ich, vor den in große Rahmen gespannten Stoffen saßen, in die sie die vorgedruckten Muster hinein malten. Von Freiberg an bot die Gegend den Kindern der Mark schon viel des Wunderbaren. Da gab es Berge und Tannen, letztere kannte ich nur aus Bildern, erst viel später überzeugte man sich, daß sie auch bei uns, wo man nur die Kiefer kultivierte, wachsen können, und ich bewunderte die Tannen nicht weniger, wie später die Orangenbäume Italiens. Nicht minder interessierte mich, was ich in Freiberg vom Bergwesen erblickte. Mein Vater und mein Bruder fuhren hinab in das Bergwerk, und ich sah die Bergleute, wie sie das Erz ans Tageslicht förderten, das Silber von den Schlacken absonderten und endlich große Barren des Edelmetalls dalagen. Gegen Abend erreichten wir Dresden, wo wir die große Elbbrücke sogleich besuchten. Mir erschien es wunderbar, die Elbe hier in so ganz anderer Umgebung zu sehen, als in Schönhausen, wo ich oft an ihren ziemlich öden Ufern Muscheln gesucht hatte. Da es Sonnabend war, läuteten die Glocken von allen Türmen, und dieser feierliche Eindruck brachte mir zuerst zum Bewußtsein, daß ich nicht zu viel von dieser Reise erwartet hatte, eine Befriedigung, die sich noch steigerte, als wir am nächsten Morgen[61] in der Schloßkirche waren, wo der katholische Pomp und die herrliche Musik mir tiefen Eindruck machten. In einer Galerie aufgestellt, sahen wir dann den Hof nach dem Schloß zurückkehren. Hellebardiere schritten in roten Röcken voran, sie trugen lange Zöpfe und in den Händen Stäbe mit goldenen Knöpfen und farbigen Seidenschleifen. Dann kam König Anton, ein kleiner starker Herr, im roten, reich mit Gold verzierten Leibrock, weißen Kaschmir-Beinkleidern, langen weißen Strümpfen und Schnallenschuhen. Er trug eine weiße Perücke, an deren Zopf eine weiße Atlasschleife befestigt war. Die Königin erschien auch in alter französischer Hoftracht mit Reifrock und langer Schleppe, die von Pagen getragen wurde, in steifer Schnebbentaille mit hoch aufgetürmtem gepuderten Haar, auf dem ein blumengeschmückter Kopfputz thronte. Prinzessinnen, Hofdamen, Herren des Gefolges zogen vorbei. Noch heute nach so vielen Jahren sehe ich lebhaft vor mir, was dem Kinde damals unauslöschlichen Ein druck machte.

Ich verlebte in Dresden meinen elften Geburtstag, an dem mir ein etwas wunderbares Vergnügen zuteil wurde. In Berlin gab es damals noch keinen eigentlichen Zahnarzt, wohl aber in Dresden. Da meine Mutter sich um eine kleine Stelle an einem meiner Vorderzähne Sorge machte, ward dieser Künstler in das Gasthaus berufen und arbeitete viel und lange, keineswegs zu meiner Erlustigung an meinem Zahn herum, der mir aber dadurch weit über dreißig Jahre erhalten wurde. Ein Ausflug nach der sächsischen Schweiz beendete unseren Aufenthalt in Dresden. Auf der Bastei, wo es jetzt an Hotels nicht fehlt, standen damals nur einige hölzerne Buden, und meine Mutter, die darauf gerechnet hatte, dort noch Toilette für Schandau zu[62] machen, konnte dies nur hinter einem aufgespannten Tuch der königlichen Familie auf dem Königstein während des napoleonischen Krieges, erinnere ich noch, und daß er sagte, man habe vergebens versucht Geschütze auf den Lilienstein zu schleppen, um von dort aus die Festung zu beschießen.


Auf der Rückreise hatte ich ein mich sehr aufregendes Abenteuer. In Oschatz speisten wir an der Wirtstafel mit Offizieren, die ein Truppenkommando dorthin geführt hatten, das den seit einiger Zeit sich immer wiederholenden Brandstiftungen in der ganzen Gegend nachspüren, die Übeltäter wenn möglichst den Gerichten überliefern und bei den Rettungsarbeiten helfen sollte. Die lebhafte Unterhaltung an der Abendtafel drehte sich um diese Aufgaben und die Offiziere sagten, daß die Brandstifter, wenn man sie singe, wahrscheinlich dem Feuertode überliefert würden, damals die übliche Strafe für solche Verbrecher, wenn Menschenleben den von ihnen angelegten Bränden zum Opfer gefallen waren. Diese Gespräche hatten mich furchtbar erregt. Ein plötzlicher Lärm auf der Straße, das Aufspringen der Offiziere, die eine neue Feuersbrunst vermuteten, und in demselben Augenblick ein, wie mir schien, entsetzlicher Knall in der Ecke des Zimmers, versetzten mich in eine solche Todesangst, daß ich laut aufweinend in die Arme meiner Mutter stürzte und sie anflehte, diesen Ort des Schreckens zu verlassen. Der Lärm auf der Straße war inzwischen verstummt, die beruhigten Offiziere kehrten zu ihrer Mahlzeit zurück, aus der Ecke aber ergoß sich statt des gefürchteten Feuerstromes, ein kleiner schaumbedeckter Bierfluß, denn eine der großen Tonbierflaschen[63] hatte den Korken abgeworfen. Unter allgemeinem Gelächter ward ich zu Bette befördert. Wenn ich später meinen Schulfreundinnen von meinen Reiseerlebnissen erzählte, erwähnte ich der Bierflasche in Oschatz niemals und hatte auch meiner Schwester das Versprechen abgenommen, über diesen dunklen Punkt zu schweigen.


In den Jahren wo Kindheit und Jugend grenzen, nahm meine Mutter mich und meine Schwester öfters zu den Abendgesellschaften im Hause einer ihrer Freundinnen mit, die uns regelmäßig durch die Worte einlud: »Bringe deine kleinen Mädchen mit, damit sie sich mit Anstand langweilen lernen.« Meine um zwei Jahre ältere Schwester fühlte sich durch diese Form beleidigt und folgte in möglichst übler Laune. Mir versüßte die Aussicht auf Baisertorten und Eis das sonst allerdings langweilige Vergnügen, bei denen es nicht immer leicht war, das Gähnen mit Anstand zu unterdrücken, denn die Fragen der anwesenden Damen nach unserem Alter, unserem Schulbesuch usw. boten dem lebhaften Kinde keine Unterhaltung. Einer dieser Abende war mir dennoch sehr interessant, und was ich erlebte, bot mir am nächsten Tage nicht geringen Anlaß, mich mit Stolz des großen Ereignisses zu rühmen. Ich sah nämlich Chamisso.

Zwischen der Wirtin und meiner Mutter saß der Dichter auf dem Sofa, aber seine äußere Erscheinung machte keinen sehr poetischen Eindruck. Sein starker Kopf, der etwas in den Schultern steckte, war mit dickem, grauen Haar bedeckt, das er in der Mitte gescheitelt trug.

Buschige Augenbrauen gaben seinem Gesicht etwas sehr[64] Finsteres. Er trug einen grauen Rock. In sich zusammengesunken, sprach er wenig und ließ die Liebenswürdigkeiten der beiden Damen über sich ergehen, ohne ihnen irgendwie Rechnung zu tragen. Ja, es machte den Eindruck, als könne weder Scherz noch irgendwelche Freudigkeit Anklang bei ihm finden Wenn ich später seine Gedichte mit Entzücken las, ist es mir immer unklar gewesen, daß in diesem Kopf, hinter dieser fast finsteren Stirn, nicht nur soviel Poesie, sondern auch ein Humor wohnen konnte, wie er sich z.B. in der »Tragischen Geschichte« (»s'war einer, dem's zu Herzen ging, daß ihm der Zopf so hinten hing«) ausspricht; oder in der köstlichen Szene, wo der Vater, seiner Tochter zur Ehe mit einem ungeliebten Manne zuredend, schließlich an seine Frau appelliert »Mutter, haben wir uns je geachtet, haben wir uns je geliebt?«

Chamisso konnte bis an sein Ende unsere Sprache weder korrekt sprechen noch schreiben. Und doch ist er ein deutscher Dichter gewesen in des Wortes bester Bedeutung. König Friedrich Wilhelm IV. hat ihm als Kronprinz geschrieben:

»Die vielen Schnurren und Malizen in Ihren Gedichten sind keine welsche, sondern echt nationale, und sogar den gottlosen Béranger haben Sie nicht übersetzt, sondern ver deutscht!«


Der Unterricht bei Mayets, der sich hauptsächlich auf das Französische beschränkte und sonst manche Mängel bot, genügte meinen Eltern auf die Dauer nicht, und so traten wir Schwestern in die Büttnersche Schule ein; diese war sehr besucht und genoß den besten Ruf.

Von den Lehrern ist mir besonders Dr. Seidel in Erinnerung[65] geblieben; er verstand es in hohem Maße anregend auf seine Schülerinnen zu wirken, Lob und Tadel aus seinem Munde spornten uns zu ungewöhnlichen Leistungen an. Besonders genußreich gestalteten sich für uns die Stunden, in denen Gedichte gelesen wurden, z.B. »die Glocke« mit verteilten Rollen.

Trug er selber ein Gedicht vor, so erreichte die Begeisterung ihren Höhepunkt. Die schwülstige Poesie jener Zeiten rührte uns oft zu Tränen, und auch Dr. Seidels Augen blieben nicht trocken, wenn er »Adelaide« von Matthisson vortrug:


»Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten,

Mild von lieblichem Zauberlicht umflossen,

Das durch wankende Blütenzweige zittert:

Adelaide.


In der spielenden Flut, im Schnee der Alpen,

In des sinkenden Tages Goldgewölken,

Im Gefilde der Sterne strahlt dein Bildnis:

Adelaide.


Abendlüftchen im zarten Laube flüstern,

Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln,

Wellen rauschen und Nachtigallen flöten:

Adelaide.


Einst, o Wunder! erblüht auf meinem Grabe

Eine Blume der Asche meines Herzens;

Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:

Adelaide.«


Wir hatten uns infolgedessen einen ganzen Roman für den guten Herrn Seidel konstruiert, glaubten fest an seine früh[66] verstorbene Adelaide und bewunderten in gefühlvoller Teilnahme seine Treue für die Geliebte.

Übrigens war er kein unpraktischer Schwärmer; er zeigte uns außerdem allerhand Nützliches, wie die damals so nötige Kunst Briefkuverts selbst anzufertigen; wir waren stolz darauf, sie auf vier verschiedene Arten herstellen und mit Geschick siegeln zu können. Auch Schreiben mit schicklichen Anreden an hohe und allerhöchste Personen, neben deutschen Aufsätzen selbstgewählte geschichtliche und poetische Themata lehrte er uns zu verfassen.

Eine originelle Praxis verfolgte er beim Geschichts-und Geographie-Examen Papierstreifen, mit unseren Namen beschrieben und dann zugeknifft, wurden auf den Tisch geworfen; die Trägerin des am weitesten fortgeflogenen Namens mußte sich zu ihm setzen und wurde 10 Minuten lang gründlich ausgefragt. Da nun niemand wußte, wen das Los treffen würde, so bereiteten sich alle eifrigst vor.


Bis zum Jahre 1831 besuchte ich die Schule, wurde aber erst im folgenden eingesegnet, in der Dreifaltigkeitskirche bei Schleiermacher; drei Jahre hatte ich seinen Religionsunterricht besucht.

Wer, so wie ich, durch ein langes Leben hindurch, dem Wechsel der Zeit gefolgt ist; wer Menschen und Verhältnisse in ihrem Wandel gesehen, hat auch Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie sich das religiöse Leben in weiten Schichten gewandelt und gehoben hat.

Obgleich im Hause meiner Eltern durch meine Mutter[67] kirchlicher Sinn aufrecht erhalten wurde, so war es doch nur ein totes Wesen, wie in all den Kreisen, in denen ich als Kind lebte. Jenes cantique de Boileau, das ich an Stelle eines Gesangbuchliedes lernte, ist bezeichnend für den religiösen Standpunkt jener Zeit; es beginnt:

»Dieu dans la nature entière je vois ton temple autour de moi

Man verherrlichte Gott in der Natur, stand aber dem Heil in Christo ganz fern. Schleiermacher nahm in seinen Konfirmandenstunden nur das Glaubensbekenntnis durch; die anderen Hauptstücke wurden nie eingehend erläutert, vielleicht durch auftauchende Fragen gelegentlich gestreift. Traten bei dieser Gelegenheit recht verkehrte Antworten zutage, so wurden diese nicht widerlegt, sondern führten nur zu neuen Fragen. Daraus entstand ein Gewebe, dessen Fäden selbst ein besonders begabter Geist kaum folgen konnte, um so mehr, als dergleichen Fragen oft wochenlang schwebten.

Weder Bibelsprüche noch Kirchenlieder wurden gelernt. Auf diese Weise hatte das Kind nichts, woran sich halten, wenig fürs Leben mitzunehmen.

Wieviel Schleiermacher als Wecker des toten Christenlebens getan hat, ist allbekannt; die Macht seiner Rede war eine unsagbar große. Ich kann mir wohl denken, wie er viele, die ein höheres Verständnis hatten, als wir Kinder, mit siegender Gewalt zu dem Herren Himmels und der Erde geführt hat, wenn er sie, aus dem Worte Gottes schöpfend, aufrief, dem irdischen Herren, dem König, Gut und Blut zu opfern.

Meine Mutter erzählte von jener begeisternden Feier, zu der sich vor dem Ausmarsch 1813 eine Schar des Berliner[68] freiwilligen Jägerkorps mit ihren Angehörigen in der Kirche versammelte, um gesegnet in den Kampf fürs Vaterland auszuziehen. Während der Predigt standen die Büchsen an die Wände gelehnt, und aus dem Gotteshause ging es fort, mit Gott für König und Vaterland zu siegen – oder zu fallen.

Da sind viele Tränen geflossen! Die sie vergossen, wußten klar, warum sie weinten, und wer diese Tränen trocknen konnte.

Wir weinten bei der Einsegnung Ströme von Tränen der Rührung; worüber aber, das hätte wohl kaum eine sagen können!

Für mich sind Jahre vergangen, ehe ich ein wirkliches Verständnis des Christentums gewonnen habe. Ein lieber, alter Freund, der fromme Professor Rabe, ist mein Leiter dafür gewesen, er veranlaßte mich, die Predigten von Hoffmann im Dom zu hören. Durch ihn ist mir klar geworden, daß ohne Christum kein Heil für Leben und Sterben sei. Eine Predigt ist mir besonders erinnerlich, die dem zweifelnden Thomas Schritt für Schritt folgte, bis er niederfiel zu den Füßen des Herrn mit dem Ausruf: »Mein Herr und mein Gott!«

So bin auch ich geführt worden.

Otto besuchte gleichfalls den Schleiermacherschen Religionsunterricht, wurde aber, wenngleich wir im selben Alter standen, ein Jahr früher konfirmiert als ich.

Der Unterricht fand in dem Gebäude statt, wo jetzt das Hausministerium ist. Die Knaben wurden entlassen, kurz ehe wir kamen; so begegneten wir uns oft auf dem Wege, wenn ich mit meinen Gefährtinnen hinging. Da wurde ich häufig, nach Ottos freundlichem Gruße, mit meinem häßlichen, ungelenken[69] Vetter geneckt. Otto war damals sehr lang gewachsen, schmal, und ließ noch nicht die Hünengestalt seiner späteren Jahre ahnen.

Wenn seine Eltern nicht in Berlin waren, besuchte er uns öfter des Sonntags Abends und war ein heiterer, munterer Kamerad, der immer Neues, Spaßhaftes zu erzählen wußte. Wenig angenehm allerdings war mir unter seinen Scherzen folgender er sagte, sein Französisch absichtlich verdrehend, je veux trancher des visages« und stellte sich mit gräßlichem Gesichterschneiden vor mich hin.

Später sind unsere Lebenswege lange auseinandergegangen, und ich habe ihn erst als Bundestagsgesandten wieder gesehen.

Da hatte er inzwischen wahr gemacht, was einst Geheimrat Wilke, sein Vorgesetzter aus der Potsdamer Referendarzeit, zu meiner Mutter sagte, nämlich: »Wenn es dem Herrn von Bismarck gelingt, seine persönliche Faulheit zu überwinden, dann ist er zu allen hohen Staatsämtern fähig!«[70]

Quelle:
Bismarck, Hedwig von: Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen. Halle 151913, S. 11-71.
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