XI.

Heimkehr nach Berlin.

Die Berliner nach dem 18. März.

[61] Am 13. März 1848 wurde in Wien das Metternich'sche Regiment zertrümmert. Wie ein Kartenhaus brach es zusammen, umgeblasen von dem lauten Freiheitsruf der aufgeregten Bevölkerung. Es bedurfte zu aller Welt Erstaunen keines langen blutigen Kampfes, um die Herrschaft eines Staatsmannes niederzuwerfen, der in Europa für allmächtig galt, weil er seinen verderblichen Einfluß auf sämtliche Monarchen ausübte, die auch nichts anderes wünschten, als seinem Rat, der nicht selten ein Befehl wurde, mit ganzer Seele nachzukommen. Metternich war ihnen die Vorsehung des Königtums von Gottes Gnaden. Und doch hatte sich in Wien, wo er als unbeschränkter Herr waltete – der Kaiser war ja geistig unmündig – als das Volk sich erhob, keine Hand ernstlich für ihn gerührt. Die Mitglieder des kaiserlichen Hauses haßten ihn, weil er sie zu seinen Handlangern degradiert hatte, seine Kollegen im Ministerium und die alten Generäle[61] haßten ihn, weil er ihnen wie jedem andern gegenüber der alleinige Gebieter war, alle höheren und mittleren Staatsbeamten lachten sich ins Fäustchen, als sie ihren Herodes gedemütigt und die Flut der Empörung ihn verschlingen sahen. Das Wiener Volk stieg auf die Gasse und seinen wildesten Zornesausbrüchen trat ein so geringer Widerstand entgegen, daß es mit einem Hohngelächter den Götzen der europäischen Reaktion aus seinem Tempel vertreiben konnte. Niemand hatte geglaubt, daß Fürst Metternich, die Säule der reaktionären Gewalten Europas, so schwach fundiert war, daß er am Tage der großen Prüfung wie ein Strohhalm in sich zusammenknicken mußte.

Die Leichtigkeit des Triumphes sollte später den Siegern verhängnisvoll werden.

In Berlin wurde am 18. März das Schicksal der absoluten Monarchie für immer entschieden. Hier saß ein Mann auf dem Throne, der bei allem Witz, den er in seinem engsten Hofzirkel entfaltete, bei allem mannigfaltigen Wissen, das er in sich aufgenommen, in allen politischen Fragen einen beschränkten Gesichtskreis hatte und eine auffällige Unkenntnis des Geistes seiner Zeit, ihrer treibenden Ideen, sowie der Menschen und Zustände, verriet, mit und in denen er lebte. Man hat mit gutem Grund ihn den »Romantiker auf dem Thron der Cäsaren« genannt. Schade, daß ihn das Schicksal nicht zu einem Poeten gemacht, er wäre der Rival eines Clemens Brentano und Zacharias Werner oder eines Geschichtsschreibers wie Görres geworden. Er war eben so anormal angelegt wie sie und deshalb zum König, zum Haupte einer Nation in einer gärenden Zeit wie die seine durchaus nicht berufen. Er hat eine klägliche Rolle auf dem Throne der Hohenzollern gespielt.

Als ich einige Tage nach dem 18. März in Berlin eintraf, wurde ich von dem Bilde, das sich hier meiner Beobachtung darbot, aufs Höchste überrascht. In Paris hatte ich eine fröhlich erregte Bevölkerung gesehen, die noch bis tief in den März von der Siegesstimmung nichts eingebüßt hatte, die am Abend des 24. Februar sie zu den lautesten Kundgebungen hinriß. In Berlin war schon wenige Tage nach dem 18. März von dem Revolutionsrausch, der in Wirklichkeit ja ganz Deutschland ergriffen hatte, kaum noch etwas zu merken. Der Rausch hatte sich rasch verflüchtigt. Die Leute sahen ernst darein, als fürchteten sie die Zukunft. Die Selbstdemütigung des Königs, als er auf den Balkon[62] trat, um der Aufforderung des unten auf dem Platze drohend versammelten Volkes nachzugeben und vor den von den Barrikaden aufgehobenen Leichen den Hut zu ziehen, sein Ritt durch die Straßen der Stadt hinter der, von dem berüchtigten Geheimpolizisten Stieber vor ihm hergetragenen schwarz-rot-goldenen Fahne, die bekannt gewordene Tatsache, daß er während des Kampfes zwischen Bürgern und Soldaten in Tränen zerflossen, daß er während des Volksaufstandes, ein ganz gebrochenes Gemüt, gewollt und nicht gewollt und sich vollständig unköniglich benommen, alles das ließ eine gehobene Stimmung nicht aufkommen. Die Bevölkerung schwankte zwischen Hohn und Mitleid, sie ahnte auch, daß die Demütigung, welche Friedrich Wilhelm IV. erfahren hatte, sich bald in Trotz verwandeln und einen um so hartnäckigeren Widerstand gegen die Volkswünsche hervorrufen werde. Hatte man doch schon nach den ersten Tagen die alten feudalen und hochkirchlichen Ratgeber in der Umgebung des nach Potsdam übergesiedelten Monarchen sich wieder einstellen sehen. Ein Ruf nach der Republik, wie er in einigen süddeutschen Landschaften vorübergehend erschallt war, hatte sich in Norddeutschland, speziell in Berlin nicht vernehmen lassen. Man möchte sagen, das preußische Volk fühlte sich im Innern selbst gedemütigt, daß ein Nachfolger Friedrichs des Großen so wenig Mark in den Knochen hatte.


An Paris erinnerte mich nur die mit Kreide an den Eingang zum Palais des Prinzen von Preußen, späteren Kaisers Wilhelm, geschriebenen Worte »National-Eigentum.« Wache hielten davor zwei Männer der im Nu gebildeten Bürgerwehr, welche den Dienst des zurückgezogenen Militärs versah. Sie trug keine Uniform, doch war sie mit Infanterie-Gewehren bewaffnet. Die Bürgerwehr nahm ihren Dienst sehr ernst. Zu ihr hatten sich wesentlich die bürgerlichen, wohl liberal, doch keineswegs revolutionär gesinnten Elemente der Hauptstadt gemeldet. Der weiter nach links stehende Handwerkerverein, von dem ich in einem früheren Kapitel gesprochen, bildete ein besonderes Bataillon. Wenn die Nacht hereinbrach, marschierten Abteilungen der Bürgerwehr durch die Straßen in ganzer Breite derselben, um jede Ansammlung von Volksmassen zu verhindern. Verdächtige, sogenannte »Bassermann'sche Gestalten« wurden von den Hütern der öffentlichen Ordnung manchmal nicht eben[63] sanft beiseite gedrückt. Die Bürgerwehr sorgte für die Ruhe der Stadt, für Ordnung auf den Straßen und öffentlichen Plätzen.

Mit der gewissermaßen aus der Erde emporgeschossenen Bürgerwehr waren sogleich nach der vom König ausgesprochenen Verheißung einer Verfassung das durch dieselbe erst zu verbürgende, von der liberalen Bevölkerung in Aussicht genommene Recht der freien Presse und das freie Vereins- und Versammlungsrecht ohne weitere Formalitäten ins Leben getreten.

Um den Zensor, den alten Geheimrat John, ein kleines Männchen mit einem wie aus Holz geschnitzten Köpfchen, das sich bemühte, einen recht wohlwollend durch die großen Brillengläser anzuschauen, denn er ahnte wohl schon lange, daß sein Reich bald zu Ende gehen sollte, und er wollte doch nicht, daß er in der Erinnerung der jungen Generation als ein Torquemada der Literatur gelten sollte, um dieses innerlich längst geknickte Werkzeug der hohen Reaktion kümmerte sich keine Seele mehr. Bevor er noch auf Befehl der Märzregierung seine traurige Bude schloß, konnte man an allen Straßenecken der Hauptstadt große Plakate lesen, unter denen nicht selten auch mein Name sich fand, und durch welche ohne vorausgegangene hochobrigkeitliche Erlaubnis die Leser auf diesen oder jenen Mißstand aufmerksam gemacht, vor dieser oder jener sich vorbereitenden reaktionären Maßregel gewarnt, oder zu dieser oder jener Versammlung eingeladen wurden.

Die politischen Parteien gruppierten sich schnell in Vereine, auffallend genug für ein Land, in welchem das freie Vereinsrecht bis dahin nicht existiert hatte. Neben den alten zwei Zeitungen, der Vossischen und der Spenerschen, entstanden eine Reihe anderer Tagesblätter, von welchen einige nach kurzem Dasein verblichen, andere, wie die »Nationalzeitung« und die »Kreuzzeitung«, sich bis heute erhalten haben. Die »Kreuzzeitung« war sehr bald nach der Märzrevolution erschienen, so rasch hatte die Hofpartei, die Partei der Junker und der Hochkirchlichen, sich kampfbereit gesammelt und ihre Fahne aufgepflanzt. Aber auch eine Arbeiterpartei stand bald auf dem Plan und ihr Organ »das Volk«, erschien dreimal wöchentlich in Berlin. Ich allein schrieb das ganze Blatt, von der ersten bis zu letzten Zeile, ich hatte und ich suchte auch keine Mitarbeiter.

Die Elemente zu einer Arbeiterpartei waren zumeist in den Genossenschaften vorhanden, die in einem und demselben[64] ewerbe einer Kranken- Invaliden- und Witwenkasse oder einer Unterstützungskasse für die reisenden »Kollegen« angehörten. Nach der Märzrevolution aber fühlte der einzelne sich sofort als das Glied eines großen und wichtigen Lebenselementes im Staate, und die verwandten Gruppen suchten und fanden bald einen Zusammenschluß. Jung, voller Tatkraft und voll Glaubens an die Macht der werbenden Ideen, war ich überall anzutreffen, wo es galt, eine Bewegung, die nur auf den ersten Anstoß wartete, in Fluß zu bringen.

Wenn ich eben vom Glauben an die werdenden Ideen sprach, so muß ich von vornherein hier feststellen, daß ich nun, wo ich in den Strom des öffentlichen, politischen Lebens – ich sage nicht, mich stürzte, sondern geriet, von allen Spekulationen in die Ferne plötzlich mich befreit fühlte, die Dinge anschaute, wie sie sich dem Auge darboten, mit den gegebenen Verhältnissen rechnete und vor allen Dingen das nächste Ziel im Auge behielt, das sich nur erreichen ließ, wenn man an manches Vorurteil nicht rührte, dies sogar mit in den Kauf nahm, wollte man irgend etwas leisten. Dieses Ziel – und darin war ich ganz Marxianer und ein zuverlässiger Schüler des Meisters – ging darauf hin, die auf den Sieg des liberalen Bürgertums gerichteten Anstrengungen, d.h. dessen Bestrebungen, um seine in Deutschland erst zu schaffende Herrschaft im Staate nach Kräften zu unterstützen und dabei zunächst auf eine zu erlangende Organisation des arbeitenden Volkes als Vorbedingung der aus ihr sich zu gestaltenden Arbeiterpartei hinzuwirken. Dieses von der Natur der Dinge gegebene Programm drängte sich meiner Einsicht in die Verhältnisse ganz von selber auf. Weggewischt waren für mich mit einem Male alle kommunistischen Gedanken, sie standen mit dem, was die Gegenwart forderte, in gar keinem Zusammenhang. Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte ich mich als Kommunisten gegeben. Der war ich auch nicht mehr. Was kümmerten mich entfernte Jahrhunderte, wo jede Stunde mir dringende Aufgaben und Arbeit in Fülle darbot!

Unter den Arbeitern der Stadt Berlin bildeten die Maschinenbauer und die Buchdrucker gewissermaßen die tonangebenden, um nicht zu sagen aristokratischen Elemente. Buchdrucker war ich ja selber von Hause aus, wenn ich gleich seit meinem zweiten Aufenthalt in Paris dem Winkelhaken entsagt und dafür berufsmäßig die Feder geführt hatte. Schon zu Anfang des Jahres 1848[65] hatte ich eine Korrespondenz für ein süddeutsches Blatt übernommen; in Berlin wurde der Journalismus meine regelmäßige Beschäftigung. Außer meinem eigenen, oben genannten Blatte, schrieb ich Korrespondenzen aus der Hauptstadt für die von Marx in Köln gegründete »Neue Rheinische Zeitung«. Den Berliner Buchdruckern galt ich bei alledem als einer der Ihrigen. Sie waren es, die zuerst von allen anderen Arbeitern, auf eine Besserung ihrer Lage bedacht, eine Lohnerhöhung forderten. Ich wohnte ihrer ersten Versammlung bei, sie wählten mich zum Vorsitzenden und zum Präsidenten des leitenden Ausschusses. Ihre Forderungen waren durchaus gerecht, und charakteristisch für jene Zeit ist es, daß es einer politischen Revolution bedurfte, ehe man überhaupt daran denken konnte, diese gerechten Forderungen zu erheben. Ohne sie wäre die Polizeigewalt sofort eingeschritten, die Aufstellung eines durch die Drohung eines Ausstandes unterstützten Tarifs wäre als staatsgefährlich nicht gestattet worden. Den Wortführern der Arbeiter hätte man einfach als Volksverführern den Prozeß gemacht, im mildesten Falle wären sie ausgewiesen worden.

Der durchschnittliche wöchentliche Verdienst eines Setzers oder Druckers betrug zu jener Zeit 31/2 Taler oder 13 Fr. 15 Cent. In Paris betrug er schon seit dem Jahre 1843 mehr als das doppelte: 28 bis 35 Fr. Dabei war die Arbeitszeit in Berlin auf 13 bis 14 Stunden, in Paris auf 10 Stunden täglich festgesetzt. Dies einzige Faktum genügt heute jedem, der diese Zeilen liest, um die auf eine kleine Erhöhung des Tarifs und eine geringe Verminderung der Arbeitszeit gerichteten Forderungen der damaligen Buchdrucker als gerechtfertigt anzuerkennen. Ähnlich wie um die Buchdrucker stand es damals um sämtliche Arbeiter. In Frankreich, von England gar nicht zu reden, standen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer als freie Kontrahenten gegenüber. In Deutschland, das in seiner gewerblichen Entwicklung noch weit zurück war und wo die Großindustrie kaum erst die zartesten Sprossen aufwies, herrschte vor fünfzig Jahren noch eine Art patriarchalischen Verhältnisses. Der Arbeitgeber betrachtete sich in der Regel dem Arbeitnehmer gegenüber als ein Wohltäter, dem dieser sein Brot verdanke und der ein himmelschreiendes Unrecht begehe, wenn er sich so weit vergesse, mit Forderungen hervorzutreten, gewissermaßen die Annahmebedingungen für das ihm erwiesene Gute zu stellen. Wie in der Politik noch die[66] letzten Strahlen des unter Friedrich dem Großen und Joseph II. blühenden Systems des wohlwollenden Despotismus die besseren unter den deutschen Fürsten verklärten, so herrschte dasselbe System des patronalen Despotismus in der Führung der Gewerbe. Der Arbeiter selber betrachtete sein Verhältnis zum Prinzipal gewissermaßen als ein Untertanen-Verhältnis.

Der Sturm des Jahres 1848 hatte diese Art Glaubensartikel, denn als solcher hatte diese Anschauung in den Köpfen beider Parteien Wurzel gefaßt, um einem Schlage vernichtet. Als die Buchdruckereibesitzer sich anfangs auf keine Unterhandlungen einlassen wollten, weil sie diese so zu sagen als eine Entwürdigung ihrer bisher innegehabten Stellung ansahen, und es infolge dessen zum Ausstande kam, hatte ich den klugen Einfall, als Präsident der Buchdrucker dem Herrn Handelsminister Pieper – bis dahin war er ein angesehener Breslauer Kaufmann – persönlich in seinem Palais in der Wilhelmstraße meine Aufwartung zu machen, ihm die bevorstehende Niederlegung der Arbeit in allen Berliner Buchdruckereien anzukündigen und ihn zu versichern, daß wir seinem guten Rat gern Gehör schenken würden. Herr Pieper, ein Manchestermann vom reinsten Wasser, der über die allen, an dem vermeintlich patriarchalischen Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haftenden Vorstellungen längst hinaus war, empfing mich mit größter Liebenswürdigkeit, bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, setzte sich in die andere Ecke desselben und gab, nachdem er mich angehört sogleich Befehl, Herrn von Decker, den Geheimen Ober-Hof buchdrucker – er hatte auch sein Palais dicht nebenan in der Wilhelmstraße – zu bitten, er möchte die Güte haben, einen Augenblick zu dem Herrn Minister für Handel und Gewerbe zu kommen. Herr von Decker – die Familie stammt aus Basel – erschien nach wenigen Minuten. Er verbeugte sich vor Sr. Exzellenz viel, viel tiefer und förmlicher, als ich in solchen Dingen noch wenig bewanderter Jüngling es getan. Der Herr Minister nannte meinen Namen und die Ursache meines Besuches. Ich habe nie einen Menschen so erstarrt, so wie aus allen Wolken gefallen gesehen. Herr von Decker stammelte ein paar unverständliche Worte. Er hatte vielleicht von dem Minister einen großartigen Auftrag für die Geheime Ober-Hofbuchdruckerei erwartet, jedenfalls war er darauf nicht gefaßt, ein Frage- und Antwortspiel gemeinsam mit einem so jungen Mann, einem solchen Nichts wie ich, bestehen[67] zu müssen. Es kochte in ihm und seine Augen nahmen einen finstern Ausdruck an. Die Unterredung hatte indessen kein ungünstiges Ergebnis. Herr von Decker, was seine Person betrifft, sagte nicht nein zu den Forderungen der Gehilfen. Innerlich wütend war er aber doch, als er sich höflichst empfahl. Ein solches Rencontre! War's möglich! Waren dies die Folgen des 18. März? Der gute Mann – ich möchte ihm durchaus nicht Übles nachreden – war gewiß ein höchst achtungswerter und liebenswürdiger Charakter. Er hatte – und das beweist auf das Schlagendste, daß er kein echter Basler mehr war – mit einer berühmten Opernsängerin sich vermählt. Das hätte sein republikanischer Ahnherr niemals getan.

Es kann nicht meine Absicht sein, eine Geschichte der Lohnkämpfe der Berliner Buchdrucker zu geben. Eine solche existiert übrigens schon, wenn ich nicht sehr irre. Einige Zeilen mögen genügen, um den von mir berührten Gegenstand zum Abschluß zu bringen.

Am 28. April wurde die Arbeit allgemein eingestellt, und dies dem Publikum durch Maueranschlag angekündigt. Schon am nächsten Tage erhielt ich infolge der Vermittlungsbemühungen des Stadtmagistrats die Zusicherung, daß die Angelegenheit endgültig bis zum 1. Juni geregelt sein sollte. Die Buchdruckereibesitzer gaben das Versprechen, keinen Gehilfen wegen seiner Teilnahme an der Arbeitseinstellung zu entlassen, und so kehrten diese am 1. Mai zur Arbeit zurück. Kaum hatten sie jedoch ihre Offizinen wieder betreten, als ihnen in mehreren derselben ein Schein zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, durch welchen sie erklären sollten, daß sie ihren in der Übereilung getanen Schritt bedauerten und gern zurücknehmen möchten, daß sie auch, indem sie zu ihrer Pflicht und an ihre Arbeit zurückkehrten, auf ihr Ehrenwort versprechen, sich eines ähnlichen Auftretens in Zukunft zu enthalten. Einige der einsichtsvolleren Buchdruckereibesitzer, wie die Herren Decker und Reimer, hatten es ihrer unwürdig erklärt, eine solche Zumutung an ihre Gehilfen zu stellen. Bei ihnen und in den Zeitungsdruckereien wurde weitergearbeitet. Bei denen, welche ihre Gehilfen nur als reuige Sünder wieder aufnehmen wollten, sollte die Arbeit sofort wieder eingestellt werden. Von dem zu unterzeichnenden Zerknirschungsversprechen hatte der Vorstand der Gehilfen schon am Samstag den 30. April Kenntnis erhalten. Ohne Verzug mußten die Gehilfen,[68] welche am Montag Morgen sich wieder auf ihren Plätzen einstellen sollten, eine Warnung erhalten, und auch das Publikum mußte von dem Vorgefallenen unterrichtet werden. Das Schriftstück war rasch abgefaßt, doch wo und wie sollte es eben so rasch gedruckt werden? Es blieb mir nichts übrig, als mit einigen Gehilfen noch an demselben Abend nach Charlottenburg zu gehen, und eine dort befindliche kleine Druckerei, in welcher ein zweiter Bruder Bruno Bauers sein Wochenblättchen herstellen ließ, zu unserem Zweck zu benutzen. Die eigentliche Besitzerin dieser auf das kärglichste ausgestatteten typographischen Anstalt, eine Lehrerswitwe, sträubte sich lange genug, uns ihr kostbares Gut zu so fragwürdiger Benutzung zu öffnen, schließlich gab sie freundlichem Zureden nach. In der Nacht wurde dann ein Anschlagzettel zustande gebracht, der in der Geschichte der Buchdruckerkunst als ein Unikum seine Stelle finden darf. Nicht nur einzelne Zeilen, sondern einzelne Worte mußten aus verschiedenen Schriftgattungen zusammengesetzt werden, weil das vorhandene Material zu einem einheitlichen Satz nicht reichte. Das Ding nahm sich sehr komisch aus, doch es wirkte. Um 5 Uhr morgens hatten sich auf geschehene Anordnung zehn Gehilfen am Brandenburger Tor eingefunden, welche die Zettel in Empfang nahmen und an den ihnen angewiesenen Stellen anklebten. Die Folge davon war, daß wiederum die Arbeit eingestellt wurde. Der vom Geiste des 18. März erleuchtete Magistrat sandte jedoch schon tags darauf einen Stadtrat in die angekündigte Buchdrucker-Versammlung unter den Zelten. Er bat die Gehilfen, an die Arbeit zurückzukehren, indem er ihnen ankündigte, daß die Prinzipale den verhängnisvollen Schein zurückgezogen hätten. Der Ausstand war damit wieder beendigt. Bis zum 1. Juni kam es dann auch zu einer vorläufigen Verständigung über den Gegenstand des Streites. Eine mäßige Erhöhung des Tarifs war die Frucht dieser Bewegung, die sich bald darauf über ganz Deutschland verbreitete und nach einem Jahre unter dem Druck der eingetretenen politischen Reaktion zum Stillstand gebracht wurde, um später doch durch die Gründung eines allgemeinen Gewerk-Vereins in der ursprünglich von mir in Aussicht genommenen Organisation einen festen Boden zu erlangen. Der aus jenen ersten Anfängen hervorgegangene deutsche Buchdrucker-Verein hat, soviel mir bekannt geworden, bisher als solcher seine volle Unabhängigkeit nach allen Seiten hin gewahrt, ohne in das[69] Recht der freien Bestimmung seiner einzelnen Mitglieder einzugreifen.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 61-70.
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