XX.

Der Maiaufstand in Dresden.

2.

[112] Am Morgen des 5. Mai waren die Barrikaden größtenteils besetzt. Ich ging nach der Schloßgasse, weil ich annehmen durfte, daß hier der Hauptangriff von Seiten des Militärs geschehen werde. Die dem Schloß zunächst gelegene Barrikade war noch sehr schwach und konnte kaum einige Kanonenschüsse aushaken. Die Besatzung nahm meine Ratschläge bereitwillig an und befestigte sie derart, daß sie bald eine der stärksten in der Stadt wurde. Ein Gardist hatte hier das Kommando, er übergab es mit Zustimmung der Mannschaft an mich und ließ sich nicht wieder[112] sehen. Ich gab sogleich Befehl, die Wände der Häuser, die von meiner Barrikade aus sowohl vorwärts nach dem Schlosse zu als rückwärts nach dem Rathause zu liefen, zu durchbrechen, weil ich vorauszusetzen Grund hatte, daß das Militär Cavaignacs Methode vom Juni 1848 befolgen werde. Es war also unsere Aufgabe, dem Militär in der Besetzung der Häuser und dem Vorwärtsdringen durch die durchbrochenen Wände zuvorzukommen. Dieser Maßregel ist es zuzuschreiben, daß die Schloßgasse, der Dardanellenpaß zwischen den Zentren der kämpfenden Parteien, wie sie ein Zeitungskorrespondent richtig benannt, unbezwinglich war und daß wir hier bis zum Moment des Rückzugs unsere Positionen behaupten. Der Oberkommandant, dem ich von meiner Maßregel Kenntnis gab und der sie ganz und gar billigte, tat aber nichts, daß dasselbe auch in allen übrigen Straßen geschah, und dieser Fahrlässigkeit ist es zuzuschreiben, daß das Militär plötzlich in Häusern erschien, in denen man es gar nicht vermutete und Straßen, die sich am wirksamsten verteidigt hatten, abzuschneiden drohte.

Nachdem ich meine Mannschaft postiert hatte, trat ein Abgeordneter der sächsischen Kammer zu mir mit der Bemerkung heran, ob wir etwa gesonnen seien, den berühmten passiven Widerstand hier zu wiederholen. Ich schickte ihn sogleich mit der Frage auf das Rathaus, ob auf die mit Soldaten besetzten Fenster des Schlosses Feuer gegeben werden solle? Er brachte mir die schriftliche Antwort, daß man dies meinem Ermessen überlasse, behielt aber diesen Zettel als ein ihm teures historisches Dokument, das er später noch auf der Flucht aus Sachsen besaß, bei sich. Ich ließ sogleich ein Pelotonfeuer auf die Schloßfenster geben und hiermit war der eigentliche Kampf eröffnet. Die Erwiderung vom Schlosse aus ließ keine Minute auf sich warten. Auf allen Straßen der Stadt brach jetzt zugleich das Gewehrfeuer los. Das Militär ließ sich nirgends auf offener Straße blicken, es entwickelte sich ein Kampf von Haus zu Haus. Beide Parteien waren gut gedeckt und diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß trotz des unausgesetzten Feuerns auf beiden Seiten die Zahl der Gefallenen eine mäßige blieb. Die Häuser, welche wir besetzt hatten und besonders die Barrikaden wurden bald mit Kartätschkugeln überschüttet, auch Vollkugeln wurden gegen Erker und Balkone abgefeuert, doch meist ohne große Wirkung, da unsere Mannschaft während des Artillerieangriffs, bei dem die Infanterie nicht vorrücken[113] konnte, sich rechts und links in die Hausflure in geschützte Stellung begab. Unsere Jungmannschaft verteidigte mit einer Hartnäckigkeit ihre Position, wie dies gewiß selten bei solchen Straßenkämpfen vorgekommen; außerordentliche Anstrengung aber, Übermüdung, nicht Mutlosigkeit, lichtete unsere Reihen von Tag zu Tage. Die Zuzüge, die fortwährend eintrafen, reichten kaum hin, um die Lücken wieder auszufüllen, die durch die Erschöpfung unserer Kämpfer entstanden. Unsere Zahl, die höchstens 3000 Mann betrug, verringerte sich also fortwährend, während die des Militärs, das beim Ausbruch des Kampfes durch preußische Garden unter Oberst v. Waldersee Unterstützung erhielt, fortwährend anwuchs. Unsere Bewaffnung stand hinter derjenigen der Soldaten weit zurück, die zwei Vierpfünder, welche die Freiberger Bergleute mitgebracht hatten, dienten mehr zum Lärmmachen als zu einem namhaften Erfolge gegenüber der sächsischen Artillerie.

Am 6. Mai gelang es dem Militär, den Neumarkt, die Moritzstraße und die innere Pirnaische Straße durch unausgesetzte Angriffe zu gewinnen. Auch von der entgegengesetzten Seite der Stadt, der Ostra-Allee und dem Postplatz kam uns das Militär unaufhaltsam näher und es sind die Verluste, welche wir an diesen Stellen erlitten, teilweise auf Rechnung des Oberkommandanten Heinze zu setzen. Er hatte sehr wichtige Eckhäuser entweder gar nicht oder viel zu schwach besetzen lassen, wie er denn keinen Plan verfolgte, sondern alles den Eingebungen der verschiedenen Barrikaden- öder Viertelskommandanten überließ. Plötzlich drang das Gerücht zu uns, Heinze sei gefangen worden. Er war in seiner bayrischen Uniform am Morgen des 7. Mai ausgegangen, um, wie er sagte, die Stellung des Feindes zu rekognoszieren; er hatte zwei Wehrmänner mit sich genommen, denen er befahl, fünzig Schritte hinter ihm zu bleiben, und war mit einem Male verschwunden. Man behauptet, vielleicht nicht ohne Grund, er habe sich fangen lassen. Wir wußten in der Schloßgasse, die bisher allen Angriffen widerstanden hatte, von den Verlusten in anderen Teilen der Stadt zwei Tage lang nichts. Einer jetzt von der unserer Schloßgasse parallel laufenden Schössergasse drohenden Gefahr konnte noch begegnet werden, indem wir selbst nach der Schustergasse zu durchbrachen und so den vordringenden Soldaten in den Rücken kamen, die sich nun, um nicht abgeschnitten zu werden, wieder zurückzogen.[114]

Am 8. Mai früh am Morgen wurde sämtliche Viertelkommandanten auf das Rathaus berufen und dort wurde uns die Frage vorgelegt, ob wir glaubten, die Stadt noch länger halten zu können oder ob wir den Kampf aufgeben und den Rückzug anordnen wollten. Ich sah das Gefahrvolle unserer Lage ein, der Sieg wäre nur durch eine kaum noch zu erwartende Vermehrung unserer Streitkräfte zu erringen gewesen, dagegen behauptete ich, daß wir uns mindestens noch 24 Stunden halten könnten und es nicht gestattet sei, eine Position aufzugeben, bevor sie völlig unhaltbar geworden, daß wir das Militär noch eine Zeit lang an verschiedenen Punkten mit Erfolg beschäftigen und so die Entscheidung hinausschieben könnten. Die Möglichkeit des Eintreffens eines stärkeren Zuzugs, so wenig wahrscheinlich eine solche Hilfe jetzt auch sei, nötige uns, bis zum äußersten Moment auszuharren. Ein Hauptangriff war von der Wilsdruffer Seite, dem Postplatze aus, zu gewärtigen. In der Post selbst war ein Corps Techniker, das dieselbe als neutralen Boden bewachen wollte. Herr Heinze hatte diese Bedingung zugelassen, doch gerade die Post hätte von uns sehr stark besetzt sein müssen, weil sie der Schlüsselpunkt der Wilsdruffer Barrikade war. Nun geschah es aber, daß die neutralen Techniker, so wie ihre Stellung gefährlich wurde, diese verließen und daß das Militär den von ihnen aufgegebenen Posten einnahm. Nächst der Post waren es die Soldaten in der Spiegelfabrik, die die Wilsdruffer Barrikade und diejenige am Eingang der Scheffelgasse heftig beschossen, so daß die Kugeln bis auf den alten Markt flogen. Ich schlug deshalb vor, die Spiegelfabrik in der nächsten Nacht in die Luft zu sprengen, dabei einen Ausfall auf die Post und die Geschütze in der Ostraallee zu machen, zugleich die Soldaten, welche rechts und links von der Schloßgasse wieder eingedrungen waren, durch Durchbrechen der Mauern in der kleinen Brüdergasse, ebenso wie es von der Sporgasse aus geschehen war, von ihrem Zentrum, dem Schloß, abzuschneiden. Man übertrug mir das Oberkommando. Während des Tages machten wir auf allen Seiten Fortschritte, so daß ich sogar einen Ausfall nach dem Freiberger Schlage machen konnte und dort die Kavallerie, welche unsere Rückzugslinie besetzt hielt, vertrieb. Die Entscheidung hatte ich von der Sprengung der Spiegelfabrik erwartet und ein Zufall mußte diesen Plan vernichten. Die Bergleute, welche die Grube anlegten, konnten ihre Arbeit schon wegen der Gefahr des Verrats, nicht am hellen Tage ausführen; sie[115] ließen des halb ihre Werkzeuge in dem Loche liegen, um in der Dunkelheit ihre Arbeit zu vollenden. Um zehn Uhr abends kamen sie mit der Meldung zu mir, daß ihnen ihr Handwerkszeug fortgenommen sei und daß sie deshalb heute nicht mehr weiter arbeiten könnten. Es waren in der Tat zu so später Stunde keine Werkzeuge mehr aufzutreiben und die Sprengung konnte deshalb in dieser Nacht nicht ausgeführt werden.

Ich darf nicht vergessen, an dieser Stelle eine Persönlichkeit zu erwähnen, die ich im Rathause antraf, als mir auf den Antrag der zu einer notwendigen Besprechung einberufenen Viertelskommandanten nach dem Verschwinden des Oberstleutnants Heinze das Oberkommando übertragen wurde: es war Michael Bakunin, der überall dabei sein mußte, und hier, wie wahrscheinlich an allen anderen Orten, wo nicht das Wort, sondern die Tat entschied, sehr überflüssig war. In einigen Lebensskizzen, die ihm gewidmet sind, wird Bakunins vermeintlicher Mitwirkung am Aufstande zu Dresden Erwähnung getan. Er war in früher Jugend Leutnant in der russischen Artillerie gewesen. Wahrscheinlich deshalb schrieb man ihm eine wichtige Rolle in Dresden zu. Ich habe nur so viel bemerkt, daß er den Mitgliedern der provisorischen Regierung, die im Rathause amtierten, sehr unbequem war, indem er in alles dreinredete und alles von ganz falschen Gesichtspunkten aus betrachtete. Man denke nur einen Augenblick an den ungeheuren Unterschied der Geistesbildung und Weltanschauung deutscher Juristen wie Heubner und Todt und dieses, wenn auch kosmopolitisch angehauchten, immerhin nur stockrussischen ambulanten Revolutionärs. Die genannten Mitglieder der provisorischen Regierung waren liberale deutsche Bürger, die ihr gefährliches Amt gewiß nicht ohne inneren Kampf angenommen hatten und sich ihrer Verantwortlichkeit voll bewußt waren; aber Bakunin! Er träumte von der Errichtung einer großen panslavistischen Republik, die von der sächsischen Grenze, denn Böhmen gehörte ja dazu, bis über den Ural hinaus sich ausdehnte, ihre Macht über den ganzen Osten Asiens erstreckte, überall das russische Gemeineigentum der Bauern an Grund und Boden einführte und damit die Welt erlöste, wenn sie auch gar nicht darauf versessen war, ihre Zivilisation auf den Kulturgrad des russischen Landvolks zurückzuschrauben. Dieser Russe, der absolut kein Auge, keinen Sinn für die wirklichen Verhältnisse hatte, unter denen er in Deutschland lebte, hat natürlich[116] in Dresden auch nicht den geringsten Einfluß auf den Gang der Dinge gehabt. Er aß und trank und schlief im Rathaus, und das war alles. Er hatte auch wirklich Glück in Dingen der Selbsterhaltung. Als die Nacht angebrochen war, meldete man mir, daß ein Zuckerbäcker dem Oberkommando einen Kuchen und zwei Flaschen Rotwein gesandt habe. »Ein cherrlicher Mensch!« rief er aus. »Dem wird der Chimmel seine Sorge für die Chungrigen lohnen.« Er aß und trank, legte sich dann auf eine bereit gehaltene Matratze hin und schnarchte, während ich mit Heubner über die Sorge des kommenden Tages mich besprach und wir beide in der Erwartung der nahenden Dinge kein Auge schlossen.

Vor Morgenanbruch wurde die Wilsdruffer Barrikade von den preußischen Soldaten angegriffen. Was ich nur an Mannschaft aufbringen konnte, schickte ich zur Verstärkung an jenen Punkt. Wir mußten der Überzahl weichen, die Barrikade und das derselben zunächst liegende Eckhaus, die Engel'sche Wirtschaft, war nicht mehr zu halten. Ein Mädchen, das an dieser Stelle trotz zweier Verletzungen bis zum äußersten Moment neben ihren Kameraden ausgehalten, kam mit der Meldung, daß die Position verloren sei. Sie hatte Lust, wieder in den Kampf zurückzukehren. Ich überredete sie, jetzt auf dem Rathause zu bleiben, ich sah sie in Freiberg zum letztenmale.

Wir hätten uns trotz dieses Verlustes wohl noch einen Tag halten können, die Stadt aber wäre während dieser Zeit vom Militär so zerniert worden, daß ein geordneter Rückzug zur Unmöglichkeit geworden wäre. Ich hielt es für vernünftiger, einige Tausend der bravsten jungen Leute für eine bessere Zukunft zu erhalten, und gab deshalb den Befehl zur Rückkehr nach Freiberg. Ich ließ ihn derart ausführen, daß in jeder Straße mehrere Schützen an den Fenstern zurückblieben und den vorsichtig heranrückenden Gegner beschäftigten, so daß um 5 Uhr des Morgens vom 9. Mai gegen 2000 bewaffnete Barrikadenkämpfer auf der Straße nach Freiberg zu marschierten. Nachdem ich den Rückzugsbefehl erteilt hatte, ging ich hinab in das Erdgeschoß des Rathauses, wo in allen Räumen und im Flur die todmüden Kämpfer, die bei mangelhafter Ernährung nach mehrtägigem ununterbrochenen Dienst sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, und sich dorthin zurückgezogen hatten, in schwerem Schlafe dalagen. Ich ließ in dem geschlossenen Raume die Trommel schlagen, sie tönte, als gälte es Tote aus dem Grabe zu erwecken – umsonst![117] Einige Rathausbeamte halfen mit, den einen und andern emporzuzerren. Wir schüttelten sie, ich schrie ihnen ins Ohr, sie dürften jetzt nicht schlafen, sie müßten zum Aufbruch bereit sein. Als ich die Hand von ihnen entfernte, fielen sie wie die Klötze wieder um und schliefen weiter. Sie waren nicht zu retten, sie gerieten fast alle in Gefangenschaft.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 112-118.
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