XXII.

Die Flucht nach Böhmen.

[123] Wir gingen am nächsten Morgen in aller Frühe nach dem böhmischen Fabrikstädtchen Weipert. Herr Kindermann führte mich zu zwei alten Junggesellen, den Brüdern Müller, die sich für politische Dinge ungemein interessierten, sehr liberal dachten und mir ohne weiteres ihre Gastfreundschaft bis zu dem Tage anboten, wo es mir möglich und auch geraten sein würde, weiter zu ziehen. Ich nahm mit Freuden an. Zunächst schrieb ich an meinen allezeit hilfsbereiten Oheim, um ihm meine letzten Schicksale zu erzählen und ihn um die nötigen Subsidien zur Weiterreise zu bitten. Nach einigen Tagen war das Gewünschte eingetroffen und[123] ich konnte nun daran denken, mein sicheres Asyl zu verlassen. Sämtliche Fabrikanten des Städtchens Weipert waren deutsch und liberal gesinnt, in ihrer Lesegesellschaft sah ich sogar in Deutschland verbotene Lektüre offen aufgelegt. Ich durfte trotz alledem nicht vergessen, daß ich mich in Österreich befand, und um von dort weiterzukommen, bedurfte ich eines Passes. Zu einem solchen verhalf mir wieder der brave Herr Kindermann. Er war mit dem Bürgermeister des nahen sächsischen Ortes Jöhstadt befreundet und er hoffte ihn zur Ausstellung eines Passes für mich bewegen zu können. Diese Hoffnung war nicht unbegründet. Denn die städtischen Beamten des damaligen Königreichs Sachsen hatten sich fast ausnahmslos an der damaligen Bewegung zu Gunsten der Reichsverfassung beteiligt. Unter den steckbrieflich Verfolgten befanden sich nicht weniger als 20 Bürgermeister und Stadtverordnete, die Zahl der Verhafteten derselben Kategorie war fast gleich hoch. Der Herr Bürgermeister von Jöhstadt – jetzt, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts begehe ich damit keine Indiskretion, die von mir näher bezeichneten Personen waren ja alle beträchtlich älter als ich – der Herr Bürgermeister also gestattete seinem Schreiber, einem Verwandten von ihm, mir mit genauer Schilderung meiner Physiognomie einen Paß auf den Namen Karl Fernau auszustellen, verlangte aber auch, auf seine Pflicht gegenüber Weib und Kind hinweisend, daß jener den Paß unterzeichne, was der auch leichten Herzens ausführte. So brachte ich einen Paß nach Weipert zurück, auf Grund dessen mir die Herren Müller einen Postschein nach Karlsbad besorgten, auf welchem ich nach österreichischer Sitte sogleich in den Adelstand erhoben wurde, denn er war für Herrn von Fernau gültig. In Karlsbad hatte ich keinerlei Schwierigkeit, mir auf der Post für die weitere Strecke nach Marienbad die Fahrt zu sichern. Von dort aus gedachte ich am nächsten Morgen über Eger nach Nürnberg zu gelangen. Doch es sollte anders kommen.

Während des Abendessens im Gasthof wurde von den Fremden von nichts anderem als von den Nachrichten über den Dresdner Aufstand gesprochen, und einer der Gäste las aus seiner Zeitung die Meldung aus Eger, daß dort mehrere sächsische Flüchtlinge verhaftet worden seien. Ich tat, als hätte ich nichts gehört, unterhielt mich mit meiner korpulenten Nachbarin über das herrliche Frühlingswetter und das satte Grün, das rings um Marienbad das Auge erfreue. Sie stimmte ein, sie war ganz glücklich über die[124] Erfolge der Kur, die sie erst seit wenigen Tagen begonnen, und nun habe sie schon sechs Pfund abgenommen. Ich wünschte ihr Glück und ermunterte sie fortzufahren mit der so ersprießlich angewendeten Kur. In einem Zimmer im Erdgeschoß, dem Kutscherzimmer, hatte ich eine alte verräucherte Karte des Königreichs Böhmen an der Wand gesehen. Mit Hilfe derselben suchte ich mich zu orientieren, ob ich nicht Eger umgehen und auf anderem Wege nach Bayern gelangen könnte. Es gab einen Weg, der von Marienbad nach Tirschenreut und von dort nach Amberg und Nürnberg führte. Ein Kutscher, an den ich die Frage richtete, ob er mich am andern Morgen nach Tirschenreut fahren wollte, sagte sofort zu. Er forderte anderthalb Taler, jedoch in Silber, denn er bleibe nicht in Österreich, wo es nur Papiergeld gebe, das oft schon in der nächsten Stadt nicht mehr angenommen werde. Auch damit war ich einverstanden. Der Mangel an hartem Gelde, selbst an Scheidemünze, war damals in Österreich so groß, daß jede Stadt für den Kleinverkehr, der große stockte ja ganz, Papiergeld anfertigen ließ, und so war ich in den Besitz eines auf geringes blaues Papier gedruckten, zwei Zoll großen Kassenscheines gelangt, auf dem die Worte standen: »Für diesen Schein zahlt die Stadt Eger einen Kreuzer.« In Marienbad war dieser Schein nichts wert. Ich behielt ihn gern als ein historisches Dokument, das mir aber in Straßburg, wo ich einige Wochen später bei einem Bankier eine ganze Mulde voll österreichischer Silberzwanziger sah, abgebettelt wurde, als ich das Kuriosum in einer Gesellschaft zeigte.

Morgens um fünf Uhr fuhren wir von Marienbad ab. Es war ein furchtbarer Knüppelweg, der durch den Böhmerwald führte. Als wir vor einem Wirtshause unweit der Grenze anhielten, um dem geplagten Pferd etwas Zeit zum Verschnaufen zu lassen, lag vor dem Eingang zum Hause die Leiche des Wirts, der in der vergangenen Nacht von Räubern überfallen und ermordet worden war. Der vernachlässigte Wald, die entsetzliche Straße, die zerlumpten und hungernden Bewohner, die zu den wenigen schlechten Hütten paßten, an denen wir vorüberfuhren, gaben kein glänzendes Zeugnis von der Fürsorge, welche Fürst Metternich während seiner Herrschaft über die Untertanen Seiner kaiserlich-königlichen Majestät entfaltet hatte. Auf der bayrischen Seite sah es dann etwas besser aus, wenn auch nicht gerade glänzend.[125]

Es mochte etwa zehn Uhr sein, als wir in Tirschenreut anlangten. Der Gasthof, wie dies allgemein üblich ist, hatte seine Dienstenstube, aufweiche die Herrenstube folgte. Man geleitete mich in die letztere; ich fragte nach dem Abgang der Post. Ich brauche mich nicht zu beeilen, lautete die Antwort, vor der Mittagsstunde sei die Post jedenfalls nicht zu erwarten. Ich bestellte mir ein Frühstück und regelte indessen meine Schuld an den Kutscher. In diesem Augenblick ertappte ich mich bei einem großen Leichtsinn, der mich in bittere Verlegenheit bringen sollte. Seitdem ich Dresden verlassen, hatte ich keine Gelegenheit gehabt, meine Börse zu ziehen. Mein Oheim hatte mir nach Weipert preußische Kassenscheine geschickt. Diese benützte ich zum Zahlen der Postkarten, zum Einkauf von Wäsche in Karlsbad, zur Berichtigung von allerlei Ausgaben. Als ich nun aus meiner Börse einen harten Taler und zwei kleinere Geldstücke für meinen Kutscher nahm, bemerkte ich zu meinem schlecht verhehlten Schrecken, daß dieses Geld aschgrau aussah, daß es Blei ähnlich war. Der redliche Kutscher nahm mein Geld dankend an und sagte nichts. Da in Dresden schließlich Munitionsmangel eintrat – die Patronen wurden im Rathause von gefangenen Soldaten für uns angefertigt, am Ende mit Kanonenpulver, weil wir zuletzt kein anderes hatten – so behielt ich immer einige Patronen in der Tasche, um alle mir von einzelnen Aufständischen ausgesprochenen Reklamationen und Befürchtungen damit zum Schweigen bringen zu können.

Nach einer Stunde, als der Kutscher weiter fahren und mit dem Zehnsilbergroschenstück seine Rechnung bei dem Wirt zahlen wollte, mochte dieser wohl ein bedenkliches Gesicht gemacht haben; denn ich hörte durch die kaum angelehnte Tür meines Zimmers, wie der Kutscher zu ihm sagte, er habe noch zwei solch bleigraue Geldstücke. Und nun hörte ich den Wirt klimpern und klimpern. Er wolle beim Nachbar fragen, sagte er endlich, ob das Geld wohl echt sei. Nach einer kleinen Weile kam er mit dem Bescheid zurück, der Nachbar kenne sich in den Dingen nicht aus, er wisse es nicht.

In diesem Augenblick hielt ich meine persönliche Intervention für geboten. Ich trat zu den beiden Männern und sagte in möglichst gleichgültigem Ton zu dem sehr ernst gewordenen Wirt, er wisse ja aus den Zeitungen, daß in Dresden ein Volksaufstand ausgebrochen sei. Man habe vorige Woche überall die Kommunalgarde[126] nach der Hauptstadt einberufen und sie auch mit Patronen versehen. Da sei mir eine in der Tasche ausgelaufen, und von dem Pulver sei das Silber so grau gefärbt worden. Er solle das Geld nur mit Seife abwaschen und er werde es wieder blitzblank sehen. Es sei uns im Moment des Abmarsches Gegenbefehl zugekommen, ich habe sofort eine Geschäftsreise antreten müssen und nicht daran gedacht, selber das Geld abzuwaschen.

Der Wirt maß mich von Kopf bis zu Fuß mit seinen immer ernster werdenden Blicken. Er begab sich indes an das kupferne Waschgefäß in der Ecke der Wirtsstube; er reinigte das Geld, es erwies sich als echt, er machte sich bezahlt, wünschte dem Kutscher glückliche Reise, mir gegenüber jedoch blieb er stumm. Ich wollte ihn auf die Probe stellen und bestellte ein Mittagessen. Er nickte zustimmend. Darauf bat ich ihn, mich nach Nürnberg einzuschreiben. Der Wirt war zugleich Postmeister. »Haben Sie einen Paß?« fragte er mich. Ich zeigte ihm das verlangte Dokument. »Ihr Paß ist nicht visiert«, sagte er. »Sie haben Zeit«, fuhr er nach einer unheimlichen Pause fort, »Sie können ihn hier auf der Polizei visieren lassen, dort auf dem Schloß« – und er wies auf ein altertümliches Gebäude – »dann können Sie Ihren Postschein haben.«

Mit einem falschen Paß selber auf die Polizei gehen? Das Abenteuer schien mir seltsam, es hatte jedenfalls eine sehr unerfreuliche Seite. Ich sah jedoch ein, daß mir hier keine Wahl blieb, ich mußte es bestehen. Nach wenigen Minuten war ich im Schloß. Als ein höflicher Mann klopfte ich an die Tür der »Fremdenpolizei«. Eine helle Stimme rief herein, und ich stand vor zwei oder drei Knaben, die sich hier auf den fruchtbaren Beruf des Schreibers vorbereiteten. Der älteste der Herren Jungens hörte gnädigst meinen Wunsch auf Erteilung des Visums nach Nürnberg an, entfaltete meinen Paß in möglichst langsamen Tempo, betrachtete mich und mein Dokument, bewegte sich von seinem vergitterten Platz aus einem anderen Zimmer zu, öffnete die Tür und verschwand hinter derselben. Ich war nun allein den anderen jugendlichen Schreibern gegenüber. Sie musterten mich eine ganze Weile. Ich war ihnen nicht interessant. Der eine begann wieder an seinen Buchstaben zu malen, der andere bemühte sich, eine Fliege zu fangen, die ihm über das Papier schlich. Das erweckte plötzlich den Gedanken in mir, daß ich in seinem Treiben etwas Analoges mit dem mir drohenden Schicksal zu erblicken[127] hätte. Wer weiß, ob ich nicht ausersehen war, im nächsten Augenblick die Rolle der Fliege zu spielen. Warum blieb der Andere so lange mit meinem Paß aus? Es stellte sich etwas Herzklopfen bei mir ein. Wäre es nicht geratener, ihm den Paß zu lassen und das Weite zu suchen? Doch wohin in einem Ort, wo ich weder Weg noch Steg kannte? In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Nebenzimmers und ein alter Beamter, die Brille auf der Nase, erschien in derselben. Er betrachtete das Signalement des Passes und betrachtete mich. Die Operation schien mir über die Maßen lange zu dauern. Die Prüfung war endlich beendet. Er winkte dem Jungen zu. Es hatte also alles gestimmt. Der Alte verschwand wieder hinter der Tür. Der Junge schlich langsam an einen kleinen Tisch, drückte einen Stempel auf meinen Paß, überreichte ihn mir. »Drei Kreuzer.« »Hier.« Er nahm das Geld, ich den Paß. Ich war erlöst.

In Nürnberg ging ich nach dieser Erfahrung in ein Hotel ersten Ranges, wo ich den Portier zum Visieren des Passes auf die Polizei schicken konnte, und er brachte ihn visiert zurück. Jetzt dürfen wir ohne Paß reisen, auch eine Errungenschaft des Jahres 1848.

Was mir nun noch auf deutschem Boden begegnete, bis ich das Exil in der Schweiz erreichte, deren Bürger ich geworden bin, steht mit den öffentlichen Angelegenheiten in zu entfernter Beziehung, als daß ich das Recht hätte, es zu erzählen. Ich gehe deshalb zur Schilderung meiner ersten Flüchtlingsjahre über, die nicht ganz ohne politisches Interesse sind.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 123-128.
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