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Das Wort »Sitte« bezeichnet die Form, welche die Menschen in ihren verschiedenen Lebensbeziehungen zu einander beobachten. Wäre diese Form das Resultat des Sittengesetzes, welches in jede Menschenbrust gelegt ist, oder doch in der Brust jedes guten Menschen existiert, – denn nur
»Der gute Mensch in seinem dunkeln Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt,«
so würde auch diese Form für alle Menschen und alle Zeiten ziemlich die gleiche sein. Das ist aber nicht der Fall. Was wir Sitte nennen, ist oft so wenig das Ergebnis jenes tief innersten Sittengesetzes, daß es in vielen Fällen gar nicht mit den Forderungen der Sittlichkeit übereinstimmt, und daß die verschiedenen Sitten oft gegeneinander streiten.
Fräulein A., die bei einem Souper neben einem ihr bekannten Herrn sitzt, würde sehr empört sein, wenn dieser es sich einfallen ließe, den Arm um ihre Taille zu legen; wenn auf dem Ball aber ein ihr ganz fremder Herr, dessen Namen sie kaum weiß, den Arm um sie schlingt, sie ans[1] Herz drückt und in wildem Tanze umher wirbelt, so hat sie gar nichts dagegen einzuwenden. Es ist eben Sitte!
Wenn unser Dienstmädchen seinen »Schatz« heimlich empfängt und gegen uns behauptet, es sei ihr Bruder, so schelten wir sie wegen ihrer Lüge; tragen wir aber diesem selben Mädchen auf, falls Besuch käme, zu sagen, wir seien nicht zu Haus, so finden wir das ganz in der Ordnung. Die »Sitte« erlaubt uns das!
Die civilisierte Frau sieht mit Geringschätzung herab auf die Orientalin, welche die Liebe ihres Gatten mit so und so vielen Gefährtinnen teilen muß; diese aber wendet sich mit Abscheu von der civilisierten, der »fränkischen« Frau ab, weil diese ihr Antlitz der Welt unverhüllt zeigt. Ländlich, sittlich!
Demnach sind die meisten unserer Sitten nichts anderes, als durch die Zeit geheiligte Gebräuche. Diese Heiligkeit aber ist nicht unantastbar; vielmehr sollte man untersuchen, welches das Princip ist, aus dem ein Gebrauch hervorgegangen, und danach seine Berechtigung beurteilen. Unsere Gebräuche oder Lebensformen aber gehen hervor: entweder aus dem ethischen Princip, also dem der Moral; oder aus dem ästhetischen Princip, also dem Schönheitssinn, dem Geschmack; oder aber aus dem Nützlichkeitsprincip, der Zweckmäßigkeit einer Form, eines Gebrauches. Formen, die keinem dieser drei Principe entsprungen sind, können wir als unberechtigt betrachten und deshalb verwerfen.
Zuweilen auch haben sich jene Principien selbst: das sittliche Gefühl, der Geschmack, die Zweckmäßigkeitsansicht, die einen Gebrauch hervorgerufen, verändert; die Ursache ist erloschen, während die Wirkung blieb. Dann sind jene uns übermachten Formen veraltet, sind, wie die bunten Muscheln, in denen das Wesen starb, welches sie sich zur[2] Wohnung geschaffen, gehaltlos, leer. Leere Formen aber haben keine Berechtigung, – wir dürfen sie über Bord werfen.
Auf der anderen Seite verlangt die Entwickelung, der Fortschritt der Gesellschaft hin und wieder auch neue Formen. Man fühlt, es wäre passend oder zweckmäßig, dies zu thun, jenes einzurichten; aber es ist etwas Neues, Ungewohntes, vor dem man, vor dem besonders »Madame Toutlemonde« zurückschreckt. Da kann sich denn der einzelne oder ein kleiner Kreis ein Verdienst erwerben, indem er den neuen Gebrauch einführt, der, wenn er wirklich einem allgemeinen Bedürfnis entspricht, erst zur Mode, dann zur Sitte wird.
Haben wir uns nun darüber verständigt, was das Wort, »Sitte« bedeutet, so bleibt uns weiter zu sehen, was unter der »guten Gesellschaft« zu verstehen ist. Das Prädikat »gut« darf hier natürlich nicht im moralischen Sinn genommen werden, – denn man kann nicht behaupten, daß alle Angehörige der »guten Gesellschaft« edle Menschen wären; auch nicht im kaufmännischen Sinne, – wer möchte wohl für ihrer aller Zahlungsfähigkeit bürgen? Ebensowenig meinen wir damit die vornehme Gesellschaft, sondern vielmehr die Gesellschaft der gebildeten Menschen. Um aber die Grenzen nicht allzuweit zu ziehen, so daß sie über den Rahmen eines Buches hinausgehen würden, fügen wir hinzu, daß wir uns hier nur mit der gebildeten Gesellschaft in Deutschlandbeschäftigen und auch von dieser speciell denjenigen Teil im Auge haben, welcher den mittleren Klassen angehört.
Die in diesen Kreisen herrschenden Lebensformen sollen den Gegenstand unserer Betrachtung abgeben, doch bemerken wir gleich hier, daß es sich dabei um keinen strikten Gesetzescodex handelt, sondern daß sich die meisten dieser Formen nach den besonderen Umständen und Verhältnissen[3] vielfach modifizieren lassen. Der beste Führer in allen schwierigen Fällen ist der Takt: das Gefühl für das, was sich ziemt; verbindet sich mit ihm jene wahre Herzensgüte, die immer bestrebt ist, anderen wohlzuthun und das eigene Ich erst in die zweite Reihe setzt, dann wird der Mensch auf den vielfach verschlungenen Pfaden des gesellschaftlichen Lebens nicht leicht straucheln, ob sie ihn nun auf das glatte Parkett des Salons führen, oder auf den rauhen Boden der Arbeiterwerkstätte. Immerhin aber gibt es allgemeine Regeln über das, was die gute Gesellschaft übereingekommen ist als Sitte, als sich ziemend zu betrachten; und da der oben erwähnte Takt durchaus nicht allen Menschen weder angeboren noch anerzogen ist, so erscheint es nicht überflüssig, diese Sitten der guten Gesellschaft eingehender zu besprechen.[4]