Die Beruswahl.

[269] Bei meiner Rückkehr aus Italien, bei dem Wiederbeginne meiner Lehrthätigkeit war die Zeit nun nahe gerückt, da ich mich endlich wohl entscheiden mußte, in welcher Weise, durch welche Arbeiten, in welchen Richtungen ich lehrend oder schreibend dem stillen Ehrgeize, für Volk und Zeit etwas Nützliches zu leisten, genug thun wollte. Die dauernden Zerstreuungen meiner doppelten Lehrjahre mußten mir eine solche Entscheidung sehr schwierig machen. Die Trilogie der Dichtung, Philosophie und Geschichte hatte seit lange auf mich wechselnd ihre Reize geübt und fuhr noch immer fort sie zu üben. Ich hatte frühe empfunden, daß nach den drei Kronen[269] zugleich zu ringen eitel sei; gleichwohl ließen sie mich auch jetzt und selbst noch viel später, nicht völlig unversucht. Ich würd nur ein unvollständiges Abbild dessen entwerfen, was zuvor und nachher, mehr als je aber damals (um 1832–1836) in jener fruchtbarsten Jahren der ersten, frischesten Schafflust in mir gährte wenn ich nicht an Einiges erinnerte, was öffentlich von diese geistigen Gährung Zeugniß gab, und anderes dahin Bezügliche er wähnte, was mich innerlich beschäftigte ohne zu einer äußeren Be thätigung zu gelangen.

Das Zeitalter, das mir berufen schien, nach einer Neugestaltun; des bürgerlichen Lebens zu trachten, fuhr fort zu dichten. De Ruhm unserer großen Poeten überstrahlte jeden andern. Die Nation schwamm in einem Meere von Poesie und Sprachgewandtheit, Vers- und Reimkunst flog die fähigen Knaben auf der Schule an. Die mühseligen Dornenwege des gewöhnlichen, prosaischer Lebens schienen in dem Dichterberufe mit Blumenpfaden zu vertauschen. Das riß Hunderte von Berufenen und Unberufener in diese verlockende Bahn. Zwar der unvergängliche Ruhm jene Meister unserer großen Dichtungszeit war nicht gleich zu erjagen aber der augenblickliche Ruf täuschte Viele über den Namen, der ihnen die Zukunft geben oder lassen würde; die äußeren Gewinne aber waren für Viele größer, als sie für jene Großen gewesen waren. Nichts war also begreiflicher, als daß sich jede junge strebende Seele in diese Wege stürzte und sich über ihre eigentliche Befähigung sie zu wandeln betrog. Seit meinen ersten kindische Versversuchen war auch mir dies immer und immer wieder geschehen, und geschah mir selbst dann noch, als ich mich über die Unzulänglichkeit meiner persönlichen Begabung nicht mehr täuschte ja als ich ganz im Allgemeinen in Bezug auf den Beruf der Zeit zur Poesie überhaupt der Ueberzeugung ward, daß die Epoche wahrhafter Größe der Dichtung in Deutschland vorüber sei. Als die Periode der klassischen Reise in unserer Poesie noch nicht[270] gekommen war, hatte sich der Mann, der dann diese Periode eröffnete, mit der drückenden Empfindung getragen, daß auf dem Beruf des Poeten wie eine levis notae macula haftete, während auf den Namen der großen Naturforscher jener Tage ein einziger Glanz lag: so war der Stand der Dinge jetzt wieder, da von einer klassischen Periode der Dichtung nicht mehr die Rede war. Das unersättliche Bedürfniß nach poetischer Nahrung war da, und man verschlang sie wahllos, wie sie geboten wurde, indem man doch der Ernährer spottete und sie bei jeder Aenderung des Geschmackes vergaß. Diese Einsicht, daß das Zeitalter der ächten Dichtung entwachsen sei, und die damit verwandte Ansicht, es würde besser sein, wenn man die Krankheit der schlechten Poeterei, wie schon Kant wünschte, durch ein drastisches Abführungsmittel aus der Natur des Volkes entfernen könnte, – diese Meinung, gepaart mit dem Gefühle meines Mangels an Talent, wirkte dann zusammen, daß es bei mir von poetischen Entwürfen zu Leistungen kaum mehr kam. Gleichwohl ließen mir die Entwürfe – ein Beweis, wie stark immerhin der Stachel blieb, den das fortdauernde dichterische Interesse im Volke behielt – noch langehin keine Ruhe. Ich will deren eine Reihe nennen, die mir länger oder wiederholt im Kopfe lagen. Sie werden andeuten können, einmal daß mir der Sinn zum wenigsten nicht niedrig und auf vielerlei, mannichfaltige Dinge gerichtet stand, zugleich aber auch, daß ich – der bloßen Natur meiner Entwürfe nach – mit dem großen Strome der Zeit nach bloßer Unterhaltungspoesie in Roman, Novelle und Unterhaltungsspielen in vollem Zerwürfniß war.

In meiner frühen Jugend schon, führte ich oben an, beschäftigte mich der Plan zu einem historischen Drama von Heinrich IV, dem Salier. Es ist ein Stoff, der unzählige Male unreife Geister in Bewegung setzte, welche die religiöse Leidenschaft jener vergangenen oder dieser gegenwärtigen Zeit in poetische Leidenschaft riß. Aus solch einem idiopathischen Interesse der Poeten würde[271] aber dem Gegenstande, der zu der nothwendigen Natur des menschlichen Geistes allzuwenig Beziehung hat, ein allgemeines dramatisches Interesse nur um so weniger erwachsen. Ich mag davon eine dunkle Empfindung gehabt haben, denn ich erinnere mich, daß ich zum Knotenpuncte des Stückes das Verhältniß Kaiser Heinrichs zu seinen aufrührerischen Söhnen genommen und so dem Einflusse rein menschlicher Sympathien die Wege offener gehalten hatte. Als ich später mit Shakespeare's Kunstpraxis bekannt wurde, durchschaute ich besser die Unfruchtbarkeit jener Materie und glitt auf den französischen vierten Heinrich über, in dessen Geschichte ich mich wiederholt vertiefte, um in einem Drama Shakespeare'schen Bau's dem scheinlos ächten englischen Heinrich V jenen glänzenden Gallier gegenüberzustellen. Für einen geschichts- und menschenkundigen Poeten wäre dies ein großer Vorwurf; weil die leichtfertigen Wechsel in religiösen Stellungen und das phantasievolle Spiel mit großen politischen Entwürfen, die uns in der öffentlichen Geschichte dieses Fürsten anziehen, sich mit der Natur seines persönlichen Wesens in seelischen, sittlichen und geistigen Beziehungen so einfach decken, daß von ihm ein höchst einheitliches dramatisches Gemälde in tiefen, doppelgesättigten Farben entworfen werden möchte. Außer einzelnen hingestreuten Stellen ist von dem Gedanken nichts zur Ausführung gekommen. Einige Frucht möchten mir diese Beschäftigungen gleichwohl eingetragen haben. Für den Historiker konnte es kaum eine verlorene Mühe gewesen sein, wenn er sich geschichtlichen Studien zu dem poetischen Zwecke hingab, in einer großen Persönlichkeit den einheitlichen Mittelpunct des Charakters zu finden, auf den sich seine gesammte private und öffentliche Existenz zurückbeziehen läßt.

Ein epischer Entwurf lag diesem dramatischen zur Seite: er hing – wenn man will – mit meinen ältesten Kinderversuchen und mit meiner begeisterten Liebe für die Homerischen Dichtungen zusammen, die an klarer und geistfreier Beherrschung der Welt, an[272] phantasiereicher Abspiegelung des Wirklichen in naturtreuen Bildern, an harmonischer Aus- und Durchbildung der poetischen Form ihres Gleichen nicht haben. Die Beschäftigung mit der altdeutschen Dichtung hatte mich, je mehr sie mich als historischen Forscher zur Bewunderung unserer Nationalepen, der Nibelungen und der Gudrun, zwang, desto mehr als ästhetischen Beurtheiler das Unfertige und Bruchstückartige in eben diesen Dichtungen empfinden lassen. Ich konnte voraus wissen, daß dies Urtheil den kritiklosen Patriotismus verletzen würde; es reizte mich, durch die poetische Erneuerung eines jener Epen mit Händen greifbar zu machen, welch eine wahrhaft großartige künstlerische Anlage hier in dem poetischen Stoffe wäre, zugleich aber auch, wie vieles in formeller und psychischer Ausgestaltung hinzuzuthun blieb, wenn alle die kostbaren Keime und Sprossen zum vollen dichterischen Auswuchse gelangen sollten. Später hat W. Jordan an den Nibelungen dasselbe zu thun unternommen, indem er zu den Formen und Mythen der ältesten deutschen und nordischen Dichtung zurückgriff. Für mich hatten nur die alten klassischen Formen Reiz (in welchen sich – schon in jenen Versuchen der St. Gallener Mönche des 10. Jahrhunderts, die volksmäßige Dichtung in das antike Gewand zu kleiden, – die Reste der deutschen Sage weit am reizendsten ausnehmen); die Formen, ohne welche jene plane Klarheit und ruhige Größe so wie jene schlichte Natürlichkeit selbst in dem Wunderbaren der Sagenüberlieferung nicht zu erreichen ist, die das griechische Epos so außerordentlich auszeichnen. Ich hatte mir die Gudrun ausersehen, die ich ihrem ganzen Bau nach umgestaltet hätte. Im Eingang sollte die Heldin in ihrer leidenvollen Gefangenschaft bei dem werbenden Normannenfürsten Hartmut geschildert, die märchenhaften Anfänge des alten Gedichtes, die vorbedeutenden Schicksale der Eltern und Großeltern Gudrun's sollten von ihr und ihrer Gespielin Hildburg an die theilnehmende Schwester Hartmut's episodisch erzählt werden als lindernder Zeitvertreib bei den entehrenden Geschäften, die den[273] gefangenen Fürstentöchtern von der grausamen Mutter des Brautwerbers auferlegt waren. Ich wollte die Gesänge je nach Lust und Laune rhapsodisch entstehen lassen und veröffentlichte den fünfzehnten, der die Scene des Wiedersehens Gudrun's und ihres Verlobten Herwig behandelt, als eine Probe. (Leipzig bei Engelmann 1836.) Mündlich, gelegentlich auch in der Presse hörte ich von solchen, die den Verfasser kannten und nicht kannten, die in ihrem eigenen und in Anderer Namen sprachen, nichts als Lob, aber keine Ermunterung. Das Ganze war in sich selbst, und in dem vorausgeschickten Programm auch noch recht ausdrücklich, den »Fratzen der Tagespoesie« grell entgegengesetzt; um so fühlbarer machte sich mir, wie der Ton einer scheinlosen und verleugnungsvollen Dichtung in den Geschlechtern kein Echo mehr fand. Ich entziehe den Probegesang der Vergessenheit, indem ich ihn im Anhange (II) dieses Bandes beifüge mit den kleinen Aenderungen, die ich gelegentlich in den Druck eintrug. Er stehe als rin Beweis hier, daß es mir mit meinen dichterischen Entwürfen doch wirklich Ernst genug war, um einmal auch Hand an die Ausführung zu legen. Ich hätte das Gedicht, davon war ich durchdrungen, in Einem raschen Zuge vollenden können; aber ohne die poetische Luft der allgemeinen Theilnahmswärme, unter der die Dichtung des vorigen Jahrhunderts gedieh, wäre es eine danklos aufreibende Anstrengung gewesen. Der poetische Freund Hessemer hätte mich gerne bei der Arbeit aushalten sehen, wiewohl er mir abmerkte, daß es anders kommen werde. Gudrun? fragte er lakonisch in einem Briefe und gab sich selbst die Antwort: Gut ruhn!

Zu diesen dramatischen und epischen Entwürfen hatte die reine Kunstmäßigkeit der Stoffe angeleitet; andere drängten sich vor, in welchen praktische Bezüge auf die Zeitverhältnisse die Seele gebildet hatten. Man erinnert sich, wie die Pariser Julirevolution plötzlich ein neues Geschlecht von Dichtern, Belletristen und Tagschreibern in aller Welt und so auch in Deutschland hervorrief,[274] die der Literatur wie der Sitte und Politik einen revolutionären Charakter aufzudrücken strebten; man erinnert sich auch, wie in ihren Reihen eine Anzahl lyrischer und anderer Poeten chervorstach, die in grader Satire über Personen und Dinge der literarischen, gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Welt in den kecksten Angriffen herfielen. Ein eigener Zweig dieser tumultuarischen Polemik war gegen die poetische Romantik der jüngsten Vergangenheit gerichtet; ich trug mich mit einem anderen Plane: die politische Romantik der allerjüngsten Gegenwart zum Ziele der Satire zu nehmen. Ich wollte die Geschichte eines Phalanstere's schreiben. Die Lehren Owen's, Fourier's und St. Simon's verwirrten damals so viele Sinne: das Leben St. Simon's, der Charakter Fourier's selbst gaben die schönsten Mittelpuncte ab, um die sich eine üppig reiche, lebenvolle Darstellung hätte anknüpfen lassen von den nothwendigen Verläufen der Dinge, wenn irgendwo die weltverbessernden Grillen und Träume, die Lehren und Sitten dieser Erleuchteten und aller ähnlichen Fanatiker des Materialismus, bis zur äußersten Folgerichtigkeit getrieben, aus den Gedanken in das Leben hätten übertreten sollen. Kaum ist ein psychologisch tieferer, ein an Gruppen der mannichfaltigst verschiedenen und doch durch einerlei inneren Verband zusammengehaltenen Thatsachen überfüllterer Stoff zu ersinnen als dieser; keiner, an dem die mikroskopische Beobachtung der menschlichen Natur, wie sie den englischen Humoristen des vorigen Jahrhunderts eigen war, weiter hätte getrieben werden können, um hinter der wirkungsvollsten drastischen Komik den furchtbaren Ernst der Wahrheit der menschlichen Natur zu offenbaren. Seit dem Don Quixote wäre ein solches Gemälde von Verkehrung und Verrenkung des Menschenwesens nicht entworfen worden; aber ein Cervantes wäre erforderlich gewesen, es auszuführen.

Ein anderer Entwurf, der wesentlich in meiner persönlichen Geistesgeschichte wurzelte, war eine Behandlung der Sage von Ahasver; sie wäre zu einem mehr oder minder didaktischen Gedichte[275] geworden. Die Sage von dem wandernden Juden hat eine ganze Reihe von Zeitgenossen beschäftigt, die ihr von anderer und anderer Seite eine poetische Gestalt zu geben suchten. Mir, den das Nachdenken über die Gesetze der geschichtlichen Welt seit der Bekanntschaft mit Machiavelli so stark gepackt hatte, mir lag es nahe, diesen ewig lebendigen Zeugen der Weltgeschichte zum Ausleger ihres Geistes, zum Deuter ihrer Geheimnisse zu machen. Der Kern der Sage, vergeistigt oder rationalistisch aufgefaßt, war doch dies; daß Ahasver die Verkennung einer weltgeschichtlichen Erscheinung zu büßen hatte; die Buße ward ein Gewinn, wenn er an den stets neu zu erlebenden Katastrophen der Menschheitsgeschichte die Zeichen der jeweiligen Zeiten immer klarer erkennen lernte; das Tragische der Sage ward so, wie in Göthe's Umgestaltung der Faustsage, in Versöhnung gemildert. Die Aufgabe konnte dann nicht sein, wie sie die meisten der neueren Bearbeiter faßten, poetische Gemälde von einzelnen Geschichtsereignissen zu entwerfen, sondern den irrenden Juden zu einem in sich eingekehrten Weisen zu verwandlen und ihn als einen betrachtenden Chor die Wanderungen der Menschheit deuten, nicht ihn poetische Geschichten erzählen, sondern eine poetische Philosophie der Geschichte entwerfen zu lassen, in persönlicher Berührung mit dem dichterischen Geschichtslehrling, dem es hier gestattet gewesen wäre, auch seinen Träumen und Ahnungen über die innersten Mysterien des Geschichtsganges den freien Lauf zu lassen, den die strenge Wissenschaft versperrt. Der poetische Umriß des großen Geschichtsdramas hätte eine Art Seitenstück zur göttlichen Komödie werden mögen; aber ein Dante wäre erforderlich gewesen, diesen Umriß auszuzeichnen.

Der Gegenstand des letzterwähnten Entwurfs führte mich von selbst von den poetischen Versuchen und Versuchungen, die ich zu bestehen hatte, zu den philosophischen über. Man wird es nur natürlich finden, daß jener Gedanke an eine poetische Gestaltung der Geschichtsphilosophie in mir wieder und wieder auftauchen konnte,[276] da ich in der Sucht, der Geschichte den Geist auszusaugen, von den deutschen Geschichtsschulen, welche von altklassischer oder mittelalterlicher Philologie aussetzten, von Anfang an abgebogen war. Die Versuchung, einer systematischen Philosophie der Geschichte die oder eine Hauptthätigkeit meines Lebens zu widmen, trat mich langehin und immer aufs neue, selbst noch in Zeiten an, da ich schon eine vieljährige Thätigkeit an andere Gegenstände gesetzt hatte. Ueber dieser eigentlich neu zu entdeckenden Wissenschaft brüteten die Zeiten, seit Newton für die Zukunft, wenn die empirische Methode die Naturwissenschaften gereinigt haben würde, die Anwendung derselben Methode auf die Wissenschaften des Geistes vorausgesagt hatte. Ich habe niemals die überschwenglichen Hoffnungen getheilt, die ein Bentham, der diese Weissagung Newton's zu erfüllen, der die Gesetze der menschlichen Geistesentwicklung so klar wie Newton die der Natur darzulegen den Ehrgeiz hatte, an die Erfolge der Anwendung jener Methode auf die Welt des Geistes knüpfte: daß in den moralischen Wissenschaften Gesetze mit eben solcher Unleugbarkeit könnten aufgestellt werden wie in den mathematischen. In diesen handelt es sich um unveränderliche Figuren und Zahlen, die unter ein ewiges Gesetz fallen, in der moralischen Welt um Thatsachen unter lebendigen Wesen, die, in der mannichfaltigsten Weise verschieden, ewig neu erscheinen und sich veränderlich umgestalten; wenn man wie die Spinoza, Bentham, Herbart die Natur des Menschen und ihre inneren Triebkräfte in starre mathemathische Formeln bringen will, so secirt man an einer Leiche, die nie Leben gehabt hat. In den, Regionen des geistigen Lebens gleich nothwendige Gesetze zu entdecken, wie in der dem Experimente offen stehenden physikalischen Welt, ist in sich unendlich schwer; und wären sie gefunden, so wäre es unmöglich, mit ihrer Darlegung die gleiche Ueberzeugungskraft zu üben, wie in den genauen Wissenschaften. Man müßte einmal mit einer unendlichen Fülle von Thatsachen operiren, die der Schüler eben so wissen müßte wie der[277] Lehrer, wenn er dessen Auslegungen folgen sollte; dann aber würde die Lehre überall straucheln an der Masse von Vorurtheilen, die von vornherein die Lernenden, welche in den. Stoff mit allen Interessen ihrer menschlichen Natur verwebt und verwachsen sind, in eine von Grund aus zweifelnde und verneinende Haltung stellen; aus jedem einzelnen Fache heraus würden die Theologen, die Rechtskundigen, die Staatsökonomen, die Philosophen, die Vultleute, je getrübter die Brille ist, aus der sie (jedes aus anderen Theilwahrnehmungen an anderen Theilen des Gegenstandes) die Dinge vom einseitigen Standpuncte ansehen, desto zahlreichere Widersprüche gegen die Folgerungen erheben, die der Geschichtsdeuter dem Ganzen der moralischen Welt entnahm, wenn er auch deren Spiegelbild in reinstem Auge empfangen, wenn er auch der Betrachtung derselben in dem höchsten geistigen Gleichmuth, ohne Vorliebe und Vorurtheil, ohne Einseitigkeiten des Verstandes oder des Gemüths obgelegen hätte. Trotz alle dem aber war mir immer unzweifelhaft gewesen, daß nur mit jener Methode eindringender Beobachtung, mit der man in den Naturwissenschaften die unergründlichst scheinenden Tiefen blos gelegt hat, auch in die Gebiete des Geistes ein helleres Licht zu tragen sei. Ich muß das Geständniß ablegen, daß ich von den Trugsystemen unserer neuen deutschen idealistischen Philosophie niemals etwas habe begreifen können. Die tüchtigen Kräfte alle, die in Deutschland die Philosophie nach Hegel, ohne sich auf neue Systeme zu erpichen, hauptsächlich in historische Pflege genommen haben, sind von Hegel fast alle auf Kant oder noch. weiter zurückgegangen; sie haben alle Positionen der Idealphilosophie aufgegeben und nur Einer oder der Andere ist mit Kant auf dem Einen Puncte stehen geblieben, wo die kritische Philosophie in Raum und Zeit ursprüngliche Veruunstanschauungen sah, die Vernunft deren Ursache nannte, obgleich das Wie unerklärlich sei. Mir war Alles unerklärlich auch in diesem Satze, dem letzten Refugium der Idealphilosophie. Selbst in ihm vermochte ich niemals frei zu athmen. Ich konnte nicht begreifen, wie[278] Raum und Zeit, oder welche andere primitivste Begriffe, etwas Anderes als Producte unseres Beobachtungs- und Abstractionsvermögens sein könnten, daß sie Formen sein sollten, die unsere Vernunft aus einem ursprünglichen, ihr eigenen Besitze den Dingen hinzugäbe, und nicht unsinnliche Bedingungen der sinnlichen Dinge und ihrer Bewegungen; daß Leibnitz Unrecht haben sollte, der in ihnen Verhältnisse sah, welche die Dinge ordnen, der Raum die coexistirenden, die Zeit die successiven Dinge. Messen wir doch in den Gesetzen des Falles die Zeit an dem Raume und den Raum an der Zeit und wissen wohl, daß diese Gesetze seit Ewigkeiten durch das Universum gehen ohne alle Benöthigung einer menschlichen Vernunft!

Blickte ich auf das herüber, was die idealistischen Systeme, was Hegel und Krause auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie selbst geleistet hatten, so konnte mich das nicht günstiger für ihre Methode stimmen. Sie hatten einzelne frühere Ansätze wie Buchholz' Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt, Stutzmann's Philosophie der Geschichte der Menschheit (1808) u. A. verdrängt und vergessen gemacht, ohne etwas irgend Erschöpfendes an die Stelle zu setzen. Hegel hatte den Tact, der constructiven Methode auf diesem Gebiete so sehr zu entsagen, daß sich seine Geschichtsphilosophie stellenweise in der That nur wie die Arbeit eines geistreichen Geschichtschreibers ausnimmt; die Commentare über die asiatischen Völker, Chinesen und Inder, machen wesentlich denselben Eindruck, wie die Abschnitte über dieselben Gegenstände in Schlosser's Universalgeschichte. Hegel selber nannte sein Buch wohl philosophische Geschichte; was doch nicht dasselbe ist wie Philosophie der Geschichte; philosophische Geschichte ist Geschichte, und das Philosophische ist nur die Form der historischen Behandlung; Philosophie der Geschichte ist Philosophie, und die Geschichte ist der Gegenstand der philosophischen Behandlung. Die eigentliche Aufgabe, in der Fülle der geschichtlichen Thatsachen auf ihre wesentlichsten Factoren vorzudringen, ihnen ihre nothwendige Gestalt[279] abzusehen und ihre Gesetze abzulauschen, ist nur in gelegentlichen Apperçus berührt, ohne daß auch selbst in ihnen eine reine Lösung versucht wäre. So nahm Hegel den oft angestellten, leicht misbrauchbaren Vergleich der verschiedenen Lebensepochen der Individuen mit den Culturstufen der Völker auf, begnügte sich aber, ihn nur anzudeuten und in der Art anzuwenden, daß die Menschheit bereits seit dem Ausgang der römischen Welt im Greisenalter angelangt sein müßte: es gälte hier aber, das physiologische Moment (das Forster in einem Aufsatz über »Geschichte der Menschheit« angefaßt hat), d.h. die nicht weit reichende Vergleichung der stufenweisen Wirksamkeit der Organisationskräfte in Individuen und Nationen bald mit dem psychischen Momente zu tauschen und auf die natürliche Ordnung der Entwicklung, die zeitgemäße Stufenfolge der Ausbildung der Seelenkräfte im Völker- und im Einzelleben überzugehen, auf die Geschichte des Geistes, die schon Vico als den eigentlichen Gegenstand der Geschichtsphilosophie bezeichnete; sie ist bei Hegel so gut wie außer Frage geblieben. Hegel hatte bei seinem Werke kaum eine andere Vorarbeit vor sich als die »politische Philosophie« oder »neue Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Nationen« jenes Italieners, der zuerst die Methode, die Baco auf die natürlichen Dinge gelenkt, auf die bürgerlichen, menschlichen Dinge anzuwenden behauptete, um die gesetzlichen Formen der idealen, ewigen Geschichte zu gewinnen, die alle Völker durchlaufen. Er hatte die richtige Ahnung, daß zu solch einer Arbeit, wie Er es ausdrückt, Kritik und Metaphysik, Philologie und Philosophie, Forschung und Idee zusammenwirken müßten; aber in ihm lag der confuse Polyhistor mit dem christlich befangenen Theologen weit zu ungeschieden neben einander, als daß Forschung und Idee in der Weise in ihm hätten verschmelzen können, daß man die wesentlichen Thatsachen bei ihm hätte erfahren und durch ihre Hülle zugleich die geistigen, beseelenden Kräfte erkennen können; in seinen phantastischen wie noch in Hegel's nüchternen Werken müssen mythologische und symbolische[280] Bilder und Anschauungen die geschichtsphilosophische Einsicht ersetzen. Wie es denn ein ähnliches Kennzeichen aller der voreilig, ohne die volle Uebersicht und Durchsicht des Materials unternommenen Versuche dieser Wissenschaft ist, daß ihre Urheber nach gewissen einzelnen, einer Vorliebe oder einem vorherrschenden Gedankensysteme entflossenen Postulaten einzelne Ideen, Herder seine humanistische, Fr. Schlegel seine christliche, Hegel seine freiheitliche, aus einzelnen Seiten der Menschheitsgeschichte abziehen, statt auf einer umfassenden Erkenntniß des Ganzen ein Alles begreifendes System zu bauen. Für die Gesetze der Hauptseite, der staatlichen, politischen Seite der Geschichte, sind Aristoteles und Machiavelli, den Vieo wie Hegel nachzuschlagen versäumten, die einzigen brauchbaren Wegweiser geblieben; der Geistesgeschichte in ihrer umfassendsten Entwikklung auf die Spur zu kommen, dienen uns Deutschen fast nur die einzelnen Gedankenblitze bei Lessing, Kant, Herder, Forster, Schiller und W. v. Humboldt als sporadische Leuchten in einem noch tiefen Dunkel.

Die Hegel'sche Idee, die Weltgeschichte sei »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, ist dem Aristotelischen Gesetze der Staatenentwicklung abgesehen und mit dem Systeme des Philosophen geschickt in Zusammenhang gebracht, nicht aber in der Gesammtheit des Gegenstandes und allen seinen Phasen nachgewiesen; den Rivalen Krause, dessen Vorträge über Philosophie der Geschichte erst geraume Zeit nach seinem Tode, und bis jetzt nur theilweise, veröffentlicht wurden, hätte der Satz, wenn er ihn gekannt hätte, vielleicht aus einem ganz individuellen, eigenpersönlichen Gesichtspuncte interessirt. Er sah diese Wissenschaft aus einem großartigen Gesichtspuncte als eine Schule an, in der wir lernen sollten, uns im Ganzen der Geschichte und des Weltlebens zu fühlen, uns für Ideen zu begeistern und uns ihrer Darstellung und Gestaltung im geschichtlichen Leben mit bewußter Weisheit und sittlicher Freiheit, mit »wahrer Lebenskunst« zu weihen, den eignen Beruf nach dem[281] Plaue des ganzen Völker- und Menschheitslebens zu entwerfen. Er meinte, der erleuchtete Geschichtsphilosoph werde mit der bewußten Erkenntniß dessen, was Er und gerade Er allein der ganzen Menschheit zu werden vermöge, seinen Einfluß wohl auf Jahrhunderte und Jahrtausende erstrecken; wie er denn sich selbst, als einem solchen Erleuchteten, eine Wirksamkeit wie Christus schien zusprechen zu wollen. Einige Fundamentalsätze, womit Krause's Vorträge beginnen, könnten scheinen ein Werk von ganz realistischem Aufbau zu versprechen; so der Satz: daß die Zeit die Form sei der inneren Veränderungen der Wesen; daß nur, was in der Zeit ist, sich ändere; daß die Wesen, nur insofern sie sich ändern, zeitlich und nur insofern ein Gegenstand der Geschichte und der Geschichtsphilosophie sind. Damit, sollte man denken, wäre alles Transscendentale, alle Fragen über Woher und Wohin, über die Endpuncte der lebendigen in dieser menschlichen Welt waltenden Kräfte, alles Ewige, Unveränderliche, durch alle Zeiten Bleibende ausgeschlossen; wie auf der anderen Seite wieder durch die Bestimmung der eigentlichen Aufgabe der Geschichtsphilosophie als »die Erkenntniß der ewigen Gesetze der Entfaltung des Lebenden in der Zeit« das Geschehende als solches ausgeschieden wäre, das der reinen Geschichte angehörte. Diese Sätze aber werden in dem Fortgang des Werkes sofort wieder gänzlich aufgehoben. Der Philosoph theilt seine Aufgabe in eine reine, ideale und in eine angewandte Philosophie der Geschichte, welcher letztere Theil (nach meinen Gedanken die eigentliche, allein ausführbare Aufgabe) in seiner Ausführung noch nicht im Druck erschienen ist; der bekannt gewordene, auf rein metaphysischer Grundlage ausgeführte erste Theil schweift über den geschichtlichen und zeitlichen Boden in unerforschliche Höhen und Tiefen hinüber. In diesem Theile, in dem Krause zuerst, vor der Philosophie der Geschichte der Menschheit, eine allgemeine Philosophie der Geschichte aller Wesen entwickelt, die jedem endlichen Leben im Natur- und Geisterreiche, von dem Sonnensysteme bis zum Thautropfen herab,[282] von dem Einzelmenschen bis zu der Universalmenschheit im Weltall hinauf gemeinsam ist: in diesem Theile ist ihm die Zeit, die der gemeine Menschenverstand dem Ewigen entgegensetzt, an sich unendlich und ewig; er tritt hier also an die Geschichte aller lebenden Wesen, auch dieser irdischen Menschheit, mit den Voraussetzungen einer superspeculativen, durch höhere Ahnungen und Schauungen bereicherten Wissenschaft heran, welche die Beweise ihrer Behauptungen in keiner Weise auf historische Thatsachen stützt noch stützen soll; einer Wissenschaft von dem, was »die lebenden Wesen an sich ewig sind«; die daher, alle Vor-, Nun- und Nachzeit, in Einem Griffe umspannend, auseinandersetzt, daß jedes menschliche Wesen, als freier Geist ungeboren und unsterblich, schon unzähligemale in der unendlichen Vorzeit gelebt habe und in der unendlichen Tiefe der Zukunft sein Leben fortsetzen werde, in aufsteigenden Lebensperioden, von niederen Himmelskörpern auf höherstufige versetzt, ja nach dem Untergange aller jetzigen Sonnensysteme noch weiter, immer als dieses Individuum, in neugeschaffene, vollkommenere Sonnenbauten emporgerückt, wo die geistigen Wesen vielleicht in unmittelbarem Vereinleben mit den Geisterreichen, mit ben Menschheiten an derer Himmelskörper stehen werden: denn »wir wissen auf ewige Weise gewiß, daß die Menschheit dieser Erde organisch verbunden ist mit höheren Ganzen des Lebens in dem Geisterreiche, mit höheren Ganzen des Naturlebens im Gestirnreiche und mit Gottes Leben als waltender Vorsehung.« Der pankosmopolitische Philosoph, zurückblickend auf die ältesten Schulen der indischen. Weisen, die noch im Stande der Unschuld der Menschheit gelebt, wo die Menschen hellsehend waren und mit den Kräften der Natur, mit dem Geisterreiche und selbst mit der Gottheit in Wechselwirkung standen, sieht sich selbst in den Anfängen der Reifezeit der Menschheit stehen, die sich durch mancherlei versprechende Erscheinungen ankündigt, durch die Geheimvereine, die wie die Freimaurerei nach höheren Wahrheiten streben, durch Owen's Communismus, durch die allerdings noch zweifelhaften[283] Handreichungen des Magnetismus und der Hellseherei in die Geisterwelt hinüber, nicht am wenigsten durch die Entdeckung der Wissenschaft der Geschichtsphilosophie, durch die sich Krause als den prophetischen Verkünder der steigenden Zeitreise erkennt, wo die Menschheit, auf einer höheren Stufe zurückkehrend zu der Weisheit jenes Unschuldstandes, schon hier auf Erden höherer Offenbarungen Gottes gewürdigt werden könnte.

Man sieht leicht, wie diese Idealistik die Aufgabe karrikirt, wie sie schon in den bloßen gelegentlichen Hinüberdeutungen auf das Gebiet der angewandten Geschichtsphilosophie sich in's Phantastische verirrt. Krause weiß wohl, daß alle die tiefsten Fragen, welche die Menschheit bewegen, von Freiheit, Wille und Naturzwang, von Zufall, Schicksal und Vorsehung, von Glück und Unglück, von Gut und Böse in den Kreis seiner Aufgabe fallen; aber wie er hier diese Dinge gelegentlich apriorisch anfaßt, wird er seinen Lesern keine beruhigende Belehrung bieten, während die sichtende Betrachtung der realen Geschichte der Sammelwesen, der Völker, in der sich jene Fragen in einer Weise lösen, zu welcher die Ethik und Psychologie über der Erforschung der Einzelwesen nicht leicht gelangt, reich an tröstenden Wahrheiten macht. Unser Geschichtsphilosoph weiß, daß der Kern seiner Wissenschaft in dem alten kleinen Satze liegt: Alles hat seine Zeit; der Inhalt der in der Zeit bedingten Veränderungen ist nicht willkürlich, sondern jede Zeit hat einen besonderen, ihr zukommenden Inhalt. Allein es wäre kaum abzusehen, wie er nun aus seinen metaphysischen Höhen, die ihm die Fülle der Thatsachen gleichgültig machen müssen, die weitere Aufgabe lösen würde: die Wahrheit jenes Satzes, der unbestritten ist in allem Naturleben, auf die Veränderungen in dem menschlichen Geistesleben zu übertragen und an diesem, wo sie höchst bestritten ist, durch eine ächte Phänomenologie des Geistes zu erweisen. Krause's Idealismus, indem er die Aeonen der Vergangenheit und Zukunft in ein Spiel verwegener Berechnungen zieht, gelangt[284] dahin, daß er am Ziele der Geschichte eine allgemeine Veredlung des Menschengeschlechtes, seine Reifung zur Gottähnlichkeit, liegen sieht; in der Betrachtung der wirklichen Geschichte aber, wie sehr sie von allen pessimistischen Ansichten ableitet, ist nirgends ein Anhalt für dergleichen eudämonistische Vorstellungen gelegen, von welchen sich selbst Kant (in seinen Träumen vom vollkommenen Staate und vom ewigen Frieden) nicht ganz frei zu halten wußte, der sonst der Aufgabe der Geschichtsphilosophie auf richtiger Spur nachtrachtete: in dem Kerne der wirren Thatsachenmasse der Weltgeschichte den ordnenden Weltgeist, in dem Knäuel ihrer Verwicklungen einen Kosmos aufzuzeigen wie in der mechanischen und organischen Natur. Im Alterthum und Mittelalter empfahlen die Weltweisen sehr verschiedener Schulen in dem unwandelbaren Leben der Thiere die Treue bei der Natur, die doch eine Fessel ist, als eine Unfehlbarkeit, die doch Unzurechnungsfähigkeit ist, vor dem Leben des Menschen, dem mit dem Geiste Wahl und Wille verliehen und mit einer bedingten Freiheit die Abweichung von der Natur gestattet, in dessen Dasein mit dieser Abweichung eine moralische Anarchie getragen ist, welche die oberflächlichen Betrachter der Geschichte leicht ganz von ihr wegschreckt. In dieser Anarchie, in der ein blinder Zufall zu herrschen, in der jener ordnende Faden, den die Natur in ihren übrigen Bereichen knüpfte, ganz abzureißen scheint, in diesem Chaos, das durch die egoistische Willkür und zügellose Leidenschaft aller handelnden Menschen und durch den sich kreuzenden Widersinn ihrer Svnderzwecke erzeugt wird, gleichwohl eine ähnliche Ordnung, in der freien Geisteswelt eine ähnliche Gesetzmäßigkeit, über der unvernünftigen Selbstsucht der Einzelnen einen unbeirrten instinctiven Naturzweck, dem die einzelnen Menschen und ihre freisten Thaten nur als Mittel dienen, in den beweglichen Theilen dieser ungeheuren Maschine den festen ewigen Bau nachzuweisen, durch Auflösung jenes Widersinns der einzelnen geschichtlichen Thatsachen in der Zusammenstimmung ches Ganzen die[285] Harmonie zu finden, die über die Misklänge hinweghebt, das ist das erhabene Ziel der philosophischen Betrachtung der Geschichte. In dem Naturgesetz, das in steten Wirkungen und Gegenwirkungen, in ewigen Widerständen und Kämpfen die Kräfte weckt und reibt und übt; das durch die Empfindung von Bedürfniß und Entbehrung stufenweise die Begierden, die Leidenschaften, die bewußteren Bestrebungen, die durch geläuterte Erkenntniß von den Bedingungen der Existenz der Menschheit zu besonnener Einsichtge hobene vernunftmäßige Handlungsweise zeitigt; in diesem Naturgesetze ist alles Wesen der Vervollkommnung, der Entwicklung aller menschlichen Natur und Geistesreife in dem Einzelnen. gelegen, wie in den Völkern, in deren Dasein der Busammenstoß der Kräfte,. Interessen und Begehrungen, welche sich in Absonderung aufreiben würden, durch die häusliche und bürgerliche Ordnung, Familie und Staat (jene Macht, die über aller sittlichen und geistigen Fortbildung waltet,) gebändigt und gemildert wird. Das Gemälde nun von diesem Kampfe, der sich in jedem einzelnen Menschen, in jedem neuen Menschenalter, in jedem Auf- und Niedergang der Völker ewig erneuert, von dieser steten Wiederholung des wesentlichen Inhalts unter dem steten Wechsel der Formen der menschlichen Dinge, worin der geschichtliche Betrachter die Bedingung des Bestandes derselben erkennt, ' von diesem Hin- und Herwogen von Wachsthum und Zerstörung, von Aufgang und Untergang, von Leben und Tod, in dem bis jetzt ein steter Fortschritt in stets erweiterten Räumen, Kreisläufe von stets weiter gezogenen Kreisen der menschheitlichen Vervollkommnung zu beobachten gewesen sind: dies Gemälde zu entwerfen war in jenen Werken der philosophischen Speculation nicht unternommen; und mir schien dies auch, wenngleich eine wesentlich philosophische Aufgabe, doch nicht sowohl das Geschäft des idealistischen Philosophen als des philosophisch angelegten Historikers zu sein, der die Masse der Erfahrungen in liebevoller Freude der Anschauung beobachtet und erfaßt, dem eine offene, leidende[286] Empfänglichkeit in Erforschung und Betrachtung der ungeklärten Erscheinungen eigen ist neben einer selbstthätigen Gabe der Vergleichung und Verbindung, um in dem Erforschten das Wesenhafte zu erkennen und Ungefähr und Zufall, Sprung und Willkür darin auszuscheiden. Denn in diesen Gebieten kann nur eine Methode fruchtbar sein, in der alle Geisteskräfte zugleich, lebendige Anschauung, Ahnungs- und Einbildungskraft, Verstandesschärfe und Combinationsgabe wirksam, analytisches und synthetisches Verfahren, Idealistik und Realistik auf Wegen und Stegen verbunden sind; die einseitigen Divinationen der Speculation wie auf der entgegengesetzten Seite die Zahlen der Statistik sind gleich unergiebig für diese Wissenschaft des Geistes, die von ganz realistischem Standpunct aussetzt, aber sich wesentlich mit den verborgensten geistigen Kräften beschäftigt, welche die Menschheit tragen. und daher von nichts entfernter bleiben wird als von den Ergebnissen des platten Materialismus. Die lebendige Mannichfaltigkeit der Geschichte darf in einer Geschichtsphilosophie nicht verloren gehn und nicht einfach vorausgesetzt werden; der Geist darf hier nicht ungeduldig die Vielfältigkeit der Erfahrungen und den vollen Inhalt der Dinge überspringen, gierig nach einem Ziele, um die Eigenheiten des Weges unbekümmert; er muß nicht mit Ideen und geistreichen Anticipationen überredend, sondern stets mit handgreiflichen Thatsachen überzeugend sprechen.

Diese Aufgabe nun auf mich zu nehmen, hatte für mich einen großen Reiz, ohne daß ich doch je zu einer ernstlichen Anfassung derselben gelangt wäre. Hätte ich an einer Hochschule einen regelmäßigen Lehrgang verfolgt, so würde ich sicherlich niemals dazu gekommen sein, wie es später üblich wurde, ein historisches Seminar, ein Laboratorium zur äußerlichen Einschulung angehender Geschichtsforscher einzurichten; wohl aber möchte ich stufenweise versucht haben, von einzelnen Außenwerken aus langsam und stetig dem Mittelpuncte der geschichtsphilosophischen Aufgabe näher zu rücken.[287] Absichtslos war ich ganz auf diesem Wege. Schon als Docent hatte ich in Heidelberg über die »Grundzüge der Historik« gelesen, die ich später (1837) als eine Unterlage für öffentliche Vorträge drucken ließ, und im Anhang (III) zu diesem Bande in einer kaum veränderten Gestalt wieder abdrucken lasse, wie sie in einer zweiten Ausgabe erscheinen sollten, in der alle Jugendlichkeiten der ersten Auflage noch stehen geblieben sind, auch Sätze, denen ich in meinen Vorträgen bald selber widersprach. In Göttingen wiederholte ich diese Vorlesung und hatte vor, jedesmal in den öffentlichen Vorträgen, die dem Lehrer dort vorgeschrieben waren, verwandte Gegenstände zu behandeln; wie ich denn jenem Vortrag einen anderen über die Geschichtslehre des Machiavelli in steter Vergleichung mit der Aristotelischen folgen ließ, dem wohl eine Zusammenstellung Machiavelli's mit Montesquieu und Rousseau, die mir etwas später sogar in die Feder floß, nachgekommen wäre. Noch als ich ein Jahrzehnt später in Heidelberg den Katheder auf kurze Zeit wieder bestieg, las ich in der ganz gleichen Richtung über Politik auf geschichtlicher Grundlage, ein Thema, zu dem mich gleichfalls der Plan schon während meiner Docentenjahre in Heidelberg beschäftigte. So würde ich vielleicht von Vorarbeit zu Vorarbeit weiter vorgeschritten sein, wenn mich auf diesem Lehrerwege nicht die persönlichen Geschicke gekreuzt hätten. Möglicherweise freilich hätten mich auch ohne diese die öffentlichen Schicksale des Vaterlandes und die ganze Natur meiner Geistesanlagen davon abgebracht. Ich war doch sicherlich mehr dazu geschaffen, philosophische Geschichte als Philosophie der Geschichte zu schreiben. Die feinsten Thätigkeiten des Gehirns zu üben, wo es denkt, um zu denken, war mir so wenig gegeben, wie mir die einbildsamen Kräfte des Dichters von der Natur freigebig zugetheilt waren. Dazu kam, daß mir ihre besondere Pflege nicht grade in die erste Linie des für die Nation Nothwendigsten und Wünschenswerthesten, der Zeitlage nach, zu gehören schien. Die Darstellung der Geschichte selbst dünkte mir erst[288] weit mehr geläutert und übersichtlich geordnet werden zu müssen, ehe man den Schritt zur Geschichtsphilosophie vorwärts thun sollte oder könnte. Alle Wissenschaft ganz im Allgemeinen war überdies durch die Methode der Naturforschung auf die Wege eines Detailstudiums von nie zuvor gekannter Gründlichkeit und Genauigkeit gewiesen worden, das sich mit philosophischen Zusammenfassungen vorerst nicht vertrug, das aller speculativen Philosophie bei uns so gut wie ein Ende machte. Dies alles wäre indessen noch nicht für mich entscheidend gewesen. Die Hauptsache war, daß ich dem öffentlichen Leben in innerlicher Theilnahme viel zu nahe stand, als daß ich mich so leicht einer bezugstosen, absoluten Geschichtswissenschaft hätte hingeben können. Wie in meiner Jugend die Befreiungskriege die kindliche Phantasie schon mit den Bildern eines ruhmvollen Volkes gefüllt, wie die fünf in einem falsch gewählten Berufe verschmachteten Jahre den Blick des innerlich Unbeschäftigten auf die großen Freiheitsbewegungen der Wer Jahre in America, Spanien, Italien und Griechenland gefesselt gehalten hatten, so hatte wieder neuerlich die große Wendung in dem bürgerlichen Leben seit 1830 nun ihre Nöthigung auf mein inneres Leben geübt, wo sich in Deutschland zum erstenmale ein politisches Selbstgefühl, ein eigen wirkender nationaler Geist, selbstgetrieben, ungekünstelt, ohne Complotte und Verabredungen zu regen begonnen hatte, während früher in der teutonischen Zeit alles der Art gezwungen und gemacht war. Die Stunde schien mir geschlagen zu haben, wo es unfruchtbar wird, einer abgezogenen und rückgezogenen Wissenschaft zu leben, wo es Pflicht ward, in das unberathene Treiben des Tages auch mit einer geringen Einsicht und Begabung einzutreten, wo der Geschichtschreiber zumal den Selbstzweck seiner Wissenschaft klüglicher aufgebe und mehr für den gegenwärtigen Augenblick arbeite. Ich stand nun in dem Alter, wo Grundsätze reisen müssen, wenn ein Fruchtansatz dazu da ist, und wo eine Entscheidung nöthig wird sie zu bethätigen, wenn ein Beruf gefühlt wird, sie nutzbar zu machen.[289] Und diese Grundsätze wiesen mich im Einklang mit meinen Neigungen und meinen gewonnenen geschichtlichen Einsichten doch mehr auf diese praktischen Wege als auf die der Kunst und der abgezogenen Wissenschaft. Daher kam es, daß ich mich neben jenen poetischen und philosophischen Versuchungen, von welchen ich berichtete, früher und stärker noch von dieser dritten Seite her zu einem unmittelbaren Eingreifen in die gegenwärtigen Verhältnisse von Volk und Vaterland angelockt fühlte.

Auch von der Thätigkeit nach dieser, wie die beiden anderen zwar auch nur vorübergehend verfolgten Richtung hin liegen öffentliche Zeugnisse vor. Ein üppiger, fast krankhaft überspannter, bis zum Muthwillen gesteigerter Schafftrieb zertheilte mich in jenen Jahren einer sprudelnden Arbeitskraft unnatürlich auf die verschiedensten Dinge. Ich schweige von een Heften und den Vorbereitungen zu meinen Vorlesungen, die begreiflich nicht den kleinsten Theil meiner Zeit ausfüllten; ich schweige auch von dem Brüten über mehreren Riesenplanen, die mein ganzes Leben anders und anders bestimmt haben würden, unter denen einer meiner damaligen Freunde den Gedanken an eine Weltgeschichte in einer philosophischeren Anlage als die Schlosser'sche »des Schweißes der Edlen« besonders werth fand. Ich rede nur von dem wirklich Begonnenen oder wirklich Ausgeführten. Neben dem Probegesang der Gudrun, neben der Historiographik, neben den Anfängen der Dichtungsgeschichte erschien damals eine Vorarbeit zu den letzten Theilen dieses Werkes, die Brochure über den Göthischen Briefwechsel (1836); in den Blättern für literarische Unterhaltung ließ ich gleichzeitig (1836) Entwurf und Probe zu einer Geschichte der Zechkunst veröffentlichen. Ihre Fortführung und Vollendung wurde von meinem Freund Verleger eifrig betrieben, mit welchem ich (was meinem Gedächtniß ganz entfallen war) nach vorliegenden Briefen zur selben Zeit auch schon über einen »satirischen Roman« unterhandelte; dem ich ferner Aussicht geben konnte auf eine Sammlung politischer Xenien, und[290] der zunächst, und dies schon im März 1834, noch vor Erscheinung des ersten Bandes der Dichtungsgeschichte, auf »meine Lieblingsidee« eingehen mußte, von einer anonymen Zeitschrift, die deutschen Jahrbücher, einige Probehefte zu drucken. Ich hatte mich über dies kecke Unternehmen, um durchaus nur mit einem kleinen Häuflein Gleichgesinnter zu beginnen, mit Niemandem benommen als mit meinem Collegen Dr. Baumstark, der später in Eldena-Greifswalde eine angesehene Stellung einnahm, und mit Bercht in Frankfurt, der sein Versprechen eifrig mitzuarbeiten nicht hielt, obwohl er mit Frende auf den Plan der »neuen Literaturbriefe« einging, die, wie er schrieb, den Philistern den Pelz waschen und sie recht ordentlich naß machen sollten. Die Zeitschrift sollte, wie die Ankündigung sagte, aus der Zahl der bestehenden Journale in Stoff und Form, aus ihrer herkömmlichen Charakterlosigkeit durch eine feste, grundsätzliche Haltung heraustreten. Sie sollte der strengen und ernsten Wissenschaft, dem unveräußerlichen Eigenthum der Deutschen, gewidmet, von aller speculativen Philosophie aber und zunftmäßigen Gelehrsamkeit abgekehrt sein; sie sollte lauschen auf die Mahnungen ces Vaterlandes, in dem ein neues, ungeduldiges Interesse an dem politischen Leben erwacht sei, auf die Bedürfnisse der Gegenwart, die aus Fremde, aus Alterthum, aus aller vagen Allgemeinheit in den Wissenschaften zurückrufe; sie sollte daher sich zuwenden allen Lesern, die das Leben nicht von dem Wissen, das Wissen nicht von dem Leben getrennt sehen wollten, und aller lebenvollen schriftstellerischen Wirksamkeit, welche die Einsicht in die Lage der Welt und das Verständniß der Zeit zu fördern geeignet sei und die Wissenschaft mit den dringenden Forderungen der Gegenwart in Einklang zu bringen verstehe. Es war eine gleichmäßige Kriegserklärung gegen das junge Geschlecht »mit der Welt unversöhnter, mit Idealen oder Phantomen ringender Leute«, die neuen Apostel der Freiheit, die gegen alles Bestehende negirend anfochten, wie gegen die Dunkelmänner der Gelehrtenwelt, die in altem Herkommen,[291] in sterilen Stoffsammlungen, in unfruchtbaren Theorien befangen blieben; gegen literarischen Jacobinismus wie gegen gelehrtes Kastenwesen und Schuldespotie; gegen die Romantik, die in Kunst und Wissenschaft die Schranken alles Volksthümlichen übersprang, wie gegen die reine, absolute Wissenschaftlichkeit, die einen Niebuhr dem Leben so entfremdete, daß ihn die Julirevolution völlig aus seinem inneren Gleichgewichte geworfen hatte, wie einst Göthe die Revolution von 1789. In einem vollen Gegensatze hierzu, in einem vollen Einverständnisse mit der Bewegung von 1830 war die politische Tendenz der Jahrbücher dahin bezeichnet, daß sie für die besonnene Wiederaufnahme der gesunden Ideen der französischen Umwälzung eintreten sollten, nachdem die Versuche sie alle, die heilsamen wie die verderblichen, abzudämmen gescheitert waren. Unter meinen Beiträgen ist in dem Aufsatze über Universitätsreform die praktische Tendenz am unmittelbarsten zu erkennen, in dem Gegenstande an sich wie in dem Grundgedanken, den ich noch heute festhalten würde. Als Kern der inneren Verbesserungen, auf die der allgemeine Ruf drang, ward gemeinhin die Forderung strengerer Wissenschaftlichkeit gestellt unter heftigem Aneifern gegen das einseitige, nüchterne Brodstudium; dem war hier Rechnung getragen in dem Antrag auf Gründung von Zwischenschulen zwischen Gymnasien und Universitäten, welche, die allgemeine Ausbildung fördernd, zugleich den Studirenden zur freien, bewußten Wahl seines Berufes anleiten sollten, wogegen dann auf den Hochschulen die gewählte Wissenschaft nur um so praktischer und fachmäßiger betrieben werden sollte. Noch sprechender für meinen persönlichen Rücktritt aus der reinen, sich selbst genügenden zu der praktischer bezogenen Wissenschaft ist meine Beurtheilung der Politik von Dahlmann (in den lit. Unterhaltungsblättern. 1836), in der ich im Eingang meine eigenen Gedanken von einer geschichtsphilosophisch begründeten Politik angab, aber mit dem ausgesprochenen Beifall, daß Dahlmann in seinem Werke, das schon auf dem Titel den strengen Bezug auf die[292] gegebenen Verhältnisse ankündigte, jenes Weges nicht gegangen war. Diese Recension war indessen erst druckfertig geworden, als die Jahrbücher bereits wieder aufgegeben waren. Das Unternehmen hatte keinen Fortgang. Ich selbst war in umfangreichen Arbeiten begriffen, die alle Zeit und Kraft in Anspruch nahmen; die Mitarbeiter aber blieben aus, und daran mag ein Aufsatz über Börne die Hauptschuld getragen haben, der ein Stoß in das Wespennest des jungen Deutschlands war und die ganze schreibende Jugend zurückschrecken mußte, die sich bald nachher um eine gleichbenannte Zeitschrift von tumultuarischerem Charakter versammelte, und aus der uns die geordneteren Köpfe zur Fortführung der Jahrbücher unentbehrlich gewesen wären. Für die doppelseitige Stellung der Blätter wäre jener Aufsatz (der im Alter von kaum 30 J. ganz in dem gleichen Sinne geschrieben war, in dem ich mit mehr als 60 J. in dem 8. Bande des 19. Jahrhunderts die Vorläufer der revolutionären Literatur der 30er Jahre beurtheilte) besonders charakteristisch geworden, wenn die nothwendigen Gegenstücke dazu erschienen wären. In dem Aufsatz über Universitätsreform war in einer längeren Auslassung über die Karlsbader Politik gegen den Obscurantismus der Regierungen entschiedenere Stellung genommen, als in dem Abdruck zu erkennen ist; denn die Stelle war größtentheils gestrichen worden. Eine beabsichtigte Sammlung politischer Xenien aber, die uns der jungen Literatur nahe genug gerückt hätte, kam während der kurzen Existenz der Zeitschrift nicht zu Stande und blieb nachher verzettelt liegen.

Diese Xenien, ganz von dem Geiste der Julirevolution gezeugt und genährt, waren eine Collectivarbeit, für die mehrere junge Freunde die Beiträge steuerten, welche in jenen Jahren mit mir zusammen lebten und strebten. Ein junger Berner, v. Manuel, von patricischer Abstammung, aber von früh auf den aristokratischen Ordnungen abgeneigt und schon auf der Schule in poetischer Satire gegen ihre Misbräuche geübt, war der erste unter ihnen. Er war[293] zu einer solchen praktischen Poesie ganz wie geschaffen; denn er war dem thätigen Leben, dem staatlichen Treiben mit aller Theilnahme zugekehrt, aber ohne viel Eifer selbst mitzuthun; dagegen stets voll wohllaunigen Muthwillens, es mit scharfen Sinnen zu kritisiren. Fär die Gesundheit seiner Urtheile, für eine klassische Form ihrer Fassung ging er in die trefflichsten Schulen. Er war ein Leser von unersättlicher Begierde. aber dabei von ganz epikureischem Feingeschmack; ein Grieche mit Leib und Seele schwelgte er in allen Klassikern des hellenischen Alterthums und streifte von da aus weiter in alle Meisterwerke der Rechtskunde, Politik und Geschichte unter Deutschen, Italienern, Engländern und Franzosen vorwärts in die mittleren und neueren Zeiten; er war in der Ausschließlichkeit, in der er dem Besten aller Literaturen zum Besten seiner eignen Ausbildung nachstrebte, ein raffinirter Egoist, und doch lebte er ganz in den Schicksalen der Welt und im besonderen seines Vaterlandes. So war er ganz vorgeschult, in meine politischhistorischen Ansichten von den Zeitverhältnissen einzutreten und selbst auf meine versteckteren Grillen einzugehen; er las meinen Machiavelli mit heller Freudebezeugung und hing mir bis in die spätesten Jahre freundschaftlich an, noch oft in seinen Briefen der Heidelberger Punschabende gedenkend, wo ich ihm in angeregtem Austausche »welthistorische Parabeln und Cirkel zeichnete«. – Nach ihm kam im Herbst 1834 Georg Beseler nach Heidelberg, damals wie sein Bruder Wilhelm ein begeisterter Anhänger Lornsen's und der Unabhängigkeitsbestrebungen der Schleswig-Holsteiner. Schon ein Jahr später verließ er Heidelberg wieder, einem Rufe nach Basel folgend: die kurze Zeit aber reiste die innigste Freundschaft zwischen uns zwei jungen Menschen, die sich seltsam überrascht bei ihren Unterredungen überall auf den gleichen sittlichen und politischen Gesinnungen, gelegentlich wohl mit den gleichen gleichzeitig ausgestoßenen Ausdrücken begegneten. Er war mir von Dahlmann's geschickt und wie auf die Seele gebunden, die mir von ihm in[294] Ausdrücken der wärmsten Liebe schrieben, denen Er wieder von mir als dem lange vergebens gesuchten Freunde schrieb, mit dem ihn eine seltene Uebereinstimmung der Neigungen und Gedanken rasch verknotet habe. Entschiedener Freisinn bei einer ausgesprochenen Richtung auf das Positive, die selbstlose Denkart, in der er nur den kleinsten Theil in uns unser eigen nannte, da er uns im Dienste eines mächtigen Gebieters, des Vaterlandes, stehen sah, das die ganze Kraft unserer Seele für seine Noth in Anspruch nahm, die frische, wohlgemuthe Naturart voll Zuversicht, das alles rückte ihn mir augenblick (ich, nicht am wenigsten in Beziehung auf das politische Sinnen und Trachten, ganz nahe und machte ihn auch gleich bereit, zu den Xenien seine Contingente zu stellen, die ich zum Theile noch in den Händen habe. Der Gedanke zu dem Werke, das »seine erste That« sein sollte, zu einer Kritik der deutschen Jurisprudenz, zu einer Hinweisung auf die Mittel und Wege, der Nation zu einem natürlichen Rechtszustande zu helfen (Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig 1843), sprang schon damals während unseres Verkehres in Heidelberg in ihm auf. – Zu uns beiden stieß dann noch Karl Hegel, an dem wir, nicht für die Xenien, auch nicht für unsere politischen, wohl aber für unsere historischen Tendenzen eine erwünschteste, werthvolle Eroberung machten. Er kam nach Heidelberg, Theologie zu studiren, in Wahrheit aber die Philosophie, in die er unter seines Vaters unmittelbarer Anleitung eingeweiht war. weiter zu pflegen. Am Mittagstische im Museum war ich eine Weile sein Nachbar; eine nähere Bekanntschaft entspann sich; er fand sich in unseren Unterhaltungen von dem Gegensätzlichen in meiner geschichtlichen, in seiner philosophischen Weise Welt und Wissenschaft zu fassen gestoßen, aber angezogen; bald konnte ich merken, wie er anfing Feuer zu fangen, wie hinter seinen Widersprüchen oft die Absicht erkennbar ward, sich seine herkömmlichen Ansichten vom Halse zu schaffen und mit den unsrigen zu tauschen; in meinem Rücken nahm er Partei für mich, wo er[295] mir ins Gesicht sie gegen mich hielt. Er lernte Schlosser kennen, dessen Universalgeschichte er mit Spannung las, dessen Vorträge er mit Bewunderung hörte, dessen starke, reiche Persönlichkeit, dessen gediegener, fester Charakter, dessen reines, edles Gemüth ihn im häuslichen Verkehre, in der privaten Lectüre des Dante immer inniger fesselten; seine Anerkennung dieses Mannes ward noch überzeugter, als er später in Berlin bei Ranke »alles mögliche Volk um die Geschichte wie um eine schlechte Dirne buhlen«, und von dem Lehrer »junge Fachhistoriker in die Kenntniß der Quellen mittelalterlicher Geschichte einweihen sah, mit der sie dann das Zeug zum Geschichtschreiber zu besitzen meinten«; denn Er hatte durch Schlosser und die antiken Historiker höhere Begriffe von Geschichte fassen gelernt, so hohe, daß er sogar, der Sohn dieses Vaters, trotz allem Widerstreben unserer Ueberzeugung ward, es sei die Philosophie für uns nicht an der Zeit, und daß er, sobald er diese Ueberzeugung gewonnen, sich dann ganz in das Studium der Menschheitsgeschichte warf, um, so schrieb er mir aus Berlin bald nach seinem Weggang aus Heidelberg, »um das für unsere Zeit Nothwendige und Thunliche einsehen zu lernen«. – In einem so lebendig anregenden Umgange nun erklärt man sich leicht, wie wir auf den kecken Gedanken fielen, in die neue Stauung und Stockang des politischen Lebens mit unserer beulensammlung eine Leuchtkugel, vielleicht eine kleine Brandfackel zu werfen. Allein die Zerstreuung der Personen an verschiedene Orte, auf verschiedene andere, anstrengende Thätigkeiten vereitelte die Absicht. Aus den mir angehörigen benien haben zwei Gruppen, das Beste wohl, was sich darunter findet, den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden (Gervinus und seine politischen Ueberzeugungen. Leipzig 1853. Seite 20 ff.). Ich lasse auch sie hier im Anhang (IV) dieses Bandes als eine Probe abdrucken; die ungesichtete Masse der übrigen, z. Th. nur roh hingeworfenen Epigramme verdient keine Erhaltung. Die Zweiseitigkeit und Zweischneidigkeit unserer Tendenzen ist auch in diesen Xenienproben[296] zu erkennen wie in meinen Aufsätzen in den deutschen Jahrbüchern und den Blättern für lit. Unterhaltung, die in meinen kleinen historischen Schriften (Leipzig 1838) gesammelt dem Publicum vorliegen.

Bei einer so eifrigen Hingabe an die öffentlichen Dinge, sollte man nun denken, wäre mir nahe gelegen, ich hätte meine schriftstellerische und lehrende Thätigkeit irgendwie in voller und bewußter Ueberlegung auf die rein politische Bahn gelenkt. Aber das war in jenen Jahren doch schwerer, als man meint. Der Rücksturz aus dem kurzen Anfall von politischem Bestreben in Deutschland in die Lethargie war bereits wieder erfolgt; man schrieb und schrieb aufs neue; die revolutionäre Einwirkung der Juli-Bewegung von 1830 auf die deutsche Literatur war mit den Händen zu greifen und in voller Fortwirkung begriffen, ihr Einfluß aber auf das politische Leben wich seit 1833 wieder der Reaction; so war nichts natürlicher, als daß ich mit der zweifelnden Zeit selber zweifelhaft wurde. Die Folge war, daß ich bei der Entscheidung über die erste größere Arbeit, die ich unternahm, den Zufall walten ließ. Wie vielmal mögen unter Großen und Kleinen die Lebenswege auf solche Weise bestimmt worden sein! wenn doch selbst ein Göthe zu jenem Messerwurfe griff, als er sich zwischen den bildenden und redenden Künsten nicht zu entscheiden wußte! Wilhelm Engelmann, der als Geschäftsführer der Varrentrapp'schen Buchhandlung den Band über Machiavelli und die Aragonische Geschichte gedruckt hatte, hatte mir Mitte Juni 1833 schon den brieflichen Antrag gemacht, den er bald nachher persönlich in Heidelberg wiederholte, ihm meine nächste Arbeit in eignen Verlag zu geben, da er im Begriff war in Leipzig das elterliche Geschäft zu übernehmen. Ich war das zufrieden und gab ihm die Wahl unter drei Gegenständen, zwischen welchen ich schwankte. Der erste war eine kurzgefaßte Geschichte der europäischen Staaten nach dem oben erwähnten Plane, die ganz im Dienste der strengen historischen Wissenschaft wäre geschrieben gewesen. Der zweite war[297] die gleichfalls schon oben berührte Politik auf geschichtlicher Grundlage, deren Entwurf ich wenig später in der Anzeige von Dahlmann's Politik dahin angab: aus der ungeheueren Summe der flüchtigen geschichtlichen Erscheinungen das Gesetzliche und Allgemeine heraus zu greifen, aus den Staaten den Staat zu erklären, ein politisches System aufzustellen, das gleichbedeutend mit einer Geschichte des Staates und zu einer Philosophie der Geschichte der nöthigste Grundstein sein sollte. Der dritte Gegenstand, über den ich in Heidelberg mehrmals las, war eine Geschichte der deutschen Dichtung. Das letztere Werk warf mich vor den anderen in die unmittelbare Gegenwart hinein, die bereits ganz wieder von der Politik in die Literatur hinübergelenkt war; dies war es wohl, was den Verleger für dieses Erbieten am geneigtesten machte. Mich selbst zog der Gegenstand von allen möglichen Seiten an. Er warf mich mitten in die Welt der Poesie hinein, die immer so viel Anziehungskraft auf mich übte; die Aufgabe war die des Geschichtschreibers, der aber doch in Materie und Methode sich die Verbindung mit den beiden nachbarlichen Disciplinen offen halten konnte, die ihn nicht losließen; es war ein höchst nationaler Stoff, der in sich durch die Vollendung unserer klassischen Dichtungsperiode geschichtlich vollkommen abgeschlossen war; selbst die politischen Zwecke, die mir vorschwebten, waren mit dem scheinbar unverträglichen Gegenstande keineswegs unvereinbar. Ich schrieb das Werk von vorn herein in der Tendenz, den Deutschen zu zeigen, daß alle ächten Lorbeeren, die sie auf dem Felde der Dichtung zu pflücken hatten, vorläufig eingethan seien; ich schrieb die erste Zeile mit der Aussicht auf das letzte Blatt des Werkes; denn grade die gewaltsamen Zuckungen unserer Literatur in Folge der neuen politischen Reaction, die Zerrissenheit der Geister, die Untergrabung der alten guten Sitte und Wissenschaft überzeugten mich täglich mehr, daß auch die Zeit der guten alten Kunst vorüber war, wenn auch die Zeit der staatlichen Entwickmugen in Deutschland noch so weit[298] ausstehen sollte. Daß ich mich für die politisch-patriotischen Zwecke, die mich so stark bewegten, mit der Wahl dieses Stoffes auf einen weiten Umweg begab, das wußte ich sehr wohl; der Gang der öffentlichen Dinge bewies aber, in wie richtigem Takt ich voraussah, es werde damit nichts wesentliches versäumt sein; ich hatte das deutliche Gefühl, daß die negativen Richtungen, die unsere politische Existenz verzögerten, mit keinen zu umständlichen Anstalten bekämpft werden könnten. Ich wußte auch, daß ich mit einer so kolossalen Unternehmung den Plan meines Lebens schon in so jungen Jahren gleichsam abschlösse; und – der Schüler jenes Schlosser, der selbst bei seinen trockenen historischen Werken wie ein Poet stets an eine Art Inspiration glaubte – hatte ich sogar die Empfindung, daß es unnatürlich sein möchte, in solcher Jugend ein großes wissenschaftliches Werk aus so bewußter Absicht zu entwerfen und ein ganzes Leben im Voraus wie systematisch zu bestimmen. Aber was den ersten Punct betrifft, so hatte ich mir aus Machiavelli's Weise abstrahirt, daß, wenn zwar für den Dichter das Brechen vom Baume der Erkenntniß ein lebensgefährliches Wagniß, ein Narcissus-Tod sein möchte, der Ful doch anders ist bei dem Historiker, der den Verlust des Paradieses um diesen Preis ertragen muß. Und was den zweiten Punct angeht, so trifft es sich glücklich, daß ich ihn mit einer Stelle erörtern kann, die ich in jener Zeit in einem vorübergehend geführten Notizenbuch niedergeschrieben habe. »Ich selbst, so lautet sie, würde vor einem so schematisch angelegten Leben schaudern, wenn ich nicht aufs tiefste empfände, daß, wie sicher mich die Sterne leiten, wie fest mich der Compaß weist, wie stark ich das Steuer zu halten glaube, ich doch auf dem Meere der Dinge schwimme, allen Winden und Wellen preisgegeben. Ich werde mich gegen keine eigenwillig stemmen, ich hänge an keinem Porte mit Eigensinn, ich lasse mich dahin werfen, wohin der Zug des kosmischen Zwanges geht. Und wenn es der ewigen Vorsicht gefällt, das Fahrzeug früher zu brechen, ehe es zu der einen oder[299] der anderen Zielstätte gelangt ist, so schwinde ich mit der innigen Ueberzeugung, daß es so das Beste ist, wie sie will, nicht wie ich will.«

Quelle:
G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 269-300.
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