Die Schuljahre.

Wenn man durch die Kirchstraße in Darmstadt von dem Marktplatze aus nach der Stadtkirche geht, so hat man am Schlusse der Häuserreihe rechts ein unansehnliches Eckhaus, das ehemals die Amtswohnung des geistlichen Superintendenten war. Daneben steht ein Häuschen von nur drei Fenstern Breite, dessen Hintergebäude, Hof und Garten sich in etwas erweitertem Raume ziemlich tief bis an die alte Stadtmauer zurückschieben. In diesem kleinen Besitzthume meiner Eltern bin ich am 20. Mai 1805 geboren. Die weitere Familie, die Verwandtschaft meiner Eltern, war in nächster Nähe angesiedelt. Zwei Brüder meines Vaters wohnten der Eine zur Miethe bei uns selbst, der Andere schräg gegenüber in einem noch bescheideneren Hausbesitze. Meiner Mutter Bruder (Schwartz) und Schwester, in deren Kinderkreisen mein frühester Jugendverkehr war, hatten ihre Wohnung auf dem nahen Markte; die letztere Familie führte damals wie noch jetzt die angesehenste kaufmännische Firma (Zöppritz) in Darmstadt. Ihrem Kaufladen gegenüber lag das Familienhaus der Merck; das Haus grade gegen uns über in der Kirchstraße gehörte dem Sohne des Geschichtschreibers Wenck; in der Superintendentur neben uns zeigte man mir frühe von unserem Hofe aus das Fenster einer Stube, in der Lichtenberg gewohnt hatte, als er das Darmstädter Gymnasium besuchte, wo sich seine Knabenwitze in lebendiger Ueberlieferung fortpflanzten. So war ich von früh auf von allen den Namen nahe[1] umgeben, die meiner aufstrebenden Vaterstadt damals in der Geschichte des deutschen Geistes mehr als Einen Ehrenplatz gewannen.

Meine Eltern waren einfache Bürgersleute, die zu Zeiten, wenn die Ungunst der öffentlichen Verhältnisse auf das Gewerbsleben drückte, der Armuth näher als dem Wohlstande lebten. Mein Vater war der derbe Sohn eines derberen Erzeugers, von dem harten Schlage einer in den strengsten bürgerlichen Ueberlieferungen lebenden Familie. Ich erinnere mich noch dunkel des Großvaters, wie er im Hause des Onkels am Fenster zu sitzen pflegte in dem stummen Ernste eines hohen, unbeweglichen Alters. Seine drei Söhne waren Naturen von einer Stärke der Charakterprägung, und zugleich von einer Gegensätzlichkeit, die nicht größer und schroffer erdacht werden könnten. Der jüngste, Joseph, der in unserm Hause eine kleine Langwaarenhandlung betrieb, war ein tadelsüchtiger, saurer Sonderling, den seine ungehobelten Formen und eine rauhe Ehrlichkeit zu seinem Geschäfte so untauglich wie möglich machten. Durch Erfolglosigkeit zuerst, und dann auch durch unverschuldetes häusliches Unglück ward er in ein finsteres Mistrauen, in Menschenfeindschaft und Weltverachtung gestürzt und verkam zuletzt, allem Geschäftsleben entsagend, in mürrischer Einsamkeit in so nöthigem wie natürlichem Geize. Der mittlere Bruder, Paul, in dem Häuschen gegenüber, war dagegen unter einem heitersten Sterne geboren, eine grundfröhliche, aufs glücklichste begabte Natur. Der Betrieb eines harten, und nicht des reinlichsten Handwerks hatte ihm die zierlichste Geschicklichkeit im Schönschreiben, im Zeichnen, in Handarbeiten aller Art nicht beeinträchtigen können; er war von gewinnendem Wesen, von großer Wohlredenheit, von stets gleicher Wohllaune und Wohlmeinung gegen alle Menschen; dabei von so verschwenderisch offener Hand, daß er an dem entgegengesetzten Uebermaße, an unbedachtsamer Freigebigkeit, an unvorsichtigem Vertrauen und sorgloser Geschäftswaltung noch im hohen Alter zu Grunde ging, ohne selbst dann in die Timonie seines jüngern[2] Bruders verfallen zu können. Der älteste der drei Brüder, Georg Gottfried, mein Vater, war aus diesen beiden Elementen aufs seltsamste wie zu gleicher Hälfte gemischt. Die Natur hatte sie in ihm niedergelegt, die Schicksale hatten sie wechselnd zu verstärken nachgeholfen. Beide älteren Brüder hatten gemeinsam eine Gerberei von ihrem Vater überkommen, die in den Kriegszeiten, selbst wenn die Lasten am drückendsten waren, ihre Betreiber wohl versorgt erhielt; als aber nach dem Kriege dies Gewerk unter den plötzlich veränderten Sitten und Trachten der neuen Zeit zu stocken begann, kamen schwere magere Jahre, bis sich beide Brüder in weit vorgerücktem Alter noch entschlossen umzusatteln und, auf ihre seinen Weinzungen vertrauend, Wirthe zu werden. Der jüngere that diesen Schritt zuerst und wohlgemuth, der ältere trotz Jahre langen Vorbereitungen später und schwer, und selbst die entschiedensten Erfolge des neuen Geschäftes konnten nicht den dunkeln Schatten scheuchen, den diese Nöthigung auf sein Leben warf; auch gab er, wenn gleich die Lederfabrikation, doch den Lederhandel nie gänzlich auf. Denn seinen bürgerlichen Ehrgeiz peinigte der Gedanke, auch nur den Schein einer Schuld an dem Rückgange seines Gewerbes zu tragen; er konnte jeden Zweifel erdulden, nur nicht den an seiner geschäftlichen Kenntniß, Gewissenhaftigkeit und Redlichkeit, die auch in der That jede Probe bestanden. Diese Wandlungen der äußeren Lage nun nährten begreiflich den Wechsel der verschiedenartigen Launen, Stimmungen und Hänge, die dem Manne natürlich waren. Er wurde durch üble Erfahrungen mistrauisch gemacht wie sein jüngster Bruder; aber zu wem er einmal eine Neigung gefaßt, dem that er, gab er, lieh er Alles wie sein nächslattriger Bruder in nur zu großem Vertrauen; er konnte hart, heftig, jähzornig im höchsten Grade werden, doch rühmte er sich nicht mit Unrecht im Grunde seines Herzens ein »guter Kerl« zu sein, der, wenn er lärmend ein Unrecht gethan, es schweigend wieder zu vergüten suchte; im Hause war er von der Plage des Tages leicht[3] verstimmt, außerhalb immer guter Dinge; jetzt wortfeind, mürrisch und kurrig wie der eine Bruder, dann wie der andere der beliebteste, launigste Gesellschafter, zu allen Späßen, Quertreibereien und selbst Kindereien aufgelegt; er konnte einmal, wenn die Noth es gebot, wie jener knickerig festhalten, ein andermal ließ er wie dieser, wenn der Stand der Dinge es gestattete, fröhlich etwas draufgehen. Mit der reizbaren und heftigen Seite seines Wesens hat er seinen Söhnen, als sie in das Alter des Eigenwillens, der eignen Wünsche und Bestrebungen kamen, viele trübe, peinvolle Tage gemacht; für die Zeit ihrer ersten, harmlosen Kindheit war er, wie es die Art solcher Charaktere ist, der beneidenswertheste Vater. Wenn er des Morgens, in guter Laune erwacht, das Dehnstündchen aus dem Bette mit uns zu vertändeln geneigt war, weckte er uns wohl und trieb uns aufzustehen mit einem neckischen Gesang, mit einem soldatischen Reveillevers, mit Reminiscenzen aus seiner Lectüre, auch mit humoristischen Reimsprüchen eigner Fabrik; wenn er an Winterabenden zu Hause blieb und sich beim Ofen niederließ, und wir konnten schäkernd seine Kniee hinaufklettern, wie wohlig war uns da, wenn er unsere Backen wechselnd liebkoste oder mit seinem borstigen Barte bedrohte; dann erzählte er uns wohl die landläufigen Mährchen, die mir später in Grimm's Sammlung zum Theile alte vertraute Bekannte waren, in dem geschicktesten Vortrage: launig, spannend, lauschend, ob wir den Sinn oder Unsinn faßten, innerlichst ergötzt über unsern Glauben oder Unglauben, unsere Furcht über die Verwicklungen oder unsere Freude über den Ausgang der Geschichten. Ost hatte er Geschäfte auf umliegenden Dörfern oder auf der Frankfurter Messe; welcher Jubel, wenn wir in diese fremden Welten mit durften, wenn wir ihm bei längerer Abwesenheit entgegen kommen, ihn abholen durften, wenn es zur Herbstzeit in die Bergstraße ging, wo er mit Scherzen zu belustigen, mit Erzählungen und Belehrungen zu fesseln unerschöpflich war. Das frohe Kinderfest der Weihnacht anzukündigen, vorzubereiten, mit[4] kleinen Gaben reich und nachhaltig zu machen, das verstehen heute Wenige mehr so gut wie der Vater und der Onkel Paul. Beide Brüder nahmen sich zwischen all ihren Geschäften die Zeit, uns Spielzeuge aller Art zu wählen und selbst zu verfertigen; lange Jahre wurde eine Darstellung der neuen Stadttheile aufgehoben, die uns der Onkel in Pappe gefertigt hatte; das gruppirte sich um das alte Mainthor; der Schlagbaum war an der Kette herabzulassen; in dem ganz ausgeführten Wachthause lag der Zöllner am Fenster, die hereinfahrenden Frachtwagen anzuhalten; die Soldatenwache war vollzählig aufgestellt, die Gewehrständer bis zu der kleinen Trommel nicht vergessen, die man dem Tambour umhängen konnte; daneben war der langen, bis auf Stock und Fenster genau aufgenommenen Louisenstraße gegenüber der neue Marstall im Bau mit Gruppen von arbeitenden Zimmerleuten und Maurern. Mit diesen zierlichst vollendeten Sachen war dann immer rohes Material, Unfertiges, begonnenes Hinzugehörige verbunden, um den Fleiß und Nacheifer zu wecken, um möglichst dauernde Nachfreuden an das Fest zu knüpfen. Unter den Geschenken fehlte es selten an anregenden Büchern; darunter war mir für viele Jahre ein geschichtliches Werkchen mit biographischen Skizzen von Griechen und Römern vorzugsweise lieb geworden, das mir so starke Eindrücke hinterließ, daß ich mich noch heute aller Bilder und einzelner Stellen bis auf einzelne Worte und Wendungen erinnere. Die geschickte Wahl dieser Bücher war nicht Zufall, sondern Verdienst des Vaters, der ein sehr belesener Mann war. Er hatte in seiner Jugend das Gymnasium unter dem trefflichen Wenck besucht, den er im ehrenvollsten Andenken hielt; er hatte auf Reisen mancherlei Anregungen und Interessen erhalten; an Tagen der Erholung oder der Geschäftslosigkeit füllte er seine ganze Zeit mit Lectüre aus. In den Jahren seiner unfreiwilligen Müßigkeit begann er einmal mit den Werken von Walther Scott sich selbst eine Büchersammlung anzulegen; schon zuvor aber hatte er eine kleine Leihbibliothek fast ganz ausgelesen;[5] davon waren die stets lebendigen Zeugen die vielen neckischen Benennungen und Anspielungen, Reimstellen und Citate, die er bei redseliger Laune im Munde führte, und zu denen ich später nicht selten bei unsern Klassikern, besonders oft meinte ich bei Wieland, die Quellen entdeckte. Die Wirkung dieser Art Bildung sah man dem sonst ganz praktischen und immer in seiner Sphäre beharrenden Gewerbsmanne nicht leicht ab, obwohl sie gelegentlich sehr in die Augen fallen konnte. Einmal traf er auf einer Geschäftsreise mit dem Pfarrer Dittenberger aus Heidelberg zusammen, mit dem er sich lange unterhielt; in Mannheim bei Tisch stieß der geistliche Herr mit ihm an auf das Wohl des »Herrn Amtsbruders«, der ihn lachend bedeutete, daß er doch wesentlich nur mit dem leiblichen Wohl seiner Heerde beschäftigt sei. Ein seiner Kaufherr, der ihn in dem Kreise seiner Mitbürger hatte kannegießern hören, sagte mir einst: »Unter diesen Leuten ist Ihr Vater wie ein Professor«. In diesem Fach war er aber auch vor Andern wohlbewandert. Er war ein regelmäßiger und ein wählerischer Zeitungsleser und politisirte mit einer Lebendigkeit der Theil nahme, die der damaligen Spießbürgerwelt im Ganzen außerordentlich fremd war. Auch in diesen Beziehungen kam seine zweiseitige Natur oft in der auffallendsten Weise zu Tage. Er war wie sein grämlicher Bruder ein großer Lobredner der alten Zeit patriarchalischer Sitte, dabei aber doch wie sein lustiger Bruder ein großer Freigeist, ein erklärter Verschmäher des Kirchengehens und der stereotypen Predigtsalbung; er hing voll conservativer Zähigkeit an altbürgerlicher Tracht und Einrichtung, und doch hatte auch eine zweckmäßige Mode großen Reiz für ihn; es kostete ihm Mühe, bis er die alten, steifen Sessel im Wohnzimmer abzuschaffen sich entschloß; als aber der grüne Tuchüberzug gar nicht mehr halten wollte, machte er einen weiten Sprung in die leichten, gefälligen Stuhlformen des Tages herüber; er rühmte sich, der letzte in der Stadt gewesen zu sein, der den Zopf abgeschnitten habe; aber er that das nicht ohne Humor,[6] und wie wenn doch der erleichterte Kopf auch sein Herz erleichtert hätte. In Bezug auf sein politisches Glaubensbekenntniß habe ich in Göthe's Ab-und Zuneigungen die stärkste Erinnerung an seine Eigenheiten gefunden. Er war, schon aus einem angeborenen militärischen Hange, ein großer, ausdauernder Bewunderer Napoleon's; dabei blieb er doch nicht ohne Herz für die Sache der Befreiung, denn er reihte sich mit willigem Selbstgefühle 1813 in den Landsturm ein, der ihn zwar seinen Zopf gekostet hatte; nur aber mit den russischen Bundesgenossen wollte er sich niemals befreunden. Der folgerichtige Haß, den er dieser Nation trug, riß ihn in die wunderlichsten Folgewidrigkeiten. Er eiferte schnöde über den griechischen Aufstand, den er Secundanerstreiche schalt, und trug in dem russisch-türkischen Kriege 1828 das Bild des Sultans Mahmud auffällig und selbstgefällig auf seinem Pfeifenkopfe; hernach aber hing er in der stärksten Spannung an den Erfolgen der polnischen Kämpfe und wird dann wohl Skrzyneeky auf der Pfeife geführt haben. Von ähnlicher Mehrseitigkeit waren seine Grundsätze in Bezug auf innere, bürgerliche Verhältnisse. Er war ein nüchterner Vertheidiger des Alten, den ausschweifenden Neuerungen der begeisterten Turnerjugend der Befreiungsjahre tödtlich feind; ein strenger Monarchist und loyaler Unterthan, aber der Opposition städtischer und ständischer Körperschaften immer zugethan, ein steter Kritiker und Bekritteler der Regierungsmaßregeln, ein bitterer Spötter über Hofdienst und Hofgunst, über Regierungsdienst und Regierungssold. Auf den Gang meines Jugendlebens war es von dem größten Einflusse, daß dieser Bürgersmann nie müde wurde, seinen Söhnen den Stolz der bürgerlichen Unabhängigkeit, die Verachtung gegen das Leben vom Staate und gegen das Schmarotzen um Anstellung und Beförderung einzuprägen.

Wenn sich aus dieser eigenthümlichen Charaktermischung auf die Nachkommenschaft dieses Mannes die widerstrebenden Elemente seines Wesens vererben konnten, so sollte dagegen die Mutter Alles[7] hinzugeben, was nur auszugleichen, zu binden und zu versöhnen geeignet war. Auch in ihrer Natur lagen manche schwer vereinbare und nicht oft vereinte Eigenschaften nebeneinander, aber sie waren in ein Ganzes voll innerer Harmonie verschmolzen. Sie war eine von den sinnigen, still waltenden Hausfrauen, die einer der kostbarsten Eigenbesitze der deutschen Volksfamilie sind, deren Leben, ganz in der Sphäre des Gemüthes beschlossen, aufgeht in der opferfrohen Sorge, in der uneigennützigen, pflichttreuen Hingabe für Haus und Kind, in der ruhigen Ergebung in die unvermeidlichen Fügungen noch so schwerer Geschicke. Ihr, vor vielen Anderen, waren diese Schicksale nicht leicht gemacht worden. Die Tochter einer angesehneren, senatorischen Bürgerfamilie hatte sie eine gute Schule durchgemacht und hatte schöne Zeugnisse ihres jugendlichen Fleißes und ihrer zierlichen Geschicklichkeit aufzuweisen. Sie mußte schön und bei aller Demuth nicht ohne ein gewisses Selbstgefühl gewesen sein; sie trat in ihre Ehe weniger aus Neigung als aus Fügsamkeit in die Wünsche ihrer Eltern: das gestand sie mir selbst einmal in späten Jahren, bei einer ernsten Gelegenheit, und in einer Weise, die mir eine Seele voll Duldung und sanfter Kraft erschloß. In dieser Ehe war sie nicht glücklich. Die heitren Hoffnungen, mit denen sie in das Leben getreten sein mochte, wurden ihr eine um die andere zerpflückt. Ihre Milde, ihre Stille, ihre wohlgestimmte, einklangvolle Natur fand sich von der Härte und aufbrausenden Leidenschaft, von den Verstimmungen und Ungleichheiten ihres Gatten oft und immer wieder abgestoßen. Sie war nicht ohne einen Stachel des Widerspruchs und des Widerstandes gegen seine Schroffheiten und Launen, mit dem sie ihn auch zuweilen zur Besinnung zwang; aber in solchen seltenen Scenen legte sie wie mit innerem Widerstreben die eigene Natur gleichsam ab; und wo sie ihm ihre schweigende Geduld entgegensetzte, ward ihre Nachgiebigkeit selten gewürdigt, oft übel verstanden und übel gelohnt. In den Nothjahren ward ihre Lage trauriger[8] noch durch die Sorge um den äußeren Unterhalt. Sie sparte und darbte mit dem zufriedensten Sinne; aber was wollte diese Bewachung des Kreuzers verfangen, als die furchtbare Theuerung von 1817, die den Gulden zum Kreuzer machte, zu dem Stillstand aller Geschäfte hinzuschlug und in den unteren Volksklassen Familien auf Familien, Vermögen auf Vermögen zerrüttete! So lernte die Mutter frühe auf jede äußere Freude des Lebens zu verzichten. In der Art, wie sie das that, wie sie ihr mühselig eintöniges Leben ertrug, wie sie – nicht stumpf für das Leid, nicht stumpf für die Luft des Tages – den seltenen Lichtblicken sich in heitrer Vergnüglichkeit hingab, die gewöhnlichen Bürden in klagloser Thätigkeit hinnahm: mit dieser gefaßten, gleichmüthigen Seele erschien sie wie eine Heilige. Sie zog diese Kraft ihrer stummen Entsagung aus der ächtesten Frömmigkeit, die aber von allem Köhlerglauben, von aller Empfindsamkeit und Herzensschwäche gänzlich ledig war. Es war ihr eine ernste Angelegenheit der Seele, am Sonntag Nachmittag ihren Kirchengang zu machen; aber wenn die Pflichten des Hauses abhielten, unterließ sie ihn Monate lang, ohne den geringsten Zweifel, daß sie ihrem Gotte wirkend noch besser diene als betend. Sie gab ein köstlich, wiewohl gänzlich verborgenes Beispiel, wie man sich rührig in den schwersten Lasten des äußeren Daseins bewegen und dabei den ganzen Himmel eines heiligen inneren Lebens im Herzen tragen kann. Wie sie war, hätte sie für ihre vielen Entbehrungen in ihren Kindern allein einen reichen Ersatz gefunden; aber grade in diesem Punkte sollte ihr frommes Gemüth am härtesten geprüft werden. Von neun Kindern starben ihr sieben in frühen Jahren hinweg, darunter ein Mädchen, das ihr besonders theuer gewesen war, dessen Kleider sie bis in späte Jahre bewahrte, um sich über ihnen mit feuchten Augen ihres verlorenen Lieblings zu erinnern. Von zwei übrig gebliebenen Söhnen hatte sie den Kummer, den Einen noch zu begraben, als er ihr schon zwei Enkel gegeben hatte. Es ist ein Volksaberglaube,[9] daß die Kinder frühem Tode geweiht seien, denen die Eltern selber Pathe gestanden; dies schlug in unserem Hause grade umgekehrt aus. Als ich zur Welt kam, war in der Familie nur noch der Onkel Schwartz übrig, der mir hätte Pathe stehen können; die Mutter aber hatte die kleine Eitelkeit, mir nicht seinen Vornamen Adam aufbürden zu wollen; so hob mich der Vater aus der Taufe, und gerade ich sollte von den neun Kindern die Eltern allein überleben. Auf mich nun hatte die Mutter vielleicht etwas von ihrer Vorliebe für die Lieblingstochter übertragen, als ich in frühester Kinderzeit, ihrem gesegneten Einflusse ausschließlich überlassen, ihr Kummer zu bereiten noch nicht fähig war. Aus diesen frühen Jahren, wo sie, der zärtlichen Mutterliebe ganz nachgebend, die Erziehungsmaximen noch ausgesetzt hielt, weiß ich mich einzelner Aeußerungen ihres mütterlichen Wohlgefallens noch in solcher Lebendigkeit zu erinnern, daß ich mir gleichsam die ganze mütterliche Atmosphäre ins Gedächtniß zurückrufen kann. Wenn die sinnige Frau am Sonntag Nachmittag, wie abgeschieden von der Welt, recht wie der Volksausdruck sagt, mutterseelenallein war, das Gesangbuch vor sich, und ich blätterte darin und besah die ausgeschnittenen Bilder und ließ mir sie erklären, den Kopf auf ihrem Schoß, still und sinnend geworden wie sie selbst, dann sah sie mir mit dem ganzen Himmel ihres freundlichen, kinderliebenden Gesichtes in die Augen und freute sich selig des Knaben entgegenkommender Art. Später, in den kummervollen Theurungsjahren, wenn ihr Junge, lebhaft getroffen vielleicht von einer eindringlichen Klage über die Noth im Hause, beim Kaffee schweigend das Stück Zucker liegen ließ, das sie uns zur Tasse zu legen pflegte, so sah sie ihn mit einem von Schmerz und Lust getheilten Blicke an und suchte dem Auge des Vaters zu begegnen, ihn aufmerksam zu machen. Wenn ich ihr in Haus und Hof einen Dienst leisten konnte, that ich es gern, und sie freute sich dessen doppelt; denn im ganzen sträubte ich mich, aus Blödigkeit oder aus einem gewissen[10] ehrgeizigen Tick, gegen alle handlangenden Mägdedienste, Ausläufe und Bestellungen mit dem größten Widerwillen. Diese erste Freude aber an ihrem Jungen sollte der Mutter nicht lange unverkümmert bleiben. Wie viele schwere Stunden bereiteten ihr die Verhältnisse der beiden aufwachsenden Knaben zu dem Vater, der in Uebellaune so oft die natürlichsten Jugendfehler strenger als nöthig nahm und in Ungerechtigkeit sie gerne unzeitiger Nachsicht der Mutter Schuld zu geben pflegte: die diesen Vorwurf wahrlich am wenigsten verdiente. Denn wie eifrig sie auch gegen die Unbilden des Vaters ihre Kinder in Schutz nahm, sie lieferte sie auch eben so streng seinen Rügen und Strafen aus, wo sie sie wirklich verdient sah. Alle Schwäche der Verziehung war ihr ganz fremd. Früh hörte die mütterliche Liebkosung gegen uns auf, wenn sie die Zeit gekommen glaubte, die Zärtlichkeit – nicht vorenthalten, aber verhalten zu müssen. Bezeugungen der Zufriedenheit bekamen wir selten oder nie zu hören von der zucht- und sittenstrengen Frau, deren tiefster Charakterzug Bescheidung und Bescheidenheit war, der die Pflichterfüllung für eine selbstverständliche, des Lobes nicht werthe Sache galt; mir hat daher in all meiner Jugend bei dem ungewohnten Lobe aus Anderer Munde die αἰδοία χάρις immer die Wange geröthet, und bis in mein Alter ist mir eigen geblieben, daß es mir die Augen niederschlägt und daß eitle Schmeichelei mich verstimmt macht. Wenn wir eine Schulbelohnung nach Hause brachten, sie trug uns keine Belobung ein, wohl eher eine schmollende Bemerkung: »Das weiß ich auch nicht, wie du das verdientest«, in einem Tone halben Tadels, den freilich die zufriedenen Blicke Lügen straften. Es mußte in dem Eifer einer gerechten Vertheidigung und in der Gereiztheit des mütterlichen Selbstgefühls gewesen sein, daß sie einmal in Gegenwart des unschuldig verklagten Sohnes in einem von Rührung gebrochenen Tone sagte: »Er ist gut und wohlgelitten«; Worte, die mir nur im Gedächtniß blieben, weil sie meinen Ohren ganz[11] ungewohnte Laute waren. Noch später aber, als ich bei meinem Austritt aus dem Knabenalter aus dem Geleise der gewöhnlichen Lebenswege vielfach ausbog, hatte die brave Frau den Kummer, daß sie wohl langehin in diesem ihrem guten Glauben an meine »Güte« irre wurde, irre an meinem Charakter, schmerzlich besorgt um mein inneres Heil und schwer bekümmert um meine äußere Zukunft. Diese Eine Freude aber sollte ihr doch zu Theil werden, daß sie all dieser Bekümmernisse ganz getröstet ward, daß sie erlebte, den Sohn versorgt und glücklich und seinen Namen selbst im Lande in einigen Ehren zu sehen. Ich weiß, daß ihr das eine Schadloshaltung war für viele Leiden, und daß es ihr Sterbebett sanft gemacht hat. Sie starb, wie sie gelebt hatte. Sie hatte sich Jahrzehnte lang an jedem Geburtstage mit dem Gedanken an ihren Sterbetag vertraut gemacht; sie ging in den Tod wie ein Held, ohne Freude und ohne Furcht, wie immer in stillem Gleichmuthe gefaßt. Sie konnte, wenn sie nicht zu bescheiden dazu gewesen wäre, in dem glüiklichen Gefühle die Augen schließen, daß sie dem nachlebenden Sohne einen fruchtbringenden, lebendigen, dauernden Segen hinterlassen hatte. Was an mir klug sein möchte, hat mir mein Vater vererbt; was an mir gut ist, hab ich der Mutter zu danken.

Aus meiner frühesten Kinderzeit weiß ich mich vereinzelter unbedeutender Dinge zu erinnern, die der Natur der Sache nach zum Theil in die ersten Lebensjahre zurückfallen müssen. So sehe ich mich in dem Zimmer der Tante Zöppritz auf ihrem Schoß, wie sie mir einen Apfel schabt und auf der Messerspitze in den Mund gibt. So meine ich mich des Fallhuts, den ich trug, und meines Sitzes im Kindersessel mit dem einsperrenden Spielbrette noch deutlich zu erinnern. Die Schauplätze meiner ersten Spiele, meinen Schemel in der Wohnstube, alle Ecken und Winkel im Haus und Hof, von den Holzställen bis zu den Speichern, wo ich mit kleinen Geschwistern oder mit den Kindern der Miethbewohner in[12] dem Hinterhause mich umtrieb, der Garten mit der leicht zu erkletternden Stadtmauer, die Spielstätten bei Bruder und Schwester der Mutter auf dem Markte, der Kaufladen besonders, der bei abendlichen Besuchen bei der Tante Zöppritz ein Haupttummelplatz der vetterlichen Jugend war, diese Orte alle sind mir durch einzelne Scenen mit einzelnen Spielgenossen vielfältig belebt im Gedächtnisse. Denn ich weiß es von der Mutter und könnte es aus diesen Erinnerungen wissen, ich könnte auch aus meiner Weise in den späteren Knabenjahren zurückschließen, daß es nicht eine gewöhnliche Spiellust war, die von ganz früh auf mich quecksilbernen Jungen beständig in Athem hielt. Mit dem nahaltrigen Schwesterchen, dem Herzblatt der Mutter, war das Umtollen besonders arg: noch klingt mir aus den Spielen mit ihr der Warnungsruf der Mutter in den Ohren, wie gefährlich man auf dem ebenen Stubenboden fallen könne. Wohl erinnere ich mich auch noch des Krankenbettchens, in dem gleichzeitig mit mir selber dieses Kind an den Rötheln niederlag, an denen es starb. Den Vorbereitungen seiner Bestattung hat man mich Kranken damals natürlich entzogen; aus anderen Beerdigungsfällen, die ja leider so häufig waren, erinnere ich mich wohl noch der schwarzen Männer und der Citronen, die ihnen vertheilt wurden; so sehe ich auch noch die Todtenlade eines anderen, ganz jung verstorbenen Schwesterchens, an dessen Tod sich wieder eine Spielgeschichte knüpft. Während es krank lag, war einem der Vettern Zöppritz, mit dem ich das Haus zu durchtoben pflegte, die Schwelle verboten; als ich ihn nach der Beerdigung zum erstenmal wieder sah, kündigte ich ihm in hellem Jubel an, daß er nun wieder kommen könne, da das Schwesterchen todt sei. Einer andern Mutter hätte solch ein Zug vielleicht Kummer gemacht um die Fühllosigkeit ihres Kindes; die unsere, die von solcher Empfindsamkeit nichts in sich hatte und wohl wußte, daß der Egoismus der verstandlosen Kinderjahre ganz harmloser Art ist, erzählte die Aeußerung nur als ein sprechendstes Zeugniß für die[13] charakteristische Seite meiner Frühjugend, für den ausgelassenen Eifer meines Spiellebens. Diesem Triebe gab ohnehin die Methode der elterlichen Erziehung, auch bis in die spätesten Knabenjahre, absichtlich den weitesten Spielraum. Als der Vater einmal wußte, daß seine Jungen beide, die das Schulalter erreichten, in der Schule ihre Pflicht thaten, kümmerte er sich nicht weiter um ihre Arbeiten, forderte ihnen keine Rechenschaft über ihre Zeitverwendung ab, ließ ihnen zu ihren Zeitvertreiben alle Muße und allen Willen, öffnete ihnen alle Räume im Hause, gab ihnen sehr weite Lauffreiheit außer dem Hause und unterstützte bereitwillig Alles, was sie in Beschäftigung, was sie bei eigenem Schaffen und Erfinden halten konnte. Von den Jahreszeitspielen der Jugend vom Frühling bis zum Herbst, vom Kreisel bis zum Drachen, entging uns nichts, am wenigsten das rohe Material für die selbstzufertigenden Spielzeuge. Die Soldaten, mit denen wir im Zimmer Schlachten lieferten, die Rüstungen und Waffen, mit denen wir uns selber zu Soldaten ausstaffirten, die Bogen und Pfeile oder Wurfstangen, in deren Gebrauch wir uns übten, wohl selbst die größeren Gesellschaftsschlitten eines rohen Baues, mit denen wir an Winterabenden die Straßen durchknallten und durchrasselten, mußten so viel möglich eigener Mache sein. In dem Garten war uns ein Stückchen Land überlassen, das wir mit Blumen, mit bunten Bohnen, mit Kresse und Radischen bepflanzt hielten; bei der Bestellung des übrigen Gartens, die der Vater oft selbst zu besorgen pflegte, waren wir immer zur Hand. Es gab keine Sammlung von naturhistorischen oder anderen Gegenständen, von Steinen, Pflanzen, Schmetterlingen, Eiern, Siegeln, bei der man uns nicht gerne gefördert hätte. Wir schleppten lebende Thiere aller Art zusammen, ohne daß man uns Schwierigkeiten gemacht hätte; wir hatten abwechselnd oder zu Hauf Singvögel in der Stube, Katzen und Hunde im Hause, Tauben auf dem Speicher, im Holzstall bald einen geschenkten Weih, bald einen auf der Stadtmauer gefangenen Marder;[14] im Garten eine große Kaninchenhecke, mit denen wir zu Zeit selbst Handel trieben. Denkt man, daß ein so vielfältig ausgreifender Spielhang schon in den frühesten Jahren so reichliche Nahrung erhielt, so begreift man leicht, daß diese große Freiheit und eigenwillige Bewegung mir einen innerlichen Widerwillen gegen die Schule einflößte, die mir die freie Regung beengen sollte. Meine Mutter pflegte mich zu rühmen, daß es ihr mit mir allein gelungen sei, mich ohne fremde Hülfe das Lesen zu lehren, und mir denkt noch wohl des Klapptischchens am Fenster, wo diese ersten Lernversuche anfangs von ihr begonnen und dann von einem säbelbeinigen Lesemeister fortgesetzt wurden. Meine Lerngeschick lichkeit verschob mir den Schulgang bis gegen mein achtes Jahr; selbst dann noch sträubte ich mich mit so eigensinnigen Thränen dagegen, daß Drohworte und Schläge nöthig wurden, mich den sauren Weg antreten zu machen. Einmal eingerückt lernte ich nun die Schule von gar keiner schreckenden Seite kennen. Ich durchlief zwei Klassen der Stadtschule jede in einem halben Jahre und brachte aus jeder ein Prämium und die Zeugnisse guter Zucht und gewissenhaften Fleißes heim. Ich machte in einem anderen halben Jahre eine Vorbereitungsschule zum Gymnasium durch und trat im 9. Jahre in die unterste Klasse, in Quarta, ein. Auch hier ward mir in allen Zweigen allezeit das beste Lob, wohl selbst in solchen, in denen ich allezeit ein Stümper war und blieb. In den Anfängen der mathematischen Wissenschaften, mit Ausnahme der Arithmetik, blieb ich, vermuthlich mit sehr vielen Anderen, stecken, weil die Lehrer, die sie uns beibringen sollten, selbst nichts davon verstanden; wenn ich es dagegen im Schönschreiben nie zu etwas brachte, so lag dies in meiner eigensten Natur: ich hätte es eben so wenig im Zeichnen, im Malen, im Musikspielen je zu einer großen Fertigkeit gebracht, weil ich zu Allem, was lange technische, mechanische Uebung erforderte, immer untauglich war. Sehe ich von diesen Künsten ab, so war mir das übrige Lernen eine willkommene,[15] zeitfüllende Beschäftigung, eine andere Art von Spiel. Ich war in meinen Ordnungen gewöhnlich der Erste. Ich erinnere mich aus allen meinen Schuljahren kaum einiger Fälle, wo mir Aufgaben und Lernpflichten einige Sorge gemacht hätten; ich besinne mich überhaupt nur auf sehr weniges aus dem Gewohnheits- und Ordnungsmäßigen im Schul-wie im Hausleben; das Treiben mit der Sippschaft meiner Spielgenossen, das mich selbst meinem drei Jahre älteren Bruder in der Schulzeit ganz entfremdete, steht mit einer Fülle von Thatsachen in dem lebhaften Vordergrunde meiner Erinnerungen, das Leben in der Schule wie ein gleichgültiges Nebenwerk im verblaßten Hintergrunde meines Gedächtnisses. Dort waren alle Freuden meines Knabenalters gelegen; vor dem Zwang der Schule habe ich immer, wie wenig sie mich beengte oder bedrängte, einen gewissen Schauder empfunden, wie man ihn wohl in späteren Jahren in Träumen zu haben pflegt, in denen man sich erwachsen in die Schule zurückversetzt fühlt.

Das lag nun zum guten Theile an dem großen Unter- und Hintergrunde, den unser selbstthätiges Jugendleben grade in meinen ersten Schuljahren durch die gewaltigen Zeitereignisse der Befreiungskriege erhielt. Ich war nur erst sieben Jahre alt, als der furchtbare Wendepunkt des Napoleonischen Glückes in Rußland eintrat. Solch ein Schlag fühlte sich in den kleinen Residenzen des Rheinbundes, wie Darmstadt, mit einer entsetzlichen Schwere; die geerndteten Kriegsehren der hessischen Contingente dienten nur, die Schmerzen der Niederlage und der ungeheuren Menschenverluste zu schärfen. Ich erinnere mich genau, wie ich einem vetterlichen Spielkameraden, vor dem Paradeplatz mit ihm hinschreitend, die Neuigkeit von dem Brande Moskaus in wichtigem Tone mittheilte, wie ich sie, aus dem Munde des kundigen Vaters ohne Zweifel, aufgeschnappt hatte. Bald rückten uns die Ereignisse in der Art nahe, daß selbst wir Kinder in einem Alter, aus dem die Meisten nur mäßige, bedeutungslose Erinnerungen haben, gleichsam in die[16] Mitleiden und Mitthätlichkeiten der Erwachsenen hineingezogen wurden. Kurz vor der Schlacht von Hanau wich der Großherzog, in dem Glauben an Napoleons Allmacht befangen wie die Fürsten von Baden und Würtemberg, vor den andringenden verbündeten Heeren nach Mannheim aus: man kann sich denken, welche Bestürzung dies unter den Menschen der entgegengesetztesten Gesinnungen hervorrief, und wie nachdrücklich sich die bürgerliche Kritik darüber ausließ. Grade während der Schlachttage (30. u. 31. Octbr. 1813) war der Onkel Joseph in Hanau gewesen, der sich dort mit einem liebenswürdigen Mädchen (das nachher nach wenigen Jahren ihrer Ehe in Wahnsinn verfiel) verlobt hatte; sobald nur durchzukommen war, war er herüber geeilt, und wie hing da das ganze Haus an seinen schreckhaften Erzählungen von der Beschießung und Bestürmung der Stadt. Ueber die Schlacht selber kam ein frischer, lebendiger Bericht noch von anderer Seite. Ein Theil des Wrede'schen Heeres schob sich nach der Schlacht über Darmstadt, das mit Truppen überfüllt war wie nie. In des Vaters Häuschen, das bei einer gewöhnlichen Quartierbelastung mit zwei Mann abkam, stellten acht Oesterreicher ab, zu denen noch spät Abends vier Baiern hinzukamen. Jedes Eckchen der Wohnung war ausgeleert, die Magd hatte schon ihre Kammer räumen müssen, es war für diese Nachzügler kein anderer Raum übrig als die Wohnstube. Man hatte ihnen noch spät ein Nachtessen rüsten müssen; ein Sergeant war darunter, der geschickt und beredt von den Hergängen der Schlacht, denen er beigewohnt, eine Erzählung gab; den kriegssinnigen Vater erfaßte das; er setzte den Leuten Wein, um sie noch etwas länger wach und redelustig zu erhalten, bis sie dann müde auf ihre Streu sich streckten. Die kleine Familie lag in der anstoßenden Schlafkammer beisammen, die Magd aufsitzend und arbeitend, da taumelt plötzlich der Sergeant von seinem Lager auf, ruft schlaf- und weintrunken, wer ihn einen Hundsfott geschimpft habe, und stürzt mit gezogenem Säbel in die Kammer, wo ihm das Bett der Knaben[17] zunächst stand; wir er wachen von dem Lärm, das Mädchen birgt sich schreiend unter den Tisch, der aufspringende Vater aber und die nachstürzenden Kameraden, die ihres Fährers Art schon kannten, entwaffneten den Mann und brachten ihn wieder zur Ruhe. Dergleichen Erfahrungen machten unseren bonapartischen Vater nicht eben besser auf die Verbündeten zu sprechen. Am wenigsten wollte es ihm mit den russischen Befreiern glücken. Für uns Knaben war es ein Jubel, die ersten Kosaken zu begrüßen; für den Alten waren die unsauberen Gäste beim Durchmarsch und vollends im Hause ein steter Gegenstand des Spottes und des Aergers. Der menschenkundige und soldatenfreundliche Mann hielt sonst darauf, mit seinen Quartiergästen sich gut zu stehen, nur mit den russischen gelang es ihm nicht. Gab seine Abneigung den Grund dazu, oder stammte seine Abneigung erst aus diesen Erfahrungen, ich weiß es nicht. Einmal, erinnere ich mich, kam ein russischer Officier mit einem Dollmetscher ins Haus, um ein entstandenes Zerwürfniß zu schlichten. Alles sollte in der Berührung mit diesen Bundesgenossen übel ausschlagen. Eines Tages schickte man uns acht Kosaken auf einmal ins Quartier, in ein Haus, das nicht Stall noch kaum einen Eingang für Pferde hatte, die nur in dem langgestreckten Hofe unter freiem Himmel unterzubringen waren: das gab denn Anlaß zu den heftigsten Beschwerden bei der Stadtbehörde; beim Abzug der vierbeinigen Gäste hoffte der Hausherr wenigstens von den hinterlassenen Streu- und Dunghaufen einen kleinen Vortheil für seinen Garten zu ziehen; im Sommer aber schoß ihm auf allen Feldern der Hafer zwischen seinem Gemüse auf. Es traf sich seltsam, daß auch in der Oeffentlichkeit die widrigsten Zwischenfälle mit den russischen Freunden unser Haus immer nahe berührten. Einst marschirte ein russisches Regiment durch die Straße; plötzlich hält es an; ein armer Delinquent wird nahe bei unserm Fenster bei der Kirche auf eine Bank gestreckt und jämmerlich geknutet, daß er wie leblos davon gefahren wurde. Ein andermal erhob sich zwischen[18] russischen Einlagerern und hessischen Truppen, die mit dem kaum erst bekämpften Feinde auch nicht gleich auf bundesgenössischen Fuß kommen wollten, ein Zwist, ein Auflauf erfolgte und ein Handgemenge, das wieder in unserer Straße unter einem wilden Gedränge zu blutigen Köpfen führte, bis die Schloßwache einschritt. Wieder einmal waren wir Knaben in einer privaten Rechenstunde in der Nähe des Rheinthors beschäftigt, als Hornsignale auf der Straße erklangen. In jener kriegerischen Zeit waren in allen Schulen die Lehrer immer bereit, wenn eine Militärschau war, wenn fremde Truppen durchzogen, so oft unvermuthet die Trommel auf der Straße rasselte, den Schülern freien Laufpaß zu geben; in den Privatstunden wartete man nicht erst auf diese Erlaubniß; wir stürzen also hinaus, wo uns denn vor dem Thore schon verwundete Russen bluttriefend entgegengeführt wurden. Ein schmutziger Vortrab eines Artillerietrains war beim Hinauszug aus dem Thore angehalten worden, der betrunkene Officier konnte oder wollte die verlangten Papiere nicht aufzeigen, der wachhabende Lieutenant winkte den Schlagbaum zu schließen; als die Schildwache die Kette abhängte, sprengte der Russe auf den Mann zu und hieb ihn über die Stirne, setzte dann über den Schlagbaum hinüber, ein Theil seiner Leute ihm nach, die übrigen wurden mit Waffengewalt festgehalten und verhaftet; die draußen schienen sich indessen zu besinnen und verhandelten, während die versammelte Jugend und Volksmasse sich erlustigte, sie mit Steinen zu beschießen. Solche Scenen wie diese aus dem Jahre der großen Märsche von 1813, die sich mir aus unzähligen Erinnerungen an durchziehende fremde Truppen, an ausziehende hessische Contingente, an die rückkehrenden Trümmer aus Spanien und Rußland in besonderer Lebhaftigkeit herausheben, zusammen mit den Erzählungen der spannenden entfernteren Ereignisse der schwungvollen drei Befreiungsjahre wirkten begreiflich mit einer außerordentlichen Gewalt auf die Jugend meines Alters. Kaum gab es da andere als soldatische Spiele. In dem[19] Kaufhaus auf dem Markte pflegten unter den sieben Vettern immer die älteren den jüngeren zu Weihnacht papierne Armeen und pappene Festungen mit Wallgräben und Citadellen anzufertigen; dies wurde dort in einer gewissen Fülle und mit großer Kunstfertigkeit getrieben, von der ich, wenn ich mitzuthun wünschte, viel zu lernen hatte. Die Schlachten und Belagerungen unter diesen papiernen Heeren mit Erbsenschüssen aus Holzkanonen gingen in den Zimmerräumen dieses Hauses vor sich; das persönliche Soldatenspiel mit Schild und Spieß, mit abenteuerlichen Panzern und Helmen oder Grenadiermützen hatte mehr in dem geräumigen Hofe und Garten bei uns Statt. Dergleichen Spiele einzurichten und Rotten von Jungen dazu zu versammeln, war ich immer rüstig und rührig voran; auch in die große Schulgenossenschaft trug ich mit Eifer diese Spielorganisation hinüber. Ich war ein Tertianer, als von unserem Conrector (Weber) ein umlaufendes Blatt confiscirt wurde; er sah es erst schmunzelnd, dann sich schüttelnd vor Lachen durch; es war ein Plan und Aufruf zu einem Soldatenspiele im größten Maßstab, an dem die ganze Schulmannschaft Theil nehmen sollte. Wer ist denn der gewaltige Legislator, sagte der strenge und heftige, aber seiner kräftigen Art und Weise wegen doch beliebte Lehrer; und alle Blicke zielten auf mich. Das Blatt ward zurückgestellt mit der bloßen Warnung, daß es nur nicht lächerlich werde. Das Lächerliche mochte sich nun freilich mit dem feierlichen Ernste, mit dem dies Alles betrieben wurde, vielfach gemischt haben. Wir zogen an jedem Sonnabend Nachmittags, von dem Thore ab in geschlossenen Gliedern, mit Schild und Stock in den Tannenwald vor dem Rheinthore, nach den Schanzwerken für die Artillerieübungen, oder nach dem Haine des Hergottsbergs, übten uns regelrecht im Marschiren, theilten uns in zwei Lager und tummelten uns die Höhen auf und nieder. Es war dies die Zeit, wo der teutonische Schwindel von der Universität aus auch in die Schulen eindrang, und dies nicht am wenigsten grade in Darmstadt, das eine Hauptburg des bürgerlichen[20] und studentischen Freisinns, der Verfassungsfreunde und der Burschenschaft war. Die Knaben partheiten sich wie die Gießener Akademiker in Schwarze und Weiße, und es gab Zweikämpfe wenn nicht mit Rapieren, so doch mit Ziegenhaynern. Vorübergehend wurde das Turnen bei dem Gymnasium eingeführt. Da es kein verbindender Unterrichtszweig war, so entspannen sich zwistige Meinungen darüber. Ich war auf der Seite der Gegner. Die wichtigthuende Befehlshaberei und die affectirte Gespreiztheit der Vorturner stieß mich schon damals ab, besonders aber war mir für meine überfreien Neigungen der Zwang, die Methodik, das Handwerk auch in dieser Kunst zuwider, die der Knabe doch eben nur als ein Spiel ansah; und ich habe bis auf den heutigen Tag die Ansicht nicht abgelegt, daß das Barspiel, das Ballschlagen, das Boxen, die Laufparthien und ähnliche Spielweisen der englischen Jugend neben der körperlichen Kraft die moralische Freiheit, Selbstthätigkeit und Selbständigkeit ganz anders herausbilden als der systematische Mechanismus unserer Turnübungen. Mein Hang stand daher damals mit der größten Entschiedenheit zu unseren selbstgeschaffenen freien Spielen in Wald und Berg. Uebrigens waren jene Spiele in Massen nur eine Weile nur Eine Seite meines Lebens außer dem Hause. In einem engeren Kreise genauerer Freunde genoß ich wieder die ganz entgegengesetzten Freuden einsamerer Zurückgezogenheit. In welchem Knabenkopfe hätte, vollends in so aufgeregter und aufregender Zeit, die Robinsonade nicht neben der Iliade einen Platz gehabt? Da suchte ich mir denn in unseren Freistunden oder Vacanzen irgend einen Freund Freitag aus, durchstrich mit ihm einsam nach allen Richtungen die schönen Wälder und Höhen um Darmstadt her oder zog ihn – und dies besonders gern – zu einer Gruppe sporadischer Granitblöcke zur Seite des Herrgottsberges, wo wir uns mit Reisig- und Laubdächern eine schattige Grotte zwischen den Felsstücken zurecht machten, Moos- und Rasenbänke darin anlegten und dann gelagert ein frugales Mittagbrod[21] mit kindischen Phantasien würzten. So sammelte sich allmälig eine kleine Colonie von Robinsonen an, denen dann abenteuerliche Reisebeschreibungen wie Le Vaillant die träumerischen Köpfe noch mehr verwirrten. Wir zettelten eine Verschwörung an, uns aus Haus und Heimat wegzustehlen, auszuwandern, über See zu gehen, in überströmender Luft in dem ausschweifendsten Gedankenverkehre mit einem Leben in der Wildniß, mit Fahrten auf allen Meeren nach allen Ländern der fernsten Ferne. Es war nur ein eitles Spiel der brennenden Köpfe, die sich in kecken, trotzigen Entwürfen großthuerisch gefielen; es brauchte nichts, als daß mir träumte, wir wären ausgezogen mit einem Fäßchen Pulver auf einem Schiebkarren, das sich, wie wir den Darmbach entlang gingen, entzündet und uns Alle unter einer großen Explosion in Feuer und Wasser begraben habe, so ward dies von den einbildungssrohen Auswanderern als eine vorbedeutende Abmahnung gedeutet, um die gottlosen, elternvergessenen Plane aufzugeben oder mit anderen, minder gefährlichen zu vertauschen. Die Seefahrer verwandelten sich in Jäger. Einer von uns hatte ich weiß nicht welche Verbindungen, durch die er uns Zulaß schaffte, einem großen Treibjagen beiwohnen zu dürfen, als man in den stattlichen Forsten des Hofes ein Paar weiße Hirsche einfing, die zu einem Geschenke bestimmt waren: dies große Ereigniß in unserem jungen Leben gab zu dieser Wendung den Anlaß. Wir wollten sofort über den Stand von Treibjungen hinaus, wir wollten selber jagen und schießen, nur daß wir weder Jagdbekanntschaften noch Flinten hatten, noch auch nur hätten haben dürfen, wenn wir selbst die Mittel besessen hätten, sie anzuschaffen. Einer aber der Gesellschaft war im Besitze von ein Paar langen Pistolen; die dachten wir anschäften zu lassen, um kleine Stutzen daraus zu machen. Aber auch das verlangte ein Capital, zu dem unsere ganzen zusammengeschossenen Wochen-Einkünfte auf lange Zeiten hinaus nicht reichten; wir ließen also die hergestellten Gewehre dem Büchsenmacher zum Pfand, holten sie alle Sonnabende, das[22] dürftige Wochengeld daran abzahlend, bei ihm ab, um sie am Sonntag Abend gewissenhaft zurückzustellen. Wir rafften nun Blei zusammen, gossen Kugeln, schafften Schrot und Pulver an, schossen auf unseren Robinson'schen Inseln nach Scheiben, versuchten uns an Vögeln und Eichhörnern und kamen nicht nur Einmal mit den Feldschützen in Conflicte, aus denen die flinken Beine retten mußten. Zuweilen wurden größere Ausflüge gemacht, auf denen uns das Schießzeug begleiten mußte; da kamen Gefahren von den Forsthütern dazu. Zu all dem Jagd-, Soldaten-, Turner- und Studentenwesen spukte selbst in den älteren Köpfen jener romantischen Zeit auch noch das Ritterthum; das fand bei uns Knaben nicht minder üppigen Boden. Die sechs Stunden der Bergstraße hessischen Gebietes entlang bis Heppenheim zählte man von Frankenstein bis Starkenburg so viele Burgruinen als Wegstunden: wie ließ sich da auf den Sonntagswanderungen schwelgen in riesigen Einbildungen! Einmal wurde ein größerer Zug unternommen, die reizende Bergreihe entlang und von da querüber zu der Ruhmesstätte Luther's, dessen Cultus damals in höchsten Ehren stand, nach Worms; von da den Rhein entlang bis zu der Stätte, wo zwischen Oppenheim und Erfelden eine hölzerne Denksäule den Rheinübergang Gustav Adolphs verewigt: solche Tage eines völlig unbewachten, freien, selbstüberlassenen Lebens hinterließen uns unauslöschliche Eindrücke und einen unvergänglichen Stoff von schönen Erinnerungen und wachsenden Entwürfen zu neuen Unternehmungen, zu neuer Belebung unseres mannichfaltigen, vielseitigen Verkehres.

Dieses rührige Treiben voll anregsamer Einflüsse, unter großer Selbständigkeit und Ungestörtheit der Bewegung, gewöhnte uns frühe, all unseren Hängen und Neigungen den freiesten Lauf zu lassen, eigne Zwecke und Ziele zu wählen und zu verfolgen, die Kräfte des Entwerfens und Ausführens zu üben, Natur und Charakter zeitig in ihre wahre Gestalt zu prägen, ohne irgend eine[23] übermäßige Einwirkung der Convenienz aus Haus oder Schule. Es warf die abenteuerlichsten, überspanntesten Schwärmereien in die Köpfe, aber es pflanzte auch in einem frühzeitigen Alter vaterländische und freisinnige Ideen in die Gemüther, es machte unsere Geister für die allerverschiedensten Eindrücke empfänglich, es schlug in unsere Seelen den Funken eines strebsamen Ehrgeizes, der über das gewöhnliche Geleise hinausrang. Aber es führte freilich auch in Bezug auf Zucht und gute Sitte, in dem flachen gesellschaftlichen Verstande wie in dem tiefen Sinne der ethischen Ausbildung, außerordentliche Gefahren und große Schäden mit sich. Die Schule kümmerte sich um das Leben außerhalb nicht weiter, als es durch Klagen zur Kenntniß des Lehrers kam; die Hauszucht war wohl nicht allein in dem Kreise unserer besonderen Familien, sondern ganz allgemein unter dem mächtigen Einwirken des öffentlichen Lebens auf die Jugend sehr viel lockerer damals als in anderen Zeiten; und der tiefere Stand der öffentlichen Moral, den die Statistik der Verbrechen in den Zeiten der Kriege und ihrer Nachwehen auszuweisen pflegt, spiegelte sich unvermeidlich in dem Jugendleben jener Jahre in etwas wieder. Die Entfremdung von den Eltern, die Entfernung aus dem geordneten Gange des Familienlebens, das unhäusliche Streifen und Schweifen, der Abscheu vor Zwang und strenger Zucht, die Verachtung der nüchternen Alltäglichkeit, die Verwilderung in ausschweifenden Entwürfen eines ganz eigenwilligen Lebens, der spröde Unmuth gegen jede Zumuthung einer gewöhnlichen Dienstleistung im Hause, die Gleichgültigkeit gegen das gewöhnliche Geschäft der Schule, all das diente nicht, weder die eine noch die andere, die äußere und innere Seite der Sittsamkeit zu entfalten. Gewandtheit im Menschenverkehre, Anstand, Gefälligkeit, Rücksicht, das waren die letzten Tugenden, die man in jenen Zeiten lernte, in denen Derbheit und Grobheit als die äußere Bewähr aufrichtiger Gradheit und Offenheit galten; Maß und Schranke und Selbstbezwingung war in den ausgelassenen[24] Genossenschaften dieser Tage nicht zu lernen, bei deren unbewachtem Wandel auch grade die Ehrlichkeit und Unverstecktheit, die sie unter ihres Gleichen verlangten und übten, gegen Lehrer und Eltern am wenigsten beobachtet wurden. Die kriegerische Natur der Zeit spiegelte sich vor Allem in einer rohen Streit- und Händelsucht der Knaben der verschiedenen Stände ab; die Schüler der Bürgerschulen und des Gymnasiums lagen in fortwährendem Hader, wobei die letzteren am häufigsten zu kurz kommen mußten, da ihre Gegner an jedem Lehrjungen und Gesellen einen natürlichen und überlegenen Bundesgenossen hatten. Ich erinnere mich von einem Falle gehört zu haben, wo ein Junge unter der Halle des Rathhauses halb todt geschlagen wurde; bei einem anderen, harten Sonntagstreffen in der Nähe eines Weingartens war ich selber anwesend, das zeitig gestört wurde; ein anderesmal trug ich, in einer Seitenstraße allein überfallen, eine nicht zu bemäntelnde Niederlage davon; bei einem Scharmützel in der Nähe der Wohnung unseres tapferen Conrectors schickte dieser den Scholaren seinen Bedienten zu Hülfe, verkündete uns aber in der nächsten Stunde, daß er ihn das nächstemal aussenden werde, auf uns, nicht für uns zu schlagen. Diese öffentlichen Ausschreitungen fanden natürlich ihre Schranken an der Polizei, die Kriegsspiele unter der gesammten Spieljugend an der Allgemeinheit der eigenen Ueberwachung; was unter den Spielgenossen unseres engeren Kreises vorging, war viel bedenklicher. Die vielerlei verpönten Streiche und Beschäftigungen, denen wir oblagen, machten uns Heimlichkeiten aller Art, Nothlügen und Zwecklügen, Entwendungen, Verleugnungen und Ausflüchte zu einer Nothwendigkeit und übten uns alle diese Untugenden bis zu einer merkwürdigen Keckheit und Geschick lichkeit ein. Unsere Auswanderungsplane, unsere Reiseausflüge, unsere Jagdvergnügen erforderten Mittel, die über unsere rechtlichen Besitze weit hinausgingen; da wurde nun zu Geld gemacht, was nicht schloß- und riegelfest verwahrt war; fand sich[25] in einem Winkel ein Buch, das nicht im Gebrauch war, fand sich in einer Schublade unter altem Krame ein verborgenes silbernes Pfeifenbeschläge, das mußte zum Antiquar, das mußte zum Silberschmied wandern; in der Rumpelkammer bei uns hing ein wackerer Büchsenranzen, der als eine brauchbare Lieferung in Natur erkannt ward; er wurde sofort als ein Darlehen auf unbestimmte Zeit zu unserem Gebrauche in Anspruch genommen. Bei unseren Robinsonaden durfte kein civilisirtes Mittagbrod erscheinen; gebratene Kartoffeln waren da unser Gericht, die auf allen Aeckern wild für uns wuchsen; im Walde war keine schlanke junge Birke und Tanne vor uns sicher, zum Bogen oder zur Lanze gekappt zu werden. Es gränzt ans Unbegreifliche, daß all dieser Unfug, den wir zu Hause, den wir in der Oeffentlichkeit trieben, niemals zu Tage kam. Unseren Robinsonaden, unseren Jagdzügen zu Liebe die Schule zu schwänzen, gehörte einmal in sechs Tagen wohl zur gewöhnlichen Wochenordnung; nie sind wir darüber weder von Lehrern noch Eltern ertappt worden, was freilich weniger an unserer List als an der allgemeinen Sorglosigkeit gelegen war. Die kecksten Schwänke dieser Art wurden weniger in überlegender Verschlagenheit als in bedachtlosem Leichtsinn ausgeführt. Meine Eltern, die besorgte Mutter wollte niemals dulden, daß ich ohne Aufsicht bei irgend einem Ausfluge über Nacht außer Hause sei. Als es sich nun um jene mehrtägige Fahrt nach Worms und Erfelden handelte, wußte ich der Begierde mitzuwandern nicht zu widerstehen. Ich erbat daher Urlaub zu einem Tagausflug nach Erfelden. Um Mittag wird zu Hause ein Brief überbracht, worin der Sohn schreibt, der Verwandte eines der Reisegenossen, Rheinbauinspector in Erfelden, habe uns aufgefordert, ein paar Tage zu bleiben, was ja kein Bedenken haben werde. Diesen Brief hatte ich zwischen Eberstadt und Bickenbach einem begegnenden Soldaten, der nach Darmstadt ging, zur Besorgung übergeben. Er war zum Glücke ehrlich genug, ihn in das Haus zu tragen, wo er ihn in die Hände der Mutter[26] gab, die ihn etwas später dem Vater, der grade sein Mittagschläfchen hielt, unerbrochen behändigte. Wer brachte den Brief? fragte er, nachdem er gelesen. Ein Soldat; ein Junge hätte ihn ihm bei Eberstadt gegeben. Bei Eberstadt? Bei Erfelden wohl? Oder bei Erfelden, sagte die gute Mutter. An solchen Fädchen hing wie oft das Gelingen unserer Schelmstreiche. Welche Sorgen würde es meiner Mutter gemacht haben, wenn sie einer solchen Geschichte auf den Grund gekommen wäre! Sie war über das Umschweifen außer Hause, über die zügellose Spielsucht, über die Freundschaften mit so vielen ihr unbekannten Knaben ohnehin untröstlich genug; sie empfand über die Entfremdung, über die Verwilderung ihres sonst so stillen Jungen einen tiefen Kummer, eine bange Besorgniß, die einmal in einen ungerechten Verdacht ausbrach, der mir immer in schmerzlichster Erinnerung blieb. Es war eine Zeit, wo wir uns mit besonderer Leidenschaft in den Sommerferien auf dem Hofe eines meiner genauesten Spielfreunde mit Wurfspeeren bekämpften. Halbe Tage genügten noch nicht zur Sättigung an diesem homerischen Spiele; gewöhnlich rannte ich, wenn der Vater aus war, nach dem Abendessen noch einmal fort und blieb oft, nie ungescholten von der Mutter, über die Schlafstunde aus. Einmal, da ich ungewöhnlich spät zurückkam, empfing sie mich, heftig erbittert über die hartnäckige Wiederholung der verbotenen Unart, mit Ohrfeigen. Ich weiß nicht, welche abwehrende Bewegung ich dabei gemacht haben mochte: plötzlich ließ sie die Hände sinken und rief in thränenerstickter Stimme: Wie, du willst gegen deine Mutter schlagen? Gott weiß es, wie ausgeartet ich damals sein mochte, von solch einer Roheit war nicht ein Schatten in mir. Die starre Verwirrung aber, in die der erschütternde Vorwurf mich stürzte, mochte die arme Frau noch mehr in ihrem Wahne bestärken, den sie auch dem Vater schonungslos mittheilte. Der heftige Mann fuhr entsetzlich auf, und nie schien eine der furchtbaren Scenen, die er uns bereiten konnte, gerechtfertigter zu sein;[27] ich hatte aber kaum in meiner verzweifelten Lähmung eine Entschuldigung zu stammeln begonnen, so mußte er in meinem Innersten gelesen haben; er ward sogleich still und ruhig, ließ mich straflos ausgehen und heftete nur den nächsten Tag zuweilen forschende Blicke auf mich, ob er mich auch recht durchschaut und gedeutet habe.

Gewiß, da war Grund genug, bei einem solchen Wildfangleben um die Bildung des Herzens wie um die Bildung des Geistes besorgt zu werden; auch fehlten, wie die Thatsachen ausweisen, bei den Eltern die Anwandlungen zu dieser Besorgniß nicht. Aber sie schienen dann doch von sittlicher Seite auch immer wieder auf einen guten Kern zu vertrauen: und wenn Einmal die Mutter diese gesunden Keime gegen die Unzufriedenheit des Vaters geltend machte, so war es diesmal der Vater, der mich gegen einen ungegründeten Verdacht der Mutter schützte. Die Mutter mochte in dieser Beziehung auf die sinnige Natur des Sohnes bauen, die ihrem eignen Wesen entsprach. Sie hatte in meinem Knabenalter einen frommen Jungen an mir; es war ihr eine stille Freude, wenn ich in sehr frühen Jahren schon mit ihr zur Kirche ging, voll Ernst und Andacht dem Gottesdienste folgte, zu Hause dann mich zum Geistlichen ausstaffirte und auf einen Stuhl gestellt zu predigen und zu segnen anfing, meine ersten Berufsgedanken auch dahin lenkte, ein Pfarrer werden zu wollen. Es war schon in vorgerück teren Jahren, daß ich, obwohl immer gelangweilt von den vorgelesenen Predigten in dem obligatorischen Gymnasialgottesdienst, doch an Landbeilagen oder Freisonntagen, wo uns Niemand zum Gottesdienst an hielt, still und für mich, und wo möglich ohne irgend Jemanden davon zu sagen, die Kirche besuchte; und als ich zur Confirmation ging, war schwerlich ein Andrer in der Zahl der jungen Vermehrer der Gemeinde, der diesen Act mit so tief bewegtem Gemüthe, mit so reiner Empfänglichkeit und von Zweifeln ungestörter Hingebung erlebte. Der Vater, gleichgültiger gegen diese kirchlichen Eigenschaften[28] seines Knaben, mochte mehr dem Pflichtgefühle vertrauen, mit dem ich den Schularbeiten oblag. Eine Wachsamkeit über die Moral der Jugend außer der Schule gab es eigentlich nicht; ängstliche Sittenbücher und Wochenzeugnisse, klägliche Mechanismen, an deren Nützlichkeit und Unerläßlichkeit heute kein Pädagoge zu zweifeln wagt, waren damals noch nicht Mode; wir hatten nur eine mündliche Monatcensur, wo die Klassenlehrer dem ehrwürdigen Rector Zimmermann eine Charakteristik der einzelnen Schüler gaben, die aber nicht über die Schwelle des Schulzimmers kam und durch nichts als die Erweckung von Scham oder Ehrgeiz wirken konnte. Da unsere Schelmenstücke nie herauskamen, so gelangte denn auch keine Klage an die Eltern; Sitzenbleiben, Strafarbeiten u. dergl. kam nie vor; aus jeder der drei Klassen, die ich im Gymnasium durchlief, brachte ich ein Prämium heim; das letztemal sogar, in Secunda, ein halbes Jahr früher als ordnungsmäßig war; all das wurde zu Hause ohne Aufsehen aufgenommen, von mir ganz unbeflissen und ohne jede Ueberhebung hingenommen. In der letzten Klasse ward ich bei dem Schlußacte noch mit einem Singprämium verlesen, das man bei dem Rector abzuholen pflegte: ich aber war zu Hause so sehr gewöhnt, das Lob nicht zu suchen, so wenig gewöhnt, das Lob an mich kommen zu sehen, daß mich weder der Ehrgeiz noch die Freude an Büchern, in denen die Prämien bestanden, bewegen konnte, diesen Gang zu machen. So mußte das, was sie von meinem Schulleben erfuhren, meinen Eltern durchaus und allezeit befriedigend erscheinen, obwohl es in der That sich damit nicht ganz so preiswürdig verhielt. Das Lernen wurde uns bei der damaligen Schulmethode im Ganzen sehr leicht gemacht. Wir hatten in jeder Klasse durch vier Ordnungen zwei Jahre zu durchlaufen; die beiden untern Bänke konnten entweder als bloße Vorbereitungsordnungen für den Unterricht der höheren, oder diese höheren als eine Stätte zur Wiederholung des auf den unteren Erlernten angesehen werden. Diese Einrichtung erzielte einen[29] langsamen aber sicheren Fortschritt der vielen in solch eine zweijährige Klasse zusammengedrängten Schüler, deren Masse wieder viel schriftliche Hausarbeiten ausschloß, weil (von den Nebenlehrern abgesehen) nur zwei Klassenlehrer den ganzen Unterricht unter sich theilten. Es mag sein, daß sich bei der jetzt eingeführten größeren Klassen-, Unterrichts- und Schülertheilung, den vervielfältigten Stunden und Lehrgegenständen, der geschärften Aufsicht auf Fleiß und Zucht, wo so viel mehr censirt, gelehrt und gelernt wird, mehrere Schulfrüchte ansetzen; die unbestreitbare Erfahrung aber liegt vor, daß stärkere Früchte bei dieser roheren Methode gezeitigt wurden, die dem Geiste der Knaben freiere Entwicklung in dem gesünder gehaltenen Körper gestattete. Dem unbegabten Schüler wurde nicht mit entmuthigenden Forderungen zugesetzt; auf diese Weise konnten sich Specialitäten mehr neben als in der Schule bilden; wenn auf der anderen Seite den Fähigen zu wenig Nahrung geboten ward, so war dies ein Schaden, den eine Schule nicht füglich zu beachten braucht. Bei uns war dies allerdings, besonders in den untern Klassen, allzuweit getrieben. Ich weiß nicht, daß mir in der Quarta irgend ein Gegenstand Last gemacht hätte, aber ich weiß auch keinen, der mir Freude und Anregung gewährt hätte, außer dem Griechischen, in das ein Sohn des Rectors eine Schaar von Freiwilligen einführte, denen er seine eigne eifrige Vorliebe für die alte Sprache mit Leichtigkeit einpflanzte. Dieselben Lehrer, die wir in der Quarta hatten, rückten zufällig mit uns in die Tertia vor. Das Latein schleppte sich in einem Ueberfluß von zwölf Stunden langweilig hin; einige neue Lehrgegenstände theilten mich zwischen Luft und Misbehagen. Dem geographischen und geschichtlichen Unterricht unseres Subconrectors Buxmann, eines pflichtgetreuen, gutmüthigen Männchens, folgte ich mit gespanntem Interesse, alle Ränder meines Fabri und Bredow mit Glossen überfüllend; die Geometrie- und Religionsstunden unseres Conrectors, der nie übellaunischer war, als wo ihm selber[30] die Lehrfächer Beschwerde machten, waren mir äußerst zuwider. In jenen pflegte unser Euklid einen auswendig gelernten Lehrsatz zur Zeichnung auf der Tafel herzusagen. Hierauf ward ein bestimmter Vormann, der in dem Fache ausgezeichnet war, aufgefordert den Satz nachzubeweisen, und dann sollte das Jeder bei Prügelstrafe begriffen haben. In der Religionsstunde wurde heute ein eintöniger, vollständig gemüth- und verstand- und bildloser Vortrag über einen schwer faßlichen Gegenstand gehalten, das nächstemal sollte ein Aufsatz eingebracht werden über das, was aus hohlem Munde durch stumpfe Ohren gegangen war. Dem zu entrinnen, ward dann Stunde auf Stunde umgangen und manch ein Schelmenhusten erfunden, um größere Schelmstreiche zu verstecken, die in den geschwänzten Halbtagen ausgeführt wurden. Mir im Besondern ward das Alles vor Andern leicht gemacht. Bei meinem gewöhnlichen Fwiß und geordneten Wesen sah man über mein Ausbleiben arglos weg. Und daß ich so mit der Hülle musterhafter Pflichttreue die Untugenden der Nachlässigkeit, der Bequemlichkeit und der Verlogenheit verhängen konnte, das hätte die gefährlichste Klippe meiner damaligen Irrgänge werden können, wenn diese Versteckungskunst irgend eine studirte Heuchelei und nicht vielmehr ein bloßer Leichtsinn gewesen wäre, der in so kecke Höhe grade nur durch die Nachsicht der Lehrer aufschoß, die ich in keiner Weise durch irgend eine Wohldienerei oder Scheinheiligkeit zu verdienen strebte. Trieb ich es doch in den Stunden, die ich besuchte, kaum anders als in denen, die ich umging. Auch da war ich, wo ich meiner Aufgabe oder meines Wissens sicher war, innerlich immer so gut wie abwesend. Was gab es da für Spiele unter den Tischen, was für Mittheilungen durch Zettel oder Zeichensprache und Zuflüsterungen zu machen! Ich war vor Allen als ein Plauderer bekannt und vor Vielen als ein solcher geduldet. Unser Collaborator Zimmermann hatte an mir einen dankbaren Hellenisten; dafür ließ er mir denn mancherlei durchgehen. Mußt du in einem[31] fort schwatzen, du Waschmaul! hör ich ihn rufen, aber in einem Tone, der mehr aufforderte fortzufahren als aufzuhören. In der Secunda war es nicht anders. Da war ein wohlbeleibter, plumpgebauter und plumpgebildeter Subrector, der jeden Muthwillen auf den Gesichtern in rohen Ausbrüchen zu strafen pflegte; was lachst du, du Flauschler? konnte er einen schmunzelnden Zerstreuten mit Faustschlägen anfahren; war ich es aber, den er so ertappte, so hieß es ganz freundlich: was lächelst du denn, Lieber? Neben ihm lehrte ein wohlunterrichteter Prorector, ein seelenguter, etwas sonderlicher alter Herr, die realen Fächer; wenn er Unruhe merkte, streckte er den langen Hals mit aufgehobenen Augenlidern und gespitztem Munde nach der Stelle: Wer plaudert? Ach es ist der Gerwin! (So war auch bei allen Jugendfreunden mein Name gedeutscht.) Und wenn ich in unschuldig fragender Miene auf meinen Namen aufstand: Setz dich! (Du bist ein) garstiger Bub! Aber das in so gutherzigem Humor, daß es mir freilich keine scharfe Warnung sein konnte.

Es lag wesentlich an dieser Fahrlässigkeit des Schulbetriebs, an dem Mechanismus der Methode, an der Theilnahmlosigkeit der Lehrer, an dem ungeweckten Interesse der Schüler, an dem für einen durstigen Geist allzu spärlich zugetröpfelten Quell des Unterrichts, daß zu meiner eingewurzelten Abneigung vor der Schule auch noch die Gleichgültigkeit gegen allen Schulunterricht hinzukam, und daß meine frühere Lust zum Studiren, die in der Schule so wenig Aufmunterung fand wie zu Hause bei dem Vater, in mir abstarb. An meinen eigentlichen Neigungen und Richtungen war dies nicht gelegen. Denn wie groß auch die Anlockungen eines mehr äußerlichen, werk- oder spielthätigen Lebens für mich waren, meine bloße körperliche Ausstattung wies mich doch noch entschiedener auf ein inneres, geistiges Leben zurück. Bei all jenen gymnastischen Spielen konnte ich wohl angebend aber nicht anführend auftreten, als Nomothet aber nicht als Hegemon thätig sein. Unter so vielen[32] robustern Gefährten befähigte mich mein schwächerer Arm nicht zu einem Vorstreiter, meine schwächeren Sprachorgane nicht einmal zu einem Rufer im Streite. Ein Flügelmann auf den Schulbänken rückte ich an körperlichen Kräften und Gaben unter der Schulgenossenschaft weit hinunter. Es läßt sich aus dem Tode so vieler Geschwister schon schließen, daß wir alle nicht mit den stärksten Naturen ausgerüstet zur Welt kamen; ich dazu war eines der spät geborenen Kinder einer in ihren Kräften schon absinkenden Frau. In meinen früheren Kinderjahren rühmte man zwar mein rundes, üppiges Aussehen, aber das hielt nicht lange vor. Die Dürftigkeit des Unterhalts in den knappen Jahren der Noth, die Enge des Wohnungsraumes, der Mangel an Licht und Luft in den nach Norden gelegenen Stuben, dazu ein starker Rest altväterischer Aengstlichkeit in der Erziehung stand einer kraftvollen körperlichen Ausbildung hemmend entgegen, und meine physische Existenz artete genau wie die der Mutter: Beide von einer vielleicht sehr seltenen normalen Körperbeschaffenheit waren wir nach den Entwicklungsleiden der Kinderzeit niemals von einer eigentlichen Krankheit befallen, aber auch nie des tiesathmigen Gefühles voller und ganzer Gesundheit und Kraftfülle theilhaftig. Es war mein Glück und vielleicht der Grund meines alleinigen Uberlebens aus einer so großen Kinderzahl, daß ich der Lauf- und Spielfreiheit in einem so großen Maße genoß und in einem nicht zu sättigenden Ubermaße gebrauchte. Gleichwohl waren mir von den Eltern doch mancherlei Schranken gezogen. Die durch den Verlust so vieler Kinder geängstete Mutter sah alles Klettern und Turnen, alles Schwimmen und Schlittschuh laufen für lebensgefährliche Dinge an, die uns aufsichtslosen Herumschwärmern streng untersagt waren. Diese Verbote wurden nun freilich nicht eingehalten; aber sie hinderten mich doch, in allen diesen Leibesübungen zu irgend einer Fertigkeit zu gelangen, und verkürzten mich so um die Kräftigung, die sie meinem Körperwesen gebracht, und um die Ehren, die sie mir im Kreise der Freunde[33] verliehen hätten. Ich war nicht ehrgeizig genug, um mich durch die Entbehrung dieser Ehren von dem Außenleben meiner Mitschüler abhalten zu lassen; auch der entgegenliegende Ehrgeiz, mit meinem Kopfe glänzen zu wollen, war mir lebenslustigen, ohne Grübeln dahin lebenden Jungen eben so fremd; doch aber wird man begreifen, daß mich jenes äußere Spieltreiben, daß mich die gymnastischen Dinge nicht so ganz dahin reißen konnten, um daneben das Geistesleben aufzugeben, in dem ich mich ohne jede Anstrengung voraus fühlen durfte. Unbefriedigt in der Schule warf ich mich daher bald in eine geistige Thätigkeit außer der Schule und begann mitten in dem geregelten Lehrcurs des Gymnasiums ein Autodidakt zu werden. Nichts war da, was mich nicht zur Bereicherung meiner Kenntnisse gelockt hätte, wenn mir irgendwo irgend welche Gelegenheit geboten ward. An der sogenannten großen Singstunde Theil zu nehmen, war in den freien Willen gestellt; ich besuchte sie gewissenhaft, obwohl ich von dem theoretischen Unterricht unseres würdigen Cantors Rinck nicht das geringste begriff. Der Vater, zu allem die Hand bietend, was seinen Söhnen die geistigen Schätze verschaffen konnte, »an denen man nicht schwer trägt«, ließ mich auf meinen Wunsch Privatstunden im Zeichnen und Malen besuchen. Mehr sein als mein Wunsch war es, daß ich auch besonderen Unterricht in der Arithmetik nahm; und unter einer rationellen Methode machte ich da rasch die Fortschritte, die sich in dem Gymnasium nicht einstellen wollten; ich erinnere mich, daß ich selbst der verhaßten Geometrie auf eignem Wege auf die Spur zu kommen suchte und mit einem der Vettern Zöppritz zu diesem Zwecke eine Wandtafel zurecht zimmerte. Auch im Französischen half eine Privatstunde nach. Ich machte mit meinem Bruder und einem Vetter Schwartz bei dem Emigranten Simon den Mozin durch, bis uns der Lehrer gestand, daß er uns nun nichts weiter lehren könne; wir hatten den Gil Blas in breiten Auszügen aus dem Deutschen ins Französische zurückübersetzt; noch[34] neben dieser Nebenstunde las ich mit den Freunden eifrig den Telemach, und nach der Verabschiedung bei Simon übersetzte ich mit meinen Mitschülern aus Kohlrauschs deutscher Geschichte. Einen höchst anregenden geistigen Verkehr hatte ich mit einem frühreifen, etwas älteren Freunde, Aug. Nodnagel, dem Sohne armer Eltern, der seiner ungemeinen Begabung wegen aus der Stadtschule von liberalen Forderern in die gelehrte Schule versetzt ward und dort Mitschüler und ganze Ordnungen in reißenden Fortschritten übersprang. Ich las mit ihm, um mir die Langeweile des lateinischen Unterrichts in der Schule zu versüßen, Terenz, Sallust und Curtius, und ich fing nur ihm zu Liebe, der sich zum Theologen bestimmte, eine Weile sogar das Hebräische an zu treiben. Zufällig fiel mir eine italienische Grammatik in die Hände; ich studirte nun eifrig auch diese Sprache, und da der Vater, der dies für ein Uebermaß hielt, dem er durch Anschaffung von Büchern (zunächst eines Wörterbuchs, das ich wünschte) nicht Vorschub leisten wollte, so schrieb ich mir den Wortvorrath meiner Grammatik alphabetisch aus und suchte mich nun mit Hülfe dieses Nothdictionärs durch italienische Bücher zu schlagen. Einer meiner Kameraden lernte englisch, ich freute mich gelegentlich aufzuschnappen, was ich konnte; ein anderer hatte Anlaß sich mit dem Holländischen zu beschäftigen, auch da machte ich eine Weile mit; bei einem dritten, der sich frühe zur Landwirthschaft bestimmte, kam ich nie vor, ohne mich mit ihm in die Bücher des Faches zu vertiefen. Wieder ein anderer Schulnachbar schien meine eifrige Vorliebe für die Erdkunde zu theilen; es war G. Kriegk, der in diesem Jache später fortgearbeitet hat; wir saßen, so oft es die Zeit erlaubte, in den Räumen der Hofbibliothek und zogen die größten Werke aus, beklagend, daß den Schülern nicht gestattet war, von dort Bücher nach Hause zu entlehnen; ich wußte mir sie aus dritter Hand dennoch zu verschaffen und erinnere mich den Colquhoun excerpirt zu haben, indem ich mich mühselig durch die unbekannte Sprache hindurchrieth;[35] nichts war uns zu breit in dieser Materie, der dickleibige Cannabich genügte unserer statistischen Wißbegierde noch nicht. Reisebeschreibungen waren daneben für die Lesewuth der auswanderungslustigen Bursche begreiflich die lockendsten Gegenstände; wir fanden aus dem pikanten Campe bald den Weg zu Lord Anson und noch trockneren Weltreisen, ohne uns abgestoßen zu fühlen. Wo ich mich aber neben der geographischen Lectüre am meisten ausbreitete, war in der geschichtlichen. Gottfrieds Chronik mit den Merian'schen Bildern, was war dies für ein willkommenes Meer für uns unermüdlichen Entdeckangsreisenden! Den siebenjährigen Krieg von Archenholz, den dreißigjährigen von Schiller lieferten uns die Prämien in die Hand; den Kohlrausch, den deutschen Plutarch und alle die zahllosen teutonisirenden Geschichtswerke gelesen zu haben, gehörte damals durchaus zu einem wackern deutschen Jungen; Gottschalks Ritterburgen, den Fouqué und alle Rittergeschichten und Ritterromane zu kennen, stachelten alle Impulse jener Blüthezeit unserer romantischen Literatur; zu andern Geschichtswerken wies die Besonderheit meiner Lage hin; in Wencks trockner Landesgeschichte half der hessische Patriotismus nach, das Passende aufzustöbern; in Feßlers ungarische Geschichtswerke trieb mich die ganz persönliche Sympathie mit dem namensähnlichen Helden Corvinus. Einmal so weit in die Lesewuth gerathen, gab es bald nichts mehr von Büchern, was ich nicht mit gleicher Gierde verschlungen hätte. Und ich würde in dem unberathensten Lebensalter in eine rathlose Verirrung der Viel- und Allesleserei gestürzt worden sein, hätte es sich nicht glücklich gefügt, daß ich eingeschifft in diesen Ocean unserer Literatur wenigstens Einen festen Punkt und Port, und den sichersten, den es geben konnte, bewahrte, zu dem ich aus allen ziellosen Irrfahrten die Rückkehr allezeit offen hielt. Es war für meine ganze spätere Entwikklung ein bedeutsamer Zufall, daß uns unser Gräcist Zimmermann frühzeitig in den Homer einzulesen unternahm und, um uns Muth zu machen, uns zuweilen in fesselndem Vortrage[36] Stücke der Vossischen Uebersetzung vorlas. Ich wußte aus Beckers Erzählungen in der Materie Bescheid, hier packte mich die alte, ächte Form, und seitdem konnte ich von dem Dichter nicht mehr lassen. An jedem Sonntag, in jeder Freistunde, bei schlechtem Wetter, wenn die Ausflüge pausirten, fand mich der Vater zu seinem humoristischen Verdrusse »immer wieder an meinem Odysseus!« Ich griff vom Homer zu den verwandten Stoffen aus; Fenelon wie Virgil sollten mir den Kreis dieser liebgewonnenen Welt erweitern; aber die Freude daran hielt nicht aus. Das ästhetische Gefühl, der poetische Instinct begann sich frühe in mir an diesen Gegensätzen zu läutern, obwohl meine Vorliebe für den alten Dichter in ihren Anfängen, nach Knabenart, ganz realistischer Natur war. Die Abneigung gegen Virgil betraf begreiflich früher seine troische Partheifarbe als seine Schreib- und Darstellungsweise; die Abneigung gegen Fenelon eher seine lehrhafte Weisheit als seine Modernität. Wie in dem kindlichen Alterthum selbst griff aber dieses materialistische Interesse an Homer nach allen Seiten aus: meine Spiele mit Speer und Bogen zogen aus ihm ihre liebste Anregung; meine kindischen Zeichenversuche drehten sich um die Gestalten des troischen Krieges; Landkarten zu entwerfen übte ich an nichts so oft als an dem kephallenischen und troischen Reiche; der Grund der altgriechischen Geographie und Geschichte lag mir in dem Schiffskatalog und in den Episoden von mehr historischem Charakter; Helden- und Göttersagen geschichtlich oder rationell zu deuten, war mir, nach Anleitung des alten Damm, dessen Besitz mir ein unschätzbares Kleinod war, ein stets angelegenes Geschäft; meine ersten Versuche in den Antiquitäten galten der Erklärung des Homerischen Kriegs- und Schlachtwesens. Mein ganzes Sein und Denken war mit diesen Gedichten ausgefüllt, und so glück liche Stunden eines schwelgerischen geistigen Genusses sind mir kaum jemals wieder zu Theil geworden; und doch war noch ungleich köstlicher als diese gekannten und empfundenen Freuden das, was damals durch das stete[37] Verweilen auf diesen kostbarsten Resten des Jugendlebens der Menschheit meinem Innern ganz unbewußter Weise angebildet wurde. Die gläubige, empfängliche Hingabe, mit der ich diese Dichtungen las und wieder las und gleichsam auswendig lernte, hat den Sinn für schlichte Sitte und einfältige Natur, für reine Form und ächte Schönheit, für gesunde Frische in den geistigen Schöpfungen der Menschheit in mir eingepflanzt, ehe ich irgend darum Bescheid wußte. Die Homerischen Werke wurden mir wie ein Compaß, der mich in dem Nebel späterer Verirrungen sicher steuerte. Wechselnd verschlagen an die entgegengesetzten Pole einer herabziehenden Prosa und einer wüsten Schwärmerei fand ich mich selber wie in einer Rettungsstätte wieder in der Rückkehr zu dem Sänger meiner Jugend. Diese Verirrungen begannen schon in der Zeit meiner ersten Beschäftigungen mit Homer selber, wo ich bereits in die ausschweifendste Lesewuth verfallen war, die jugendliche Phantasie aufs üppigste ausarten ließ und alle geistige Kraft in profuser Verschwendung an die lähmendsten, erschlaffendsten Dinge setzte. Uebermächtige Einflüsse wirkten auch zu dieser Wendung in meinem Leben ein. Das ganze Zeitalter sprang von der Anstrengung der äußeren Thaten in ein ganz inneres, phantastisches Geistesleben über. Meine Vaterstadt, in einem frischen Aufstreben begriffen, ward mehr als andere Orte von diesem neuen Leben gefaßt. Das Lesen, die Bekanntschaft mit der deutschen Literatur in den weiteren Bürgerkreisen begann dort eben erst mit der ganzen Kraft, die in der Jugend und in den Anfängen solch einer neuen Richtung gelegen ist. Die Schätze der Hofbibliothek wurden erst in jenen Jahren dem Publikum geöffnet. Ein unternehmender Mann, Buchbinder Ollweiler, errichtete 1817 zum erstenmale eine Leihbibliothek auf größerem Fuße und mit solchem Erfolge, daß sie in drei Jahren zu 10000 Bänden und weiterhin bis zum Dreifachen dieser Zahl anwuchs: ganz Darmstadt dankte dieser Anstalt seine intimere Einführung in die Breite der literarischen Welt. Diese Anstalt aber[38] entstand, nachdem Onkel Joseph seit seiner Verheirathung den untern Stock geräumt hatte, in unserem Hause: das hieß einem lechzenden Tantalus die lockenden Früchte doch gar zu tief hängen, als daß er sie nicht trotz manchen elterlichen Versagungen hätte erhaschen und benaschen sollen. Ich erinnere mich, mit lauter Lesekreuzern mich einmal so tief in Schulden verwickelt zu haben, daß alle Freunde die Taschen leeren mußten, um mir herauszuhelfen. Die Verführung in dem Kreise meiner Freunde trieb zu dieser Lesesucht aus allen Kräften nach. Unter ihnen stand mir jener A. Nodnagel immer am nächsten, der mir an Alter, Reise, Anlagen, Kenntnissen und Belesenheit weit voraus war. Strebsamkeit und Lerneifer stachelte mich unaufhörlich, ihm nah zu kommen. Nicht allein unsere Klassiker wurden nun verschlungen, die ganze Breite der belletristischen Literatur wurde durchzogen. Nicht allein die geschichtlichen, die Ritter- und Räuberromane von Fouque und Vulpius bis zu Cramer, Spieß und Schlenkert galt es sammt und sonders zu kennen, sondern auch die eleganteren Werke der Scott, v. d. Velden, Hoffmann, Clauren und welche nicht sonst; selbst eine Reihe von Taschenbüchern und Zeitschriften wurden regelmäßig verfolgt. Die dramatische Literatur des Tages beherrschten wir bald in einem weiten Umfange. Ich war vielleicht eilf Jahre, als mich die Eltern zum erstenmal mit ins Theater nahmen, in den Tancred. Die Musik existirte nicht für mich, aber die Gestalten der Handlung war die flackere Einbildungskraft gleich geschäftig zu Hause mit Wachspuppen nachzuspielen. Etwas später sah ich die Jungfrau von Orleans, schon mit einigem Begriffe von dem Dichter und der nationalen Bedeutung des Stücks: seitdem ward das Theaterspiel ein Theil unserer lebhaftesten Belustigungen. In den Räumen der öffentlichen Gärten bei Darmstadt und Bessungen spielten wir extemporirte Stücke, in denen noch die Prügel die gewöhnliche Katastrophe bildeten. Dann aber lernten wir auch Stücke ohne Frauenrollen auswendig oder übten einzelne Scenen gesehener Stücke[39] ein, und dabei sanken wir von Lessing zu Körner, von dem Zanke zwischen Cassius und Brutus zu einer Scene aus den Räubern auf Maria Kulm unbekümmert herab. Es konnte nicht fehlen, daß wir von einem so üppigen Aufnehmen und Empfangen bald zum Produciren übergingen. Ich erinnere mich genau des Ausgangspunktes meiner poetischen Laufbahn. Ein geschichtlicher Aufsatz ward in der Secunda aufgegeben über Gustav Adolphs Tod. Nodnagel besang ihn in Octaven; ich wollte bei zwar weit geringerem Reimtalente nicht zurückbleiben. Wir lasen bei unserm Subrector den Virgil; einmal und vielleicht ein zweitesmal lieferte ich eine Uebersetzung in Hexametern; später gab ich vor so fortzufahren, machte mir dann aber weder in Prosa noch in Versen mehr Mühe damit, weil man sich doch nicht jedesmal bei meinen Hexametern aufhalten konnte. Denn schon lockte mich die Sthasslust auf weitere, freiere Gebiete. Ich wollte in meiner kindischen Einbildung gern mit Homer selber wetteifern und schrieb eine Theseide in einigen tausend Versen nieder, wozu ich jede freie Stunde außer der Schule und jede unbewachte in der Schule verwandte. In die Lyrik, in die Uebersetzung, in das Epos eingeschossen ging ich dann auch zum Drama weiter. Eine Anzahl Tragödien (ich erinnere mich eines Gustav Adolph, eines Mathias Corvinus, eines Ziska) wurden nach den bequemen Vorbildern der Körner, Klingemann, Gehe u.a. hingeschrieben, sündliche Schmierereien natürlich, die ich sehr bald nach ihrer Vollendung in Selbstbeschämung vernichtete. Bis wohin dieser eitle Schreibübermuth von uns getrieben ward, bis wohin sie in jenem Zeitalter der allgemeinen Sudelei in Deutschland getrieben werden konnte, davon zeuge eine einzige lächerliche Thatsache. Wir beiden Schreibwüthigen, Nodnagel und ich, ein Junge von 14 Jahren, kamen auf den Gedanken, einem Frankfurter Verleger, Julius Körner meine ich, eine belletristische Zeitschrift Euterpe zum Drucke anzubieten. Es wurden Verhandlungen gepflogen, Probebogen eingeschickt, und wer sollte es glauben! Nicht zur Schmach der kindischen[40] Autoren, aber zur Schmach unserer kindischen Literaturzustände sei es gesagt: es war nicht die Nichtswürdigkeit dieser knäbischen Versuche, nicht die Unmündigkeit ihrer Verfasser, was die Unterhandlungen abbrach; sondern die Karlsbader Beschlüsse, die 1819 alle Zeitschriften der Censur unterwarfen, verstimmten den Verleger so sehr, daß er uns in einem hypochondren Zornausbruch über diese Maßregeln absagte, die es gerathner machten, schrieb er, sich mit Straßburger Pasteten als mit Schriftverlag zu befassen.

Die beiderlei, innerlichen und äußerlichen Lebensweisen, die mich theilten, gipfelten zuletzt in einem engern Verkehr mit sieben Nächstbefreundeten unter den Schulgenossen der Secunda, unter denen ich den Abschluß eines förmlichen Bundes veranlaßte. Das Verbindungswesen war in jenen Jahren ein Angelpunkt selbst der öffentlichen Geschichte. Die patriotischen Ueberlieferungen von dem Tugendbunde fanden ihren Weg unter die Jugend; von politischen Geheimbünden drang so manches Unbegriffene in die jungen Köpfe und reizte durch das Dunkel, mit dem es umhüllt war; die Studentenverbindungen in Gießen und ihre heftigen Gegensätze waren uns ganz nahe gerückt; die Freimaurer bauten sich grade in jener Zeit eine Loge in Darmstadt. So erscheint denn auch unser Schülerbund als ein natürliches Abbild oder Zerrbild der Zeit in dem kleinen Hohlspiegel des Jugendlebens, obgleich der eigentliche Beweggrund nicht äußerliche Nachahmerei irgend einer Verbindung war, sondern der dunklere, instinctive Trieb der Strebsamkeit in einer Anzahl scharf gezeichneter Naturen, die gern etwas mehr als die Anderen bedeuten, vor der großen Masse als etwas Besseres heraustreten wollten. So ward die Sache selbst von solchen angesehen, die, mir nahestehend ohne der Verbindung anzugehören, dem Treiben der Bundesgenossen von außen und ferne zusahen, Einer davon (wie er mir später erzählte) mit dem eifersüchtigen Ehrgeize, sich mir nahe und näher zu stellen, um zu dem Kreise dieser Auserwählten zugelassen zu werden. Einer der Letztaufgenommenen[41] bezeichnete als den Zweck der Gesellschaft: »die Seele vom Schlafe zu wecken, damit sie dem gemeinen Dahinleben entsage und ihrer würdigeren Bestimmung lebe«; »von dem politischen Bunde der Schwarzen, der seine Liebe nicht weiter als über das Vaterland auszudehnen scheine«, sollte sie sich nach der Auffassung dieses Genossen grade durch ihren weltbürgerlichen und sittlichen Charakter unterscheiden. In mir persönlich wirkte dazu in erster Linie der allgemeine, lebhafte Freundschaftstrieb mit, der Drang, mit den trautesten Genossen ein vertrauteres Leben im engst geschlossenen Kreise ganz auszuleben. Der Bund wurde am 8. Febr. 1819 gestiftet. Die acht Mitglieder sind in die verschiedensten Lebenswege auseinander, zur Hälfte bereits – und zum Theil in sehr jungen Jahren – aus dem Leben gegangen. Einer (Karl Noack; ist ein geschikkter Kunstgärtner geworden, ein anderer (Wilh. Niebergall) ein wackerer Kammermusikus; J. Kaup, von originellem Gepräge schon in jenen Jahren, ist als Zoologe in weiteren Kreisen bekannt geworden; gestorben sind der Mediciner P. Martenstein, der Theologe G. Geilfus, die Philologen Lange und Nodnagel, die beide in verschiedenen Richtungen literarisch thätig gewesen sind. Wir nannten uns Philareten, trugen als Bundeszeichen ein stählernes oder silbernes Kreuz an himmelblauem Bande und einen Dolch, auf den wir einen kleinen Codex höchst einfacher Gesetze beschwuren, die in kurzen, trivialen Sätzen zu sittlichem Leben anhielten. An jedem zweiten Sonntage tagten wir unter dem Vorsitze des auf drei Monate gewählten Oberhauptes; im Sommer in einer Höhle, oder vielmehr in einer offenen Vertiefung im dichten Gebüsch des Herrgottsberges. Auf dieser Stätte und dieser ganzen Höhe lag seitdem für mich eine heilige Weihe; an keiner Lebenserinnerung hing ich lange hinaus mit wärmerer Rücksehnsucht als an den dort verbrachten Stunden. Südlich stößt an Darmstadt als eine Art Vorstadt das Dorf Bessungen, das wir Poeten besungen zu betonen pflegten; die zwei öffentlichen Gärten bei dem Orte waren[42] von je Haupttummelplätze unsrer Spiele gewesen. Von diesen Räumen führt ein Weg südöstlich an einem Weiher vorüber nach dem Herrgottsberg, der ersten Erhebung der Bergstraße. Man gelangte beim Betreten des Hügelabhangs, der damals noch wild lag und selten betreten war, durch einen schattigen Waldgang ebenen Fußes zu einer Brunnenstube, einem kleinen stehenden Wasser und einer offen liegenden Trinkquelle; links dabei Felsgruppen, auf denen wir viel gelagert waren; rechts eine kleine Erhöhung, in deren Gebüsch versteckt wir wohl unsere theatralischen Aufführungen hielten; links führt dann der Weg in einem Bogen aufsteigend erst zu einer Höhle, von der wir uns abenteuerliche Schauergeschichten erzählten; dann zu einem Granitblock, die »Teufelsklaue« im Volksmunde genannt, zu dessen Namen wir uns deutende Mythen zu erfinden übten; von da leitete ein ebener Weg auf dem Höhenrücken hin zu dem Vorsprung, von wo man die Stadt und das Rheinthal übersah; man kam damals an einem halbverfallenen Holztempel vorüber, von dem man links abbiegend mit wenig Schritten zu unserer dichtbeschatteten Bundeshöhle gelangte. Hier wurden denn die Sitzungen unter den Bundesgliedern gehalten, in deren Kreise meine früherhin vielfach getheilten, bald mit den Massen der Schule, bald mit nur Einzelnen verfolgten Freuden äußerlicher oder innerlicher Natur wie in einer erlesenen Gemeinschaft geeinigt und verdichtet waren. Die kindischen Bestrebungen suchten sich hier zuerst, wie dunkel und unklar auch, mit einem Gedanken zu durchdringen; und obwohl es an den nüchternen Naturen unter uns nicht fehlte, die selbst damals schon grade diesen Bund als einen Ausbund unserer Phantasmen heimlich kritisirten, so waren doch selbst sie von dem sittlich idealen Anfluge der Freundesverbindung übernommen und fühlten, daß diese Schwärmerei doch nicht ganz ohne alle soliden Erträge war. Das Leben im Freien, in jenen heimlichen Thälern und Hügeln weckte in uns frühe den Sinn für die Schönheit der Natur, und unser gehobenes Treiben beseelte unsere[43] Gänge ganz anders als zuvor, da sie nur der Boden für unsere Balgereien waren. In unserem genauen Umgange lernten wir die verschiedensten Köpfe und Charaktere mit nicht gemeiner Schärfe und Theilnahme zu beobachten und zu besprechen; die Mittheilung der gemachten Beobachtungen, zu deren offenem Austausch uns die Gesetze verpflichteten, waren ein früher Anlauf, zu einer ernsten Menschen- und Seelenkenntniß zu gelangen; in sittenstrenger Rüge wurden die bemerkten Fehler und Blößen der einzelnen Bundesglieder beredet; die Selbstbeobachtung, die physische und sittliche Selbstrechenschaft, zu der uns die Schriften des Fries und ähnlicher Jugendlehrer anleiteten, drang früh in unsere jungen Gemüther ein. Jeder einzelne unter uns hatte die mannichfaltigste Gelegenheit, ganz anders als es heute in dem von den Eltern organisirten Umgang zusammengeladener Schulfreunde möglich ist, zu jedem Einzelnen in die engsten Beziehungen zu treten, ihn und sein Familienleben ganz zu durchdringen und in die Zukunft seines Berufes vorauszusehen. So war ich in jeder Familie jedes der verschiedenen Freunde in einer anderen Weise heimisch; der häufigste Verkehr aber blieb der mit Nodnagel. Zu ihm waren die Beziehungen nicht des Herzens, aber des Kopfes am innigsten. Weit voraus wie er mir war, konnte er mir in aller Weise ein Führer sein, und er war mir in aller Weise ein Sporn. Ich zog jeden Nutzen von seinem überlegenen Wissen und seinem reiferen Urtheile, und ich stand dabei in einer um so neidloseren Unterordnung neben ihm, als ich mich in gewissen Beziehungen über ihm fühlen mochte und durfte. In dem persönlichen Verkehre der Bundesgenossen war und blieb ich immer das anfeuernde, das nachschürende Element; es war mir ein heiliger Ernst um die Zwecke dieses Vereines, als ihn einer oder der Andere schon mäkelnd belächelte; und so war es auch mit dem Geistesleben, das mich mit Nodnagel zusammenband. Er, eine kalt bedachte, verständige, ruhige Natur, trieb seine poetischen Versuche im Wohlgefühle seines leichtern Talentes und im[44] Genusse der wohlverdienten, augenblicklichen Anerkennung seiner Leistungen. Ich dagegen, von meinen unbeholfenen Tirocinien immer unbefriedigt, schwärmte in kommende Zeiten voraus, faßte das, was Jenem ein Geistesspiel und eine Schulübung war, als die Vorbereitung für eine reifere Zukunft auf, malte mir den Ruhm eines Dichterlebens aus und fand es nicht zu kühn, von Stund an auf diesen Ruhm zu steuern wie auf das Ziel meines Daseins. Das ganze Zeitalter stürzte damals, ermattet über den kriegerischen Anstrengungen der nächsten Vergangenheit, in einen üppigen Geistesluxus zurück. Der Cultus unserer Dichter erreichte jetzt eben seine höchste Höhe. Die kleinen traten fast in gleichen Rang mit den Großen. Wenn wir von den Lorbeeren hörten, die damals die Clauren, die Ernst Schulze, die Müllner, die Houwald sammelten, wer sollte da verzagen, mit Zeit, mit Uebung und Erfahrung aus gleich kleinen Einsätzen die gleichen großen Loose zu ziehen? Wie fremd mir solch eine Ueberlegung oder Berechnung gewesen wäre, doch waren mir diese Arbeiten des Tages und ihre Erfolge wohl bekannt; und die unklare Sucht nach einem Namen und einer Wirksamkeit in dem großen Ganzen, in dem wir uns bewegten, hatte mich frühe befallen. Auf dieses geschäftige Knabengehirn drückte frühe ein schwerer Nebel von strebsamen Träumen, die den hellen und klaren Lichtkern des Geistes jetzt völlig zu überdecken begannen. Das Sinnloseste hatte in diesem Kopfe Raum, weil kein Vater, kein Lehrer, kein älterer Freund mir nahe stand, der diese aufsteigenden Dünste gewahrt und die Theilnahme und Fähigkeit bewiesen hätte, sie durch verständige Einwirkung niederzuschlagen. Wie mir frühe bei den Thaten der Welteroberer und Weltenentdecker die Adern geschwollen waren, so brütete jetzt mein Gemüth in stillerer Versenkung über die Verdienste der Religionsstifter und Reformatoren, erglühte mein Kopf über dem Glanze des Lebens und Wirkens der Poeten, die die Zeit noch erschuf und mit jedem Lohne und Ruhme verzog. Unendliche Gefühle einer unbestimmten Sehnsucht[45] knüpften sich in dieser in sich gekehrten Seele, die selbst der Freund Nodnagel mit seinem listig kritischen Blicke nicht aus allen ihren Höhlen herauslocken konnte, an diese weltumspannenden Entwürfe. Sie lebte die goldene Idylle des jugendlichen Phantasielebens, nachdem sie sie brausend mit den Vielen und schwärmend mit den wenigen Erkorenen durchgemacht hatte, jetzt oft stillversunken nur mit sich selber aus, die wunderbare Zeit, wo dem selbstgläubigen Selbstgefühle jede Höhe erreichbar, jedes Hinderniß leicht überwindlich dünkt; wo wir das Leben, seiner Schatten nicht kundig, im ungetrübtesten Lichte vor uns sehen, nicht ahnend, wie demüthigend klein das Ergebniß unserer Existenz sich einst ausnehmen werde gegen die unendliche Summe, die der Anschlag der ersten aufstrebenden Jugendkraft ist.

In dieser Jugendgeschichte liegt mein ganzes späteres Leben, Charakter, Talente und Schicksale, in einer vielleicht nicht gemeinen, starkausgeprägten Vorbildung wie im Keime beschlossen. In frühem Alter entwickelten sich in mir die mehrseitigen Anlagen des Charakters, des Geistes, des Gemüthes, wie sie mir von der mehrseitigen Natur höchst verschieden gearteter Eltern angeboren waren; in frühem Alter, bei dem ersten Erwachen des Bewußtseins, begannen die Ereignisse einer mächtig bewegten Zeit an mich heranzutreten und mich in das große Leben der nationalen Gesammtheit einzuweisen. Jene Anlagen lenkten mich wechselnd nach außen zu einem mehr thätigen Leben und drängten nach innen zu einer mehr geistigen Existenz zurück: das große Weltleben gab diesen grell getheilten Richtungen die mächtigsten Antriebe und die weitesten Spielräume. Während der ersten zehn Jahre meiner Jugend rang das Zeitalter in den ungeheuersten Wettkämpfen um Herrschaft und Unabhängigkeit; in dem zweiten Jahrzehnt fiel es, und am ausgesprochensten in unserem deutschen Lande, plötzlich umschlagend in ein geistiges Leben zurück, dem nur einzelne schwache Bemühungen um innere politische Freiheit ein kleines Gegengewicht hielten. Beides,[46] neu erwachende Geistesleben und die freisinnigen politischen Bestrebungen hatten in meiner jugendlich gedeihenden, äußerlich und innerlich emporringenden Vaterstadt stärkere Brennpuncte als an vielen anderen Orten. Dies vermittelte noch besser die Ueberwirkungen aus dem Leben des Volkswesens in das des Individuums. Es bannte das große Nationalleben, zu fern für das Auge eines Knaben, gleichsam in das Objectivglas eines Sehrohres, das für die noch blöde Gesichtskraft richtig zu stellen war. So warf denn das Zeit- und Volksleben von früh auf seine Bilder in meine Seele, wie in einen unverhängten, wohlgeschliffenen Spiegel: und wenn einmal in deutscher Culturgeschichte die Rede sein wird von dem Ringen der Zeit, in der das deutsche Volk den schweren Uebergang vom geistigen zum praktischen Leben suchte, so wird mein Name nicht ungenannt bleiben. Denn schwerlich hat sich dieser Kampf der Nation in einem anderen Einzelwesen stärker und treuer abgespiegelt. Das Uebergewicht blieb auf der Seite des inneren Lebens, obgleich der Hang und Drang mehr in die entgegengesetzte Richtung wies. Auch dies war so in dem Gesammtleben des Volkes: das seine Geschicke, das die erreichte Bildungsstufe aus sich heraus zu den Werken der Oekonomie und des Staates riefen, die alte Gewöhnung aber stets in sein Geistesleben zurückwarf. Wenn in meiner privaten Existenz die Beschaffenheit meiner körperlichen Natur zu diesem Uebergewichte einen wesentlichen Ausschlag gab, so wird sich auch in diesem Puncte die Parallele mit dem Leben der Nation festhalten lassen, die in ihren oberen Schichten eben erst anfing, das altväterische, den Körper verkümmernde Erziehungswesen mit einer kräftigeren Sorge für die physischen Kräfte zu vertauschen, ohne die dem Geschlechte die Musculatur und die Nervenstärke für die staatlichen Geschäfte ewig abgehen wird. Die Unnatur, die in diesem zwiespältigen Wesen der Neigungen und Thätigkeiten des Volkes gelegen war, sprach sich in der krankhaften Entartung des geistigen Lebens aus, das unter der krampfigen[47] Ueberspannung des phantastisch-poetischen und des hypermetaphysischen Triebes die gesunde Verfassung der deutschen Volksnatur ganz zu verleugnen schien. Und in keinem Puncte sollte mein kleines Sonderleben dem großen öffentlichen Weltleben ähnlicher arten als in diesem.

Quelle:
G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 1-48.
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