Der schöne Brief

[164] Der Brief soll in dem Empfänger die Vorstellung einer Unterhaltung des Absenders mit einer anderen Person erwecken. Er muß also inhaltlich, wie in der äußeren Form möglichst gut abgefaßt sein.

Nachlässige Schrift, Tintenklexe, unsauberes Briefpapier usw. verraten den nachlässigen, unordentlichen Absender. Der Inhalt des Schreibens soll sich den Umständen anpassen, die ihn veranlassen. Briefe an geliebte Personen, Verwandte und gute Freunde werden am besten so einfach und natürlich gehalten, wie die persönliche Unterhaltung mit den Genannten sein würde. Konzepte für schriftliche Unterhaltungen mit nahestehenden Menschen anzufertigen, wäre lächerlich und würde außerdem das Schreiben seines größten Reizes berauben, nämlich: »der Wiedergabe des ursprünglichen Gedankens«. Dagegen ist diese Vorsicht berechtigt, oft sogar geboten, wo es sich um Schreiben an Vorgesetzte, Eingaben an Behörden, Gesuche, Streit- oder Geldfragen, wichtige Empfehlungen und Entscheidungen, Entschuldigungen, Verteidigungen und dergl. mehr bedeutungsvolle Dinge handelt.

Die Adresse eines jeden Schreibens, wie jeder Postsendung [Postkarten, Paket, Telegramm] soll deutlich und richtig geschrieben sein; das Gewicht der Sendung[164] ist in zweifelhaften Fällen nachzuprüfen und die ausreichende Frankatur nicht zu vergessen, da dem Empfänger sonst leicht Unannehmlichkeiten erwachsen.

Briefbogen und Umschläge wählt man stets übereinstimmend; für den Geschäftsverkehr wird größeres, für Privatgebrauch kleineres Format bevorzugt.

Unangenehme Briefe sollen nie aufgeschoben und stets nach dem Grundsatz erledigt werden: »je unangenehmer das Thema, desto höflicher und sachlicher der Ton, mit dem es behandelt wird.« Ist man sehr ärgerlich, so schreibt man am besten sich die Wut vom Leibe, schickt den Brief aber nicht ab, sondern schreibt am nächsten Tag einen neuen in ruhiger Stimmung. Das erspart viel Verdruß. Daß kein anständiger Mensch einen Brief öffnet, der nicht seine Adresse trägt, ist wohl ganz selbstverständlich.

Gespräche verklingen, wenn sie noch so herzlich gewesen sind; Tage gemeinsamen Lebens gehen vorüber und lassen als Spur nichts als verblassende Erinnerungen. Wird man älter und läßt sein Gedächtnis öfters in die Vergangenheit schweifen, so zeigen sich Briefe als reizvoll freundliches Band, das mit dem Einst verknüpft und der flüchtigen Stunde Dauer verleiht.

Sind die Briefe »schön«, welch ein Genuß, welch unverhoffte Freude! Sie gleichen ja nicht einem fremden, noch so spannenden Roman, sie sind unser eigener Roman, unser Schicksal. Ein richtiger Brief gibt nicht nur das Bild dessen, der schreibt, sondern läßt auch die[165] Silhouette dessen durchblicken, an den er gerichtet ist. Was ihn interessiert steht im Vordergrund.

Blättert man in solchen Briefen, werden kleine Ereignisse, Stimmungen, vielleicht auch entscheidende Lebensmomente wach, die Sonne der Jugend scheint aus den Zeilen. Was wir überwunden, was wir erreicht, was wir ersehnt haben, kommt uns lebendig in wohlgeformten Sätzen entgegen.

Es ist eine Lebensunart, Briefe flüchtig und gleichgültig hinzuwerfen, sie sind wie schlecht angezogene Menschen oder wie liederlich gekochte Speisen – Verschwendung an Zeit und Material, Zeichen mangelnder Sorgsamkeit.

Wie prächtig wirken noch heute Briefe aus klassischer und romantischer Zeit, wie entzückend schrieb die Marquise von Sevigné und welch ein Zauber wohnt in den Liebesbriefen längst vergangener Paare.

Achten Sie auf Ihre Briefe, schreiben Sie, so schön Sie können und so natürlich, als es Ihr Herz vermag, dann wird auch unser Jahrhundert den Kindern und Kindeskindern ein Angebinde zurücklassen, das von Mensch zu Mensch, von Zeit zu Zeit ein Band rührenden Verstehenwollens schlingt. Trotz der Hast, die unser Leben zwischen Arbeit und Vergnügen vorwärts treibt, sollte die Kunst des Briefschreibens nicht verloren gehen.[166]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 164-167.
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