[22] Die Erziehungsideale und für notwendig erachteten Disziplinen des Geistes und Herzens sind in unserer Zeit von einer Generation zur anderen erschreckend schnell veraltet. So ungeheuer ist der Abstand zwischen Eltern und Kindern, als lägen Jahrhunderte zwischen ihnen. Alle Selbstverständlichkeiten von einst scheinen gründlich überwunden. Eine dieser Selbstverständlichkeiten, an der es augenscheinlich erwiesen werden kann, ist die verschiedene Anschauung von einst und jetzt der Frage des Wartens gegenüber.
Früher war die Disziplin des Wartens zur Jugenderziehung unerläßlich. Man mußte eine Übung darin erlangen, auf Eltern und Vorgesetzte ruhig zu warten, Vergnügungen und Verlobungen lang zu erwarten, bis sie endlich eintrafen, die Mädchen warteten an sich geduldig auf den Antrag zur Ehe. Religiöse Übung schärfte ergebenes Warten. Beim Militär lernte man die Kunst des Wartens auf stramme Art.
Nicht warten und nichts erwarten können, nicht warten wollen, irgend ein Wartenmüssen als persönliche Beleidigung aufzufassen, ist ein charakteristisches Merkmal der neuesten Zeit. Uns scheint, das einstige endlose Warten auf die Post, z.B., müsse unerträglich gewesen sein. Wir können uns ein Leben ohne Radio,[22] Telephon, Auto und alle modernen Verkehrsmittel gar nicht mehr vorstellen. Das Neueste gleich zu erreichen, zu ergreifen, freilich auch wieder fallen zu lassen, liegt im Sinn der Zeit.
Wer weiß aber, ob nicht langes Warten und Erwarten dazu gehört, irgend etwas endlich voll und ganz zu besitzen, ob nicht die ungeheuere Müdigkeit der Zeit mit der Verachtung alles Langsamen, alles Allmählichen und alles geduldig zu Erharrenden zusammenhängt.
Wie dem immer sei, Hoffen und Harren hat etwas Verächtliches bekommen. Mehr denn je ist man davon überzeugt, es mache zum Narren. Aber die Geduldübung, die Politik und Wirtschaft dem Staatsbürger auferlegen und ein Bewußtsein, daß die Lasten, mit denen uns das Schicksal beschwert, niemals die bis ins feinste mit unserem Leben verwurzelte tyrannische Gesetzmäßigkeit des Wartens aufhören lassen, haben müd und stumpf gemacht. Im tiefsten Sinn ist unser Dasein nichts anderes als eine Wartezeit, über die man möglichst angenehm hinweg zu kommen sucht. Auch dazu hilft der gute Ton als ein vorzügliches Mittel.
Das Leben ist Warten auf ein Glück, das da kommen soll. Es ist ein Warten auf Arbeit, auf Verdienst, auf Erfolg, auf Beförderung, Amt und Würden. Ein Warten von einem Sonntag zum anderen für einen großen Teil der Menschheit.[23]
Und wie viele enttäuschende Sonntage?
Ein Warten von einer Jahreszeit zur anderen. Wie seelisch tot muß man sein, um nicht unbestimmterweise vom Lenz irgend ein Geschenk zu erwarten, irgend etwas, das ein Neues, ein Besseres dem Alltag bringt. Wir glaubten mit der wahnsinnigen Beschleunigung aller Verkehrsmittel das Warten abgeschafft zu haben, aber es ist nur schlimmer, intensiver geworden, sein Wesen spielt sich ab wie immer, nur als Quintessenz empfunden, und es ist schwerer geworden, in die Wartezeit einen guten Ton klingen zu lassen.
Die Ungeduld von einer Post zur anderen, einst auf größere Zeitspanne verteilt, ballt sich zusammen in Stunden, in halbe Stunden. In einer Minute vor der Telephonentscheidung kann man eine Ewigkeit des Harrens durchleben, die schwere Anforderungen an die Nerven stellt. Danke hat keine so schlimmen Höllenkreise als die Wartezimmer der Ärzte und Anwälte, als die Geschäftszimmer mancher Machthaber, als die Corridore der Gerichte. Hier Haltung, Lebensart und Contenance zu halten, ist nicht immer leicht, und wird doch von modernen Menschen vorausgesetzt.
Wartenlassen gehört in vielen Fällen zu den ausgesuchtesten seelischen Martern. Ich stelle mir vor, das Furchtbarste an jeder, auch der geringfügigsten, Macht ist, daß sie zwingt unzählige Menschen der Hölle des Wartens zu überliefern. Nicht umsonst war »Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige.« Sie sollte[24] zur Selbstverständlichkeit jeder Behörde und jedes Beamteten gehören.
Es liegt so etwas geheim Fürchterliches im Warten, daß stets, wenn jemand bewußt auf etwas warten muß oder irgend eines kommenden Ereignisses gewärtig ist, bei seelisch empfindlichen Naturen selbst das harmloseste Warten zur Qual wird. Nichts ist grausamer und verstößt mehr gegen den guten Ton, ja, ich möchte sagen, nichts verkündet so beredt niedrige Gesinnung, als andere Menschen durch Wartenlassen zu demütigen. Man vergegenwärtige sich das oft kurz angebundene Benehmen der vielen Subalternen und Beamten, die sich dem Publikum gegenüber Vorgesetztenmanieren herausnehmen, das Hinundher geschickt werden von Schalter zu Schalter, das ermüdende, zermürbende Warten in Vorzimmern und auf schmutzigen Korridoren, die nach Angstschweiß und Verlegenheit riechen, dann wird man eine gute Aufgabe darin erblicken, jenen, die bei solchen Dingen Befehlsgewalt ausüben, humanwirkende Lebensart beizubringen. Die Zeit der anderen müßte dem Ehrlichen ebenso heilig werden, wie das Geld des anderen, dessen Diebstahl ja unter Strafe steht, aber Zeit darf ohne weiteres gestohlen werden.
Gibt es etwas Häßlicheres als eine Person, die Kunden oder Lieferanten oder arme Leute hochmütig warten läßt, oder überhaupt vergißt in der Fülle ihrer Unterhaltungen? Wie viel Bitterkeit mag sich bei den Wartenden ansammeln, die Zeit versäumen um eines Herzlosen[25] willen, dessen Zeit vielleicht keinerlei Wert vorstellt. Grausam ist auch, wer auf Gruß, auf Brief, auf ein gutes Wert warten läßt. Wenn das gute Wort dann endlich fällt, ist das Gemüt oft durch die Qual des Harrens schon verdüstert. Unnötig warten lassen verstößt eben immer gegen Anstand und gute Sitte. Deshalb sei jede Erziehung auf Pünktlichkeit und genaue Zeiteinteilung gerichtet.[26]