Kleine Winke und Regeln

[113] Eine Hauptregel für richtiges Benehmen auf der Straße heißt: »Vermeide alles, was auffallen könnte.«

Der Gang soll weder hastig, noch nachlässig sein; die Unterhaltung leiser geführt werden, als im Zimmer. Vornehme Menschen vermeiden unbedingt alle lächerlichen und Aufsehen erregenden Auswüchse der Mode, ohne diese selbst zu übersehen. Sich der herrschenden Mode zu widersetzen, wäre ebenso falsch und auffällig, als sie zu übertreiben. Feiner Takt muß die richtige Mitte zu finden wissen.

Ein kleines »Zu viel« in Kleidung, Bewegung und Sprache wirkt aber störender, als ein geringes »Zu wenig« und fast immer wird die einfach gekleidete Fußgängerin vornehmer erscheinen als ihre zu sehr aufgeputzte Mitschwester. Nur in Wagen oder Auto ist auch auf der Straße jeder Toilettenreichtum, den seine Trägerin wünscht, gestattet.

Lebhafte Gesten sind auf der Straße schon im Interesse der Vorübergehenden zu unterlassen. Ungeschicktes Handhaben von Schirmen und Stöcken, achtloses Fortwerfen brennender Streichhölzer und Zigarrenreste sind gemeinschädliche, unfeine Taktlosigkeiten.[113]

Man geht – besonders auf belebten Wegen – stets rechts und weicht Entgegenkommenden auch rechts aus; nur wenn bei starkem Verkehr ein Herr eine ihm begegnende Dame durch sein Ausweichen nach rechts nötigen müßte die Fahrstraße zu betreten, biegt er ausnahmsweise links aus.

Es gilt als unfein, wenn Damen oder junge Mädchen langsam einher schlendern, sich viel umsehen und häufig ohne Grund stehen bleiben, weil es den Anschein erweckt, als erwarteten sie eine Ansprache. Das Stehenbleiben auf der Straße ist für die Damen eigentlich nur zur Besichtigung der Schaufensterauslagen oder an den Haltestellen der Verkehrsmittel gestattet. Sollte eine Dame von einem ihr fremden Herrn angesprochen werden, so tut sie am besten, nicht zu antworten und ruhig weiter zu gehen, ohne den Betreffenden und seine Werte zu beachten. Jede, auch die abweisendste Antwort könnte als Anknüpfung eines Gespräches aufgefaßt werden und Anlaß zu Unannehmlichkeiten für die Dame geben.

In Deutschland ist es Sitte, daß ein Herr die ihm bekannten Damen zuerst grüßt; ebenso kommen jüngere Personen den älteren, geringeren Gesellschaftsklassen Angehörenden sowie den höher im Rang Stehenden mit artigem Gruß zuvor. In England ist es einem Herrn nur dann erlaubt, eine Dame zu begrüßen, die nicht zu seiner allernächsten Bekanntschaft gehört, wenn sie ihm zuerst einen Gruß zukommen ließ.[114]

Die Arten des Grüßens richten sich natürlich nach dem Grade des Verhältnisses der einzelnen Menschen zueinander; doch wäre es durchaus schlechter Ton, wenn nahe Bekannte, Ehegatten oder Geschwister einander gar nicht oder besonders lässig begrüßen wollten. Auch ist es falsch, einen bisher üblichen Gruß oder Gegengruß zu verweigern, weil etwa eine Meinungsverschiedenheit zwischen den betreffenden Personen stattfand. Höflichkeit ist weder als Zeichen der Freundschaft, noch der Unterwürfigkeit aufzufassen; Höflichkeit in jeder Lage des Lebens ist ein Beweis guter Erziehung und daraus hervorgegangener guter Lebensart, die unter keinen Umständen verleugnet werden darf.

In Deutschland gilt der Platz an der rechten Seite als Ehrenplatz, wenn zwei Personen nebeneinander gehen.

Der Herr geht also links von seiner Dame und bietet ihr den rechten Arm zur Führung; die Dame geht rechts. Eine Ausnahme dieser Regel entsteht, wenn die rechts gehende Dame durch ihren Platz einer Gefahr oder Unbequemlichkeit ausgesetzt sein würde – z.B. an einer abschüssigen Stelle gehen müßte, durch den Verkehr des Fahrdammes Unannehmlichkeiten haben könnte usw. In einem solchen Falle bleibt der begleitende Herr einen Schritt zurück und wechselt den Platz unauffällig, indem er hinter der Dame an ihre andere Seite tritt.

Wenn zwei Damen oder zwei Herren nebeneinander sitzen oder gehen, gebührt der Platz an der rechten Seite[115] der älteren oder im Range höher stehenden Person; bei drei Personen gilt die Mitte als Ehrenplatz.

Das Besteigen und Verlassen der Straßenbahn geschehe ohne unnützen Aufenthalt durch Stehenbleiben, Sprechen oder dergl., aber in Ruhe, ohne Stoßen oder Vordrängen. Gesittete, gut erzogene junge Leute werden sich älteren Personen gegenüber in jeder Weise zuvorkommend benehmen, ihnen stets den Vortritt und bei Mangel an Sitzplätzen ihren Platz überlassen. Wenn der Wagen bereits in Bewegung ist, sollte sich niemand zum Auf- und Abspringen verleiten lassen. Der Anblick einer hastenden Dame, die sich durch ihre ungeeignete Kleidung der Gefahr des Abstürzens aussetzt, ist besonders auffällig und unschön.

Daß weder in der Straßenbahn noch auf dem Dampfer oder sonst einem der Allgemeinheit dienenden Gefährt laute oder gar vertraute Gespräche geführt werden, ist eigentlich so selbstverständlich, daß es unbegreiflich erscheint, wie oft in dieser Hinsicht gesündigt wird. In Gegenwart fremder Menschen sollte kein Name genannt, keine Beziehung erörtert wer den, die als Privatsache nicht in die Öffentlichkeit gehören. Das gleiche gilt für jede Unterhaltung in irgend einem öffentlichen Raum, Gastwirtschaft, Theater, Konzertsaal usw.

Im Falle eines Menschenauflaufes tut jede Dame am besten, so fern wie möglich davon zu bleiben, während es die Pflicht des Mannes ist, Straßenereignissen seine[116] Aufmerksamkeit zuzuwenden, da seine Hilfe gebraucht werden könnte und er sich orientieren muß. Sollte der Herr aber Begleiter einer Dame sein, so hat diese das erste Recht an seine Schutzpflicht, und nur wenn kein anderer Helfer zur Stelle ist, darf er sie allein lassen und dem dringenderen Ruf folgen.

Betrunkenen und rohen Personen weichen Damen und Herren stets aus; mit solchen Menschen zu verhandeln ist unwürdig und zwecklos.

Im Wagen nehmen Herren den Rücksitz und überlassen den Damen die Vorderplätze; nur hohes Alter oder Krankheit entbinden von dieser Rücksicht.

In Gastwirtschaften ist seines, unauffälliges Benehmen unbedingt geboten. Dem bedienenden Personal gebe man höflich seine Wünsche kund, ohne sich in eine weitere Unterhaltung einzulassen; mit etwa nötigen Beschwerden betreffs nachlässiger Bedienung oder der Lieferung nicht zusagender Speisen oder Getränke, wende man sich an den Wirt oder Oberkellner. Selbst bei berechtigtem Grund zur Unzufriedenheit lasse man sich niemals hinreißen, laut zu tadeln oder zu schelten.

Besucht ein Herr in Damengesellschaft eine Gastwirtschaft, so übernimmt er die Zahlung und erledigt die Angelegenheit möglichst diskret.

Das Trinkgeld für die Bedienung wird meist mit 10 Prozent von der gemachten Zeche berechnet.

Häßliche Angewohnheit, wie trommelnde Bewegung der Finger auf dem Tisch, Wippen mit dem Stuhl,[117] lautes Niesen und Gähnen, die Benutzung des Zahnstochers, Trällern oder Pfeifen usw., sind unschicklich und streng zu vermeiden.

Bei Besuch des Theaters sollte ein jeder bedenken, daß Pünktlichkeit ein Gebot der Höflichkeit ist.

Der Theaterbesuch geschieht, um einem Kunstbedürfnis zu genügen, und niemand ist berechtigt, seine Mitmenschen durch verspätetes Erscheinen oder Schwatzen um den oft teuer erkauften Genuß zu bringen.

Sollte jemand es durchaus nicht einrichten können, seinen Platz vor Beginn der Vorstellung einzunehmen [bei Opern gehört die Ouvertüre zur Vorstellung!] so fordert der Anstand von ihm, daß er bis zum Schluß des Aktes oder der Szene damit warte.

Den Zuschauerraum vor Schluß der Vorstellung zu verlassen, um etwas zeitiger in die Kleiderablage zu gelangen, ist rücksichtslos; fein empfindende Menschen belästigen ihre Nachbarn niemals auf so unangenehme Weise. Ebenso unfein ist jedes Stoßen und Drängen in der Kleiderablage. In kurzer Zeit kommt auch bei ruhigem Abwarten jeder zu seinen Sachen, und wer einige Stunden für das genossene Vergnügen erübrigen konnte, sollte sich und anderen nicht die Stimmnung des Abends verderben, um wenige Minuten früher in die Gastwirtschaft oder zu seinem Wagen zu kommen.

[118] Für Vorträge und für den Konzertsaal gelten die gleichen Höflichkeitsgebote wie für das Theater.

Auch hier sind Verspätung, geräuschvolles Einnehmen des Platzes, Unterhaltungen während der Vorträge und vorzeitiges Aufbrechen Verstöße gegen die gute Sitte.

In Ausstellungen, Museen, Lesesälen, Bildergalerien usw. benimmt sich jeder gebildete Mensch so geräuschlos wie möglich, um keinen der Anwesenden in der Betrachtung oder dem Genuß der gebotenen Werke zu stören. Ganz besonders ist vor laut ausgesprochenen Urteilen zu warnen, die nur dann berechtigt sind, wenn wirklich hohe Kennerschaft des Sprechenden seiner Umgebung etwas Interessantes und Lehrreiches bietet.[119]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 113-120.
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